Der Atem des Ich

Autobiografische Notizen von Bruno Walter (1876–1962) über die Lebenskrise seiner Jugend zeigen die zwei Tätigkeiten des Ich auf, die Viktor Frankl später als ‹menschliche Urvermögen› bezeichnet.


Unweit meiner Wohnung steht an einer Straßenecke eine ausrangierte, zum Bücherregal umfunktionierte Telefonzelle. Dort konnte ich kürzlich ein altes Exemplar des Werks von Bruno Walter, ‹Thema und Variationen›, entleihen.1 Bruno Walter war ein Dirigent, Schüler und Freund von Gustav Mahler und in späteren Jahren Anthroposoph.2 In diesem Buch fand ich unvermutet eine schöne Illustration des Themas, das mich in den letzten Jahren besonders beschäftigt: Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz, wie Viktor Frankl die ‹menschlichen Urvermögen› bezeichnet, die er im Konzentrationslager Auschwitz «verifiziert und validiert» hat.3

Es handelt sich um eine Krise, die Bruno Walter um sein 21. Lebensjahr erlebte, als er nach unbefriedigenden Erfahrungen in Breslau das Angebot erhielt, «die Stellung des ersten Kapellmeisters für die Saison 1897–1898» im Stadttheater von Pressburg (dem späteren Bratislava) zu übernehmen. Dort konnte er seine Kräfte ausprobieren, in Vorbereitung einer größeren Aufgabe, die im darauffolgenden Jahr in Riga auf ihn wartete. Dazu schreibt er:

Nun, so beschloss ich, wollte ich anfangen, ich selber zu werden. […] Ich erkannte, dass die Vorbedingung zu einer Tätigkeit, wie ich sie für Pressburg plante, in der Selbstreinigung bestand, und ich beschloss, ein Tagebuch zu führen, das mein Verhalten in täglichen Aufzeichnungen beleuchten, lenken und mahnend auf dem rechten Weg halten sollte. […] In regelmäßiger scharfer Beobachtung wollte ich erkennen, wer ich eigentlich war, wollte mich mit höchstem Maßstab messen, mich prüfen, kritisieren, ja sezieren. Kein Kritiker ist in meiner langen Laufbahn so schonungslos streng mit mir verfahren wie damals ich in meiner Selbstkritik; sie hat mich denn auch zur Verzweiflung gebracht […]. Meine Kritik wandte sich auch nicht nur gegen mein Musizieren, sondern gegen die Gesamtheit meines Wesens und Verhaltens, und sie war, was keine Kritik sein sollte, von vornherein gegnerisch eingestellt.

Bruno Walter, Wien 30. April 1912. Foto: Wenzel Weis

Von «selbstzerstörende[m] Grübeln» ist noch die Rede. Ist das ichhaft? Walter spricht von «Verzweiflung» und «Verdüsterung», die sich in ihm ausbreitete, schließlich von «einer Krise, die meine seelische Gesundheit ernstlich bedrohte». Ein tiefer Groll gegen sich selbst wuchs in ihm. «Aber meine Selbst-Vivisektion half mir weder zur Besserung noch zum inneren Frieden.» Das junge Ich, das auf Distanz zu seiner eigenen seelischen Organisation ging, sich gewissermaßen aus der Seele heraus gebar, war noch nicht ganz zu sich selbst gekommen. Es war nicht gleich zur Harmonisierung der Seelenkräfte, zur Positivität und Unbefangenheit fähig.4 Nicht mal die Gedanken konnte es unter Kontrolle bringen: «Die quälenden Gedanken […] ließen mir bald bei Tag und Nacht keine Ruhe mehr und ich fühlte mich machtlos und fast willenlos einer Katastrophe entgegentreiben, wie ein Schwimmer, der der Gewalt tückischer Wasserwirbel erliegt.»

Woran halten?

Das Ich vermag es, die seelischen Geschehnisse wertfrei zu beobachten und in einen größeren Zusammenhang zu stellen, aus dem heraus es entscheiden kann, wie es mit ihnen umgeht. Bruno Walters Krise weist klar auf eine Identifikation mit einem überkritischen, negativ eingestellten Teil seiner seelischen Organisation hin und kann als Mitgerissen-Werden mit der selbstdistanzierenden Dynamik verstanden werden. Einer bewussten Identifikation mit dem Neugeborenen, also einer Ich-Identifikation, hätte eine ebenso aktive Disidentifikation von dieser selbstzerfleischenden Kraft vorangehen müssen. Diese wurde zudem noch durch Ich-leugnende philosophische Theorien erschwert, mit denen Walter sich beschäftigte. Wie konnte er sich aus dieser «unfruchtbaren Selbstbetrachtung» befreien und zu einer wirksamen Selbstreinigung gelangen? Wie wirkten seine Ich-Kräfte in dieser Krise? Sie weckten eine Frage, die über ihn selbst hinaus wies: «War mir wirklich alles entschwunden? Konnte ich mich an nichts mehr halten?» Sie lenkte ihn von sich ab, dorthin, wo sein Empfindungsleben fand, was ihn tragen konnte, wie sonst nichts Äußeres oder Inneres, nichts Materielles oder bloß Seelisches das vermochte: «Eines Tages – vielleicht hatte ich gerade ein musikalisches Erlebnis gehabt – antwortete mein Tagebuch mit der Gegenfrage: Warum erkenne ich nicht die Musik als meine Realität an? […] Alles Materielle mochte unwirklich sein: Ihr immaterielles Wesen war bestimmt nicht Sinnentrug. Also hatte ich doch an ihr eine unanzweifelbare Wirklichkeit, an der gerade ich mich innig festhalten konnte.»

Der Dirigent Bruno Walter und der Geiger Bronisław Huberman (1882–1947) im Wiener Musikverein, 1935. Foto: Max Fenichel/Bildarchiv und Grafiksammlung Österreich

Die Musik führte ihn zum Erleben des Schöpferischen im Menschen. «Und war da nicht überhaupt der inspirierte, schöpferische Mensch, Mittler zwischen mir und dem Göttlichen und hatte nicht jedes seiner Werke eine Wirklichkeit jenseits aller problematischen Realität? Konnte etwas mehr wirklich sein als Goethes ‹Faust›? Die Realität des Geistigen leuchtete mir tröstend ein, in dem Maß, in dem sich mir die Welt verschattete.»

Selbsttranszendenz

Bei der Ich-Tätigkeit kann man immer zwei Seiten unterscheiden: eine negative und eine positive.5 Die negative schafft Distanz und damit Raum für ein Positives, das den freiwerdenden Raum erfüllen kann und damit erst der zurückdrängenden Negationsgebärde zu ihrem eigentlichen Sinn verhilft. Die Intentionalität des Ich hält die beiden Seiten überbrückend zusammen. Auf die Selbstdistanzierung folgt der zweite Schritt des Ich: die Selbsttranszendenz, das Übersteigen der leiblich-seelischen Existenz auf ein Individuelles hin, das zugleich ein Allgemein-Menschliches und Welthaftes ist. In diesem Fall war es die Musik, zu der Bruno Walter eine offensichtlich außergewöhnliche individuelle Affinität und Begabung hatte. Seine Hingegebenheit im Lesen blieb keine rein innerliche. Über seine Lektüre hinaus drängte sie auch in seine äußere Arbeit: «Dass ich unter solchem seelischen Druck konzentriert feurig und optimistisch arbeiten konnte, gehört zu den mir selbst nicht begreiflichen Seltsamkeiten meiner Natur.» Auch seiner Ich-Natur? Noch vor Riga schreibt er: «Ich begann […] wieder den Blick nach außen zu richten, mich für die fremdartige Umgebung zu interessieren, ‹resolut zu leben›, wie Goethe empfiehlt.» Das mag endlich das Schlüsselwort für die zweite Ich-Tätigkeit sein. ‹Resolut zu leben› – verbunden mit dem aktiven Interesse für die Außenwelt, sogar noch für das andere in ihr, das Fremdartige.

Das atmende Ich

Diese Schilderung Bruno Walters zeigt uns das, was Frankl die menschlichen Urvermögen – Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz – nennt, als zusammengehörige Aspekte der Ich-Tätigkeit. Diese kann auch erlahmen beziehungsweise braucht bewusstes Üben und Ausüben. In ihrer jeweiligen Einseitigkeit – sich verausgabend an die Welt verlieren oder sich in einer unfruchtbaren Selbstanalyse zermürben – gefährden die Teilschritte die seelisch-geistige Gesundheit des Menschen. In ihrer Verbindung jedoch begründen sie eine gesunde, individuelle Entwicklung. Die Welt wird dann in die selbstdistanzierende Rückschau aktiv einbezogen. Die Früchte dieser Art der Selbstbesinnung fließen in die Kraft der Entscheidungen ein, mit denen ich mich der Außenwelt zuwende. Nicht in der Form bestimmter Zielvorstellungen und vorgegebener Kriterien, sondern als willenhafte Lebenswirkung, als Kraft in der Ausrichtung. Wenn ich das einmal verstanden habe, werde ich wohl weder versuchen, mit angezogener Handbremse zu leben, noch selbstvergessen und urteilslos hinter allem herrennen, was sich mir aufdrängt. Sondern ich werde möglichst tief ein- und ausatmen wollen. Das heißt, mich meinem Leben in der Welt hingeben, so wie es mir von außen – und von innen – entgegenkommt. Und ich schaffe bewusst Augenblicke des Aussteigens aus dem Strom im Tagesverlauf, während denen ich mir mich selbst unbefangen vor Augen führe. Je mehr ich mich darauf verlassen kann, dass diese Augenblicke kommen werden, desto vertrauens- und hingebungsvoller kann ich mich meinem Schicksal anvertrauen. Ich bemerke, dass ich dabei wacher werde. Und je tiefer ich mich so auf mein Leben einlasse, umso fruchtbarer wird mein Rückblick sein. Insgesamt wird mein Leben reicher und lebendiger, lebenswerter – auf eine Weise, die auch dem größeren Ganzen zugute kommt, wie die Biografie Bruno Walters beispielhaft bezeugen kann. Dank der Bücherzelle.


Titelbild Bruno Walter, 1900. Quelle: Library of Congress/USA

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Footnotes

  1. Bruno Walter, Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken. Frankfurt/M. 1950. Alle Zitate von Walter stammen aus dem Buch.
  2. Bruno Walter, Mein Weg zur Anthroposophie. In: Das Goetheanum 52 (1961), S. 418–421.
  3. Viktor E. Frankl, Dem Leben Antwort geben. Autobiographie. Weinheim 2017, S. 120. Siehe auch: Rudy Vandercruysse, Wo bist du? Der Weg des Menschen und die innere Praxis der Selbstführung. Stuttgart 2021.
  4. Eine differenziertere menschenkundliche Betrachtung könnte hier noch auf die von der Ich-Tätigkeit eingeleitete Stufenfolge von Empfindungs-, Verstandes- und Bewusstseinsseele hinweisen. Derzufolge befand sich Walter damals am Anfang der Entwicklung seiner Empfindungsseele, die am Selbsterleben aufwacht. Eine vorurteilsfreie, disidentifizierte Selbstbetrachtung ist erst der Bewusstseinsseele möglich. Siehe z. B. Rudolf Treichler, Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf. Stuttgart 2012 (7. Aufl.).
  5. Siehe Rudy Vandercruysse, Herzwege. Von der emotionalen Selbstführung zum meditativen Leben. Stuttgart 2022 (Neuausgabe), S. 82–84 und S. 115–117.

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