An konkreten Fällen aus seinem Berufsalltag entwickelt Anwalt und Autor Ingo Krampen in seinem jüngsten Buch eine neue Perspektive auf unser Rechtswesen und -verständnis.
Ingo Krampen beginnt sein kleines Buch ‹Recht-schaffend werden›, wie es kennzeichnend für den ganzen folgenden Text ist: An den Anfang stellt er dankbar und zugewandt den Rückblick auf seinen verehrten Lehrer und Seniorkollegen Wilhelm Ernst Barkhoff. Dessen Ideen für eine Erneuerung des Rechts und des Bankwesens waren kein abstraktes Programm, sondern ablesbar an seiner anwaltlichen Tätigkeit für viele Menschen, für Hofgemeinschaften, Schulen und nicht zuletzt für die GLS-Bank. So praktisch orientiert, ist es nicht verwunderlich, dass wir bei Krampen in seinem Buch als Erstes Herrn Tischbein begegnen, der dem Autor eine lebenslang wirkende Lehre des Seniorpartners vermittelt.
In den folgenden Kapiteln erläutert Krampen, beginnend mit seinem Traum vom Recht der Zukunft und einer kurzen Geschichte des Rechts, die grundlegenden Ideen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als die beiden Eckpfeiler allen Rechts. Dann folgt ein Blick auf Mysterienströme Europas, auf Schicksalsaspekte und die Grundlagen der richterlichen Urteilsfindung. Man wird durch Überleitungen gut von Kapitel zu Kapitel geführt und sieht sich nun vor dem Grundsatzkapitel seiner Schrift, dem Weg vom Schuldrecht zum Verantwortungsrecht. Nicht ohne einen Blick auf Parallelen in Goethes ‹Faust› zu werfen, rückt die menschliche Freiheit in den Mittelpunkt als Basis neuer Formen der Rechtsschöpfung.
Dies alles könnten ausgedehnte theoretische oder literarische Erkundungen sein, aber genau das macht der Autor nicht. Immer begegnen wir konkret vorgestellten Menschen, dem Rentner Rudolf Rüstig, dem Ehepaar Peters, dem Sportlehrer Malte Maus oder der als Kindsmörderin angeklagten Margarete. Durchweg ergibt sich, wie das Erleben der Menschen den Blick auf Grundsätzliches öffnet. Dieser lebensweltliche Bezug ist charakteristisch. Krampen intendiert auch gar nicht, für seine Sicht des Rechts einen geschlