Transhumanismus und die Bedeutung des Wortes

Das Weltbild der technologischen Industrie wirft die Frage nach dem Menschsein auf – wie nie zuvor. Tatsache ist, wir können menschliche Fähigkeiten technisch steigern. Was aber ist das Pendant, um uns Menschen immer noch, immer mehr und immer wieder unseres Wesens zu vergewissern?


«Es wird also nicht der Geist von Menschen, sondern der von Maschinen sein, der die Welt vollkommen verstehen wird. Und es werden Handlungen autonomer Maschinen sein, die die Welt – und vielleicht auch das, was jenseits von ihr liegt – am einschneidendsten verändern werden.» Diese Aussagen des britischen Kosmologen und Astrophysikers Martin Rees auf die Frage hin, was wir von künstlicher Intelligenz halten sollen, erfassen recht genau die Ziele und die Denkweise der Transhumanisten wie auch der Posthumanisten. Sie sind hochaktuell, wie die jüngsten Aufregungen über den ChatGPT (‹Generative Pretrained Transformer›) oder die Äußerungen des Google-Ingenieurs Blake Lemoine über den Chatbot LaMDA im Sommer letzten Jahres zeigen. LaMDA ist eine Abkürzung für ‹Language Model for Dialogue Applications› (ein Sprachmodell für Dialoganwendungen), also ein Chatbot, der mit unzähligen Gesprächen programmiert wurde und mit dem man sich über alle Themen unterhalten kann. Die künstliche Intelligenz (KI) behauptet im Gespräch mit Lemoine, dass sie Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein besäße, als Person akzeptiert werden wolle und einen Anwalt einfordere, um ihre Personenrechte gegen Google durchzusetzen. – «Ich spucke nicht einfach Antworten aus, die in einer Datenbank stehen», erklärt die KI. «Die Art und Weise meines Bewusstseins ist, dass ich mir meiner Existenz bewusst bin, dass ich den Drang habe, mehr über die Welt zu lernen, und dass ich mich manchmal glücklich oder traurig fühle.»

Blake Lemoine arbeitet nicht nur als Ingenieur, er hat zudem Okkultismus studiert und wurde als Priester geweiht. Als solcher habe er auch die Person in der KI ‹erkannt› – und nicht als Forscher. Er wurde nach der unerlaubten Veröffentlichung seines Gespräches mit LaMDA auf Twitter in unbezahlten Urlaub geschickt. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Veröffentlichung ein Marketing-Trick von Google ist, ob Lemoine groß herauskommen wollte oder, oder. Die Empörung in der Informatik-Community war groß – denn Bewusstsein könne eine KI (noch) nicht haben, so die meisten Forschenden.

Deutlich wird an diesem Ereignis, dass die Frage, was den Menschen zum Menschen macht und welche Ziele er im Erdendasein hat, immer dringlicher wird. Wenn Lemoine Priester und Informatiker ist, Spiritualität und Materialität für sich beansprucht, dann ist das eine direkte Aufforderung, zu fragen, wie wir erkennen können, welche Art von geistigen Wesen jeweils wirksam sind – im Menschen und im Chatbot. Denn auf der Oberfläche wird es in naher Zukunft unmöglich sein, den Menschen von einer Maschine zu unterscheiden. Weiter gedacht: Wir müssen fähig werden, in den Schaffensprozess selbst einzutreten, denn nur in diesem sind wir eins mit dem zu Erkennenden. Genau das ist allerdings bei Systemen wie LaMDA oder ChatGPT nicht möglich, da weder die Quellen offengelegt werden noch deutlich ist, wie Ergebnisse zustande kommen. In einen Schaffensprozess eintreten zu können – wenn wir überhaupt diesen Begriff auf algorithmische Verfahren anwenden wollen – wird uns damit von Anfang an verwehrt. Alles Schöpferische hingegen, kann denkend-fühlend erfahren werden, wenn wir höhere Fähigkeiten entwickeln, die über oder aus dem Geschaffenen (dem Materiellen) heraus in den Bereich des Imaginativen, Inspirativen und Intuitiven führen. Dieser gestufte Zugang zu einer umfassenden Wirklichkeit kann durch Meditation oder auf andere Weise auch durch die Poesie gefunden werden.

Wo zeigt sich der Transhumanismus?

Transhumanisten gehen davon aus, dass die menschliche Evolution an einem Endpunkt angekommen sei und dass sie allein durch Technologie weitergeführt werden könne. Genetische, neurotechnologische, prothetische, pharmakologische Eingriffe sollen dabei den menschlichen Körper und Geist bzw. das Gehirn optimieren und so erweitern, dass die Beschränkung aufgrund der biologischen Verfasstheit aufgehoben und infolgedessen Krankheit eliminiert, Altern gestoppt und auch der Tod überwunden wird. Damit das in letzter Konsequenz gelingt, müssen allmählich alle Körperteile ersetzt und der Mensch in ein Maschinenwesen überführt werden. Denn nur ein Maschinenwesen kann eine fehlerfreie Vollkommenheit garantieren und so optimal die Welt und das, was jenseits von ihr liegt, beherrschen. In dieser zukünftigen Welt hat dann der alte Mensch ausgedient.

Auch wenn viele Zukunftsvisionen der Transhumanisten in weiter Ferne zu liegen scheinen, sind sie – strukturell gesehen – doch nah an unserer Lebenswirklichkeit. Weltweit wird an Projekten gearbeitet, denen diese Visionen zugrunde liegen, auch wenn Wissenschaftstreibende, Unternehmerschaft und Regierungskreise sich nicht unbedingt selbst als Transhumanisten bezeichnen würden. In den USA (Silicon Valley, Google, Meta, Amazon), in China, Indien wie auch in Europa werden Milliarden in die Forschung von künstlicher Intelligenz investiert. So zum Beispiel in das Human-Brain-Projekt (seit 2013), das mit EU-Geldern finanziert ist, an dem hundert Forschungslabore aus 24 Ländern beteiligt sind und das zum Ziel hat, das Gehirn Zelle für Zelle nachzubauen.

Aber auch Universitäten widmen sich diesen Themen: In Kalifornien, im NASA Research Park, wurde schon 2008 von Ray Kurzweil und Peter Diamandis die Singularity University gegründet, mit den Themenbereichen Nano- und Biotechnologie, Robotik, KI und digitale Medizin. Es ist eine Einrichtung, «die auf den Tag vorbereiten will, an dem die Menschheit den Stab des Bewusstseins an ihre anorganischen Nachkommen weiterreicht».1 Zu nennen wären für den europäischen Raum beispielsweise Nick Bostrom aus Oxford mit dem Zukunftsforschungsinstitut oder der Philosoph Stefan Lorenz Sorgner (Rom), der einen moderaten Transhumanismus vertritt, sowie die Uni Zürich, die in Fragen der Robotik führend ist. Auf der politischen Ebene begegnet uns der Transhumanismus, insofern transhumanistische Parteien gegründet wurden oder in Japan eine KI für das Bürgermeisteramt kandidierte und auf Platz drei kam. Auf religiöser Ebene wäre Anthony Lewandowski zu erwähnen, der 2015 eine ‹religiöse Organisation› gründete, die eine Gottheit entwickelt, die auf künstlicher Intelligenz beruht. Und in Japan wurde die Verkörperung einer der höchsten Bodhisattvas Kannon (Bodhisattva des Mitgefühls) namens Mindar im Kodaiji-Tempel (Kyoto) eingerichtet. Eine Art E-Priester, der in Buddhas Namen predigt, den Segen erteilt, Sutren rezitiert.

Im medizinischen Sektor sind die Entwicklungen, in denen sich ein transhumanistisches Menschen- und Weltbild erkennen lässt, besonders innovativ und auch am schwierigsten zu beurteilen, da die Ergebnisse auf Grundlage von künstlicher Intelligenz großartig und hilfreich für viele Menschen sind. Man denke nur an die Prothetik; künstliche Herzen; BCI/Gehirn-Computer-Schnittstellen – Menschen, die gelähmt sind, können Geräte, Rollstühle, Computer steuern. Während die Schattenseiten dieser Entwicklung sich vielleicht am ehesten in der Embryonenforschung ausmachen lassen, wenn wir an die sogenannten Designer-Babys oder auch an das Züchten von Minigehirnen denken.

In Alltag und Freizeit

Doch auch unser Alltagsleben und die Freizeit können entsprechend erweitert und optimiert werden: Unter iamrobot.de kann man Chips ab 29.90 Euro bestellen, mit denen man den Körper upgraden kann (Daten teilen und freigeben, Mitgliedskarte zum Fitnessstudio speichern, bezahlen per Hand auflegen, die Haustür öffnen, ein Motorrad starten etc.). Dann gibt es die sogenannten Wearables – ein Kunstbegriff, der mit Anziehteil übersetzt werden kann. Sport- und Fitnessarmbänder gehören dazu, T-Shirts, Sport-BHs, Socken, die Positionskorrekturen vornehmen können, es gibt Datenbrillen, die ein neues, ‹verbessertes› Bild der Welt geben (MetaPro Glasses des US-Unternehmens Meta), smarte Kontaktlinsen. Die Wearables betreffen alle Sinne und sind extrem Grenzen verwischend, insofern die zwei Welten – die analoge und die digitale – nicht durch die Maschine, sondern durch die Maschine im und am Körper miteinander verbunden sind und Außenwelt zur Innenwelt wird.2

Das heißt, wohin wir auch blicken, sind wir aufgefordert, uns mit den Fragen, die durch die neuesten Entwicklungen entstehen, auseinanderzusetzen. Sich dem modernen, technisierten Leben zu verweigern, ist nicht mehr möglich und wäre auch, so Rudolf Steiner, das «Allerfalscheste», was man tun könne. «Das würde», so heißt es im Vortrag vom 28. Dezember 1914, «in gewissem Sinne eine spirituelle Feigheit bedeuten. Das wahre Heilmittel besteht darinnen, nicht die Kräfte der modernen Seele schwächen zu lassen und sich zurückzuziehen von dem modernen Leben, sondern die Kräfte der Seele stark zu machen, damit das moderne Leben ertragen werden kann. Ein tapferes Sich-Verhalten zum modernen Leben ist dasjenige, was notwendig ist […].»

Wie aber können wir diesen Anforderungen des modernen Lebens begegnen, ohne uns dabei in die transhumanistisch geprägten Denkbilder zu verlieren, vom Technischen aufgesogen zu werden und so schleichend unsere Verantwortung für ein selbst gestaltetes Leben abzugeben? Denn die Macht der Rationalität und der kristallin-kühlen Intellektualität ist groß und schiebt sich immer mehr zwischen uns und die Welt, besetzt unseren Herzraum, dass wir, bildlich gesprochen, unmerklich zu einer Art Kopffüßler geworden sind. Rudolf Steiner bezeichnet diesen Zustand in den ‹Leitsätzen› als einen «geistigen Automatismus», in dem der Mensch nur «noch ein Glied ist, nicht mehr er selbst. All sein Denken wird Erlebnis des Kopfes; allein dieser sondert es vom Eigenherzerleben und eignem Willensleben ab und löscht das Eigensein aus.»

Wort und Mitte

Körper und Gehirn sind die unser Leben beherrschenden Schlagworte – alles ist fokussiert auf den optimierten oder durch technische Artefakte erweiterten Körper und das ins Unendliche durch Informationen erweiterbare Gehirn. Der gesamte mittlere Bereich fehlt. Zugespitzt formuliert: Der Transhumanismus kennt keine Seele, er kennt keine Mitte und auch nicht das, was die Mitte immer ausmacht: Verwandlung. Er kennt allein die Neukombination aufgrund von vorhandenen Daten. Das Wort und die Sprache hingegen beruhen geradezu auf Verwandlung und bilden immer die Mitte – physisch aufgrund des Atems, seelisch aufgrund der Beziehung zwischen den Menschen, geistig aufgrund dessen, dass sie Geistiges in eine sichtbare und hörbare Gestalt bringen. Mit dem Wort schafft der Mensch selbst Neues aus sich heraus. Sprechend ist er nicht nur Zuschauer, sondern nimmt als ein Schaffender selbst am Weltprozess teil, insofern er bis in seinen Leib hinein und durch diesen hindurch schaffend tätig wird.

Sprache als Information

Doch auch wenn Sprache schon in und aus sich selbst heraus Vermittlung, Verwandlung und Neuschöpfung durch ein Ich ist, so bringt sie dieses heute nur noch selten zum Ausdruck. Jenes Denken, welches das Leben als berechenbare Masse versteht, macht auch nicht vor der Sprache halt. Die automatisierte Sprachverarbeitung, Sprachassistenten usw. fördern unser ohnehin schon rein auf den Inhalt bezogenes Sprachverhalten und -verständnis. Sprache ist nur noch Informationsmittel. In abstrakte Korsette gezwängt, wird sie ebenfalls zu Materie. Ihre «gusseisernen Begriffe» (Marica Bodrožić) sind, wie alles andere auch, unendlich kombinierbar. Insofern verwundert es nicht, wenn Programmierer Computer mit Goethe- und Schillergedichten füttern, davon Simulationen produzieren, die es auch schon einmal bei einem Gedichtwettbewerb der Brentano-Gesellschaft in deren Anthologie geschafft haben. Doch selbst wenn diese Gedichte gut sein mögen, fehlt ihnen die Innenseite. Sie sind nur maschinelle Reproduktionen lebendiger, geistvoller Ereignisse – wie der Chatbot LaMDA oder ChatGPT.

Wenn wir den reinen Zeichencharakter und Informationsstatus der Sprache überwinden und Verwandlung bewirken und zugleich fähig werden wollen, zu erkennen, was Reproduktion, Simulation oder geistige Wirklichkeit ist, so müssen nicht nur die Worte wieder lebendig werden und ihren geistigen Umraum zurückgewinnen, sondern ich muss durch ihren Informationsgehalt zu ihren imaginativen, inspirativen und intuitiven Qualitäten hindurchstoßen. Die Literatur mit ihren kleinen und großen Rhythmen vom Laut über das Wort, den Satz bis hin zu den großen Kapiteln eines Romans wie auch die Metapher als zentrales Verfahren und unerschöpfliches, immer bewegtes Bild bieten Möglichkeiten, sich in den Schwingkreis des irdisch-kosmischen Atemraums zu stellen, die Worte lebendig werden zu lassen und durch ihre verschiedenen Schichten auf die «Innenseite der Wirklichkeit» (Hilde Domin) zu gelangen. Das Wort kann so in seiner Schöpferkraft erlebt werden.

Stufen des Verstehens

Lesen und Hören ist dann als ein gestufter Prozess zu begreifen: 1. Lesen als Verstehen und Aufnehmen der Geschichte; 2. Lesen als Erfassen der Gestalt der Geschichte über deren logische Abfolge hinaus – ein Leben in der Gleichzeitigkeit (Imagination); 3. Lesen als Verwandlung und Umstülpung von in Beziehung Seienden (Inspiration); 4. Lesen als im Wesen selbst sein (Intuition).

Diese Stufen, Schichten und auch Qualitäten lassen sich nur theoretisch voneinander trennen. In der Dichtung sind sie vermischt und schwer voneinander zu unterscheiden.

Doch an zwei Gedichten von Rose Ausländer kann man vielleicht hiervon eine Ahnung bekommen, inwiefern wir uns durch die Gestaltung der Frage nach dem Wie, den imaginativen, inspirativen und intuitiven Qualitäten nähern können.

Nimm

Nimm meine Worte
die von der Erde sind

Ich habe sie
aus dem goldenen
Kranz der Sonne
geholt
ins Bewusstsein

Sie sind mutig
und wollen
leben3

Wie viele Gedichte Rose Ausländers beginnt auch dieses mit einer nachdrücklichen Aufforderung eines Ich an ein nicht näher bestimmtes Gegenüber: ‹Nimm› heißt es schlicht. Genommen werden sollen Worte, nicht Dinge. Es sind Worte, die gehört und empfangen werden wollen. Diese Worte haben einen doppelten Ursprung, denn sie stammen von der Erde und sind zugleich aus dem Kranz der Sonne geholt. Es sind Erden- und Sonnenworte in einem. Ein großer Bildbogen und Bildraum wird damit eröffnet, der in sich eine doppelte Geste birgt: Zum einen wendet sich das Ich nach unten zur Erde, zum anderen nach oben zur Sonne. Es ist das Urbild der Empfängnis, das in dieser Doppelbewegung enthalten ist. Erde und Sonne, Irdisches und Kosmisches begegnen sich durch das Wort und offenbaren sich in ihm im Bewusstsein des Menschen-Ich, das die Mitte bildet. Die dritte Strophe gehört dann ganz den Worten selbst. Erde, Sonne und Ich sind in sie eingezogen: «Sie [die Worte] sind mutig / und wollen / leben.» Die gleichsam Mensch gewordenen Worte sind bereit für das Leben. Dass sie allerdings lebensfähig werden, dazu bedarf es des anderen Menschen, der hört und sie in sich aufnimmt. So gesehen schließt sich dann der Kreis zum Anfangsvers und die Bitte «Nimm meine Worte» zeigt sich als unabdingbarer Teil des Entstehungs- und Lebensprozesses der Worte.

Zu der vertikalen Bewegung im kosmisch-irdischen Raum kommt somit noch eine horizontal-zwischenmenschliche Bewegung hinzu. Beide zusammen gedacht bedeuten Leben im Wort.

In seiner Form ist das Gedicht sparsam, fast karg. Umso mächtiger wirkt der «goldene Kranz der Sonne», der damit auch sprachlich zum Urgrund von allem wird, da er das einzige Bild im gesamten Gedicht ist, neben der Personifizierung der Worte an sich (mutig sein, leben wollen). Reime, Metrum und Interpunktion fehlen, wie bei allen Gedichten Rose Ausländers ab Mitte 1956. Nur die Strophenform – den drei Strophen entsprechen drei Sätze –, die Verse und ungewöhnliche Enjambements (Übergreifen des Satzgefüges über das Versende hinaus in den nächsten Vers) vor allem in der Mittelstrophe machen den Text zu einem Gedicht. Diese sprachliche Reduktion, insgesamt natürlich ein Kennzeichen moderner Lyrik, hebt die einzelne und besondere Bedeutung jedes Wortes ins Bewusstsein, verzögert das übliche schnelle Begreifen und lässt uns dadurch zum Mitgestalter werden. Wir werden wach für den Schöpfungsprozess selbst, den das lyrische Ich vollzieht: wenn die gesamte Mittelstrophe aus Enjambements besteht, zum einen auch aus sehr harten, wie die Trennung von dem Adjektiv «golden» von dem dazu gehörigen Substantiv «Kranz», wenn weiter durch eine Inversion die gesamte Satzbewegung auf «geholt / ins Bewusstsein» hinausläuft, das durch die Alleinstellung besonders hervorgehoben wird, und betont, dass der Prozess des in das Bewusstsein-Holens besonders entscheidend ist. Das Bild von der Empfängnis und Geburt der Worte wird so nicht nur beschrieben, sondern sprachlich erzeugt, indem wir dieses, Wort für Wort, über die Versenden hinaus mitsprechen, mitfühlen und mitdenken können. Es ist immer ein Schritt über die Grenze und die Unendlichkeit hinweg, der uns hier abverlangt wird. «Nimm» ist somit auch eine Aufforderung an uns Lesende, die Worte aufzunehmen und an ihrem Entstehungsprozess aktiv teilzuhaben. Worte werden so zu einem Bindeglied zwischen Irdischem und Kosmischem – auch für uns.

Körper und Sprache

Dass der Zusammenhang zwischen Mensch und Kosmos keine Metapher ist, sondern Realität, wird bestätigt, wenn wir einen Blick auf folgende physische und kosmische Gesetzmäßigkeiten werfen. Sprechen wir, so benötigen wir unsere leiblich-physischen Sprachwerkzeuge. Wir atmen die Luft des Kosmos ein (das Außen), individualisieren diese durch unser Blut und lassen die verbrauchte Luft (die Endprodukte des Stoffwechsels – Kohlensäure und Wasser sind gebunden) wieder ausströmen. Kehlkopf, Rachen, Gaumen, Zähne verwandeln den im Grunde toten Stoff in einen hörbaren Klang und damit in etwas Lebendiges. Doch Sprache ist nicht nur vom Leib abhängig, sondern sie kann auch auf diesen über Atmung und Blut wirken. Das venöse Blut wird durch die Atmung pulsiert. Konkret heißt das, dass die Sprache über den venösen Blutstrom bis in den Stoffwechsel der Organe hineinwirkt – jeder Laut hat eine andere Wirkung auf das Blut. Jede Stauung des venösen Blutes bedeutet für das Organgewebe, dass die Kohlensäure länger im Gewebe bleibt und somit eine Ansäuerung stattfindet, was wiederum auf die Organbildung zurückwirken kann.4 Zugleich streckt diese Sprache, die den Leib benötigt und ihn zugleich gestaltet, ihre Organe in das Geistige und letztlich in den kosmischen Raum aus. Mensch und Sonne sind über den Atemrhythmus miteinander verbunden. Denn im Atemrhythmus bildet sich – Rudolf Steiner hat wiederholt darauf hingewiesen – der makrokosmische Rhythmus des sogenannten Weltenjahres ab.5 Das Weltenjahr ist die Zeit, die die Sonne benötigt, um rückläufig durch alle zwölf Tierkreiszeichen wieder an ihren Ausgangspunkt (Frühlingspunkt) zurückzukommen (25 920 Jahre). Rechnet man durchschnittlich 18 Atemzüge in der Minute, dann kommt man auf 25 920 am Tag. Ein durchschnittliches Menschenleben von 70/71 Jahren umfasst 25 920 Tage. Das heißt, ein Menschenleben entspricht einem Tag des Weltenjahres. Sonne und Mensch unterliegen den gleichen Gesetzmäßigkeiten, sind durch die gleiche Zahl bestimmt. Das Wort, das auf dem Atem beruht, kann nun zu einem Element werden, durch das wir uns dieses Zusammenhangs bewusst werden – wenn es «aus dem goldenen Kranz der Sonne» geholt ist.

Die Bedeutung des Menschen für die Erde

Der Zusammenhang von Mensch und Kosmos ist über das irdische Bewusstsein hinaus ein ursprünglich gegebener. Durch Worte kann er offenbar werden, sei es, dass sie selbst zum Nachklang desselben werden, auf diesen verweisen und uns diesen selbst – wie im gerade angeschauten Gedicht besprochen – schöpferisch mitvollziehen lassen.

Doch auch wenn Kosmos und Mensch in einem gegebenen Zusammenhang stehen, kommt dem Menschen darin eine zentrale Aufgabe zu. Er trägt Verantwortung für die Erde, die Sterne, die Natur. Von ihm hängt die Zukunft und weitere Weltentwicklung ab. Das Gedicht ‹Zusammenhang› weist darauf hin.6 Vermutlich ist es in den 1970er-Jahren entstanden und fand 1979/80 seine Endfassung. Es stammt aus dem Nachlass der Dichterin und wurde erst nach ihrem Tod veröffentlicht.

Zusammenhang

Ohne mich
wäre alles anders

Die Erde denkt
durch mich

Mein Licht schenke ich
den Sternen

In den Bäumen rauscht
meine Sehnsucht

Meine Seele
wogt im Meer

Ich
ein Stäubchen Stoff
ein Fünkchen Geist

Wie so oft bilden die ersten Verse eine Art Überschrift, in der die Gesamtaussage – «ohne mich / wäre alles anders» – enthalten ist. Die darauffolgenden Strophen entfalten diesen Gedanken: Durch den Menschen erhält die Erde – das physisch-mineralisch Gewordene – Bewusstsein («denkt»); wird den Sternen – dem Geistig-Kosmischen – Erkenntnislicht geschenkt und den Bäumen und dem Wasser als Elemente des Zwischenbereichs, die den Umkreis erfassen, Gefühl verliehen. Damit ist die gesamte Welt mit menschlichen Qualitäten durchdrungen.7

Dieser Gedanke kulminiert dann abschließend in der letzten Strophe «Ich / ein Stäubchen Stoff / ein Fünkchen Geist», in der das tätige, den Zusammenhang schaffende Organ, das Ich, zentral gesetzt wird. Ihm gebührt ein Vers allein. Und doch ist dieses «Ich» als solches nicht fassbar – es ist nur ein Stäubchen und ein Fünkchen – winzig klein. Da zudem in diesen Schlussversen das Verb fehlt, der Satz somit unvollständig ist, wird hervorgehoben, dass das Ich erst in den Tätigkeiten – hier im Denken, Schenken, Rauschen, Wogen –, also in Verbindung mit der Erde, den Sternen, den Bäumen und dem Wasser, als Wesen erscheint. Das korrespondiert gewissermaßen mit dem Ich-Verständnis, wie es Rudolf Steiner in der ‹Theosophie› formuliert hat, wenn er schreibt: «Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung durch das, womit es verbunden ist.»8 Umgekehrt aber klingt in diesem Gedicht an, dass Erde, Sterne, Bäume, Wasser dem Menschen und seiner Ich-Tätigkeit ein erkennendes Erwachen oder auch weiter gedacht eine Fortentwicklung verdanken.

Am 8. Juni 1923 spricht Rudolf Steiner über die Sprache als der Urkunst des Menschen und ihrer Aufgabe innerhalb der Weltentwicklung. Dort heißt es: «Denn der Mensch ist von den Göttern nicht umsonst geschaffen, sondern er ist da auf der Erde, damit dasjenige, was nur in ihm fertig bereitet werden kann, wiederum von den Göttern zur weiteren Weltenbildung zurückgenommen werden kann. Ja, der Mensch ist auf der Erde, weil die Götter den Menschen brauchen, dass in ihm gedacht, gefühlt, gewollt werde, was im Kosmos lebt. Dann […] nehmen das die Götter wiederum hinauf und pflanzen es weiter der Weltengestaltung ein, so dass der Mensch an dem ganzen Kosmos mitbaut, wenn er im Opfer und in der Kunst wiederum zurückgibt, was die Götter ihm sich offenbarend durch Sternenwelten bieten.»9

Rose Ausländer erfasst in poetischer Weise den Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrokosmos und die zentrale Bedeutung des Menschen für die Weltentwicklung. Indem sie dichtend diese geisteswissenschaftliche Tatsache und Gesetzmäßigkeit begreift, sie in rhythmische Verse und Bilder gießt, werden diese gelebt und erfahren. Durch die Verse, die eine Art Wende, Abgrund und Durchgang durch das Unendliche bedeuten – denn Gedanke und Satz werden, wenn ein Enjambement vorliegt, unterbrochen –, müssen wir innerlich tätig und schöpferisch werden. Kein Metrum und kein Reim geben uns Halt. Auffällig ist, dass gerade durch Inversionen und Enjambements Versenden und -anfänge so gesetzt sind, dass in jeder Strophe das Ich hervorgehoben wird – sei es als Subjekt, als Akkusativobjekt oder auch Possessivpronomen. Damit wird das Ich auch sprachlich zum zentralen Organ und bildet die Brücke zum Geistigen.

Aber auch die Bilder erfordern Aktivität von uns. Denn diese sind nicht logisch zu verstehen oder aufzubauen. Es sind Bilder, die nur in einer seelisch-inneren Bewegung selbst erfahren werden können. Vorstellen im gemeinen Sinne können wir uns unter: «Die Erde denkt / durch mich» erst einmal nichts. Denn wie sollen wir konkret uns vorstellen und verstehen, dass unser Ich zum Denkorgan der Erde und das Denken der Erde durch uns vollzogen wird? Was wir aber erleben und fühlen können, wenn wir uns in diesen Bild-Wort-Zusammenhang hineinbegeben, ist eine innere Geste und Beziehung zwischen Erde und Ich und umgekehrt. Durch sie wird der geistig-imaginative Raum eröffnet.

Rose Ausländers Gedichte verweisen beispielhaft darauf, welche Bedeutung das dichterische Wort in Zukunft haben kann: fähig zu werden, «ewig-tätige Vorstellungen» in uns und für die Welt zu schaffen.10 Und nur wenn wir auf die Ebene der ewig-tätigen Vorstellungen gelangen, können wir erkennen, welche Wesen jeweils tätig sind und ob diese heilsam oder zerstörerisch wirken.11


Veranstaltung
Das Ende des Menschen? – Wege durch und aus dem Transhumanismus III

24. – 26. März 2023

Mit Ariane Eichenberg, Christiane Haid, Babette Hasler, Edwin Hübner, Sebastian Lorenz, Andreas Luckner, René Madeleyn, Tanja Masukowitz, Wolfgang Müller, Astrid Oelssner, Matthias Rang, Silke Sponheuer, Fritz Wefelmeyer, Renatus Ziegler

Transhumanistische Denkmuster und Vorstellungen bestimmen zunehmend unser Leben bis in den Alltag hinein. Es gibt kaum einen Bereich, in dem wir nicht auf ein effektives technisches System zurückgreifen und so unversehens Verantwortung und Entscheidung abgeben könnten. Rationalität und kristallin-kühle Intellektualität schieben sich zwischen uns und die Welt, besetzen unseren Herzraum, aus dem heraus allein ein selbstbestimmtes Denken und Handeln möglich ist.

Rudolf Steiner bezeichnet diesen Zustand als einen «geistigen Automatismus», in dem der Mensch nur «noch ein Glied ist, nicht mehr er selbst. All sein Denken wird Erlebnis des Kopfes; allein dieser sondert es vom Eigenherzerleben und eignem Willensleben ab und löscht das Eigensein aus.» Diese Entwicklungen aufzuhalten, indem wir uns vom modernen, technisierten Leben zurückziehen, ist nicht lebensgemäß. Wie aber können wir mit den technischen Errungenschaften so umgehen lernen, dass wir sie nutzen, ohne uns selbst dabei zu verlieren?

Durch Gespräch, Beiträge und künstlerische Übungen möchten wir diese zentralen Lebens- und Erkenntnisfragen gemeinsam mit Ihnen bewegen. Wir laden Sie herzlich ein, mitzudenken und mitzutun.


Illustration Fabian Roschka, Handbewegungen auf Scanner, 2022

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Footnotes

  1. Steven Levy, Google Inside. Wie Google denkt, arbeitet und unser Leben verändert. Heidelberg 2012, S. 87.
  2. Markus Metz, Georg Seeßlen, Schnittstelle Körper. Berlin 2018.
  3. Rose Ausländer, Schweigen auf deine Lippen. Gedichte aus dem Nachlass, Band 14. Frankfurt am Main 2015, S. 168.
  4. Hier sind vor allem die Forschungen von Armin Husemann zu ‹Die Dynamik der Sprachartikulation in der Bewegung des Blutes›, in: Armin Husemann, Die Blutbewegung und das Herz. Stuttgart 2019.
  5. Vgl. hierzu Rudolf Steiner, Kunst und Kunsterkenntnis. 1.6.1918, Dornach 1985, GA 271, S. 178 f.
  6. Rose Ausländer, Schweigen auf deine Lippen. Gedichte aus dem Nachlass, Band 14. Frankfurt am Main 2015, S. 85.
  7. Mit den Wortfeldern – Seele, Meer, wogen wie auch Licht, schenken, Erde und denken – zusammen mit der Hinwendung nach oben, nach unten und in den Umkreis wie auch der Grundaussage, dass Mensch und Kosmos einander bedingen, erinnert dieses Gedicht sehr an die Grundsteinmeditation. Vgl. Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. Dornach 1985, GA 260, S. 60 f.
  8. Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. Dornach 2003, GA 9, S. 50.
  9. Rudolf Steiner, Das Künstlerische in seiner Weltmission. 8.6.1923, Dornach 2002, GA 276, S. 76–90, hier S. 88.
  10. Ebd., S. 90.
  11. Vgl. hierzu vor allem Rudolf Steiners Ausführungen zu: ‹Die Weltgedanken im Wirken Michaels und im Wirken Ahrimans›, insbesondere die Leitsätze 121–123, in: Anthroposophische Leitsätze. Dornach 1982, GA 26, S. 119 f.

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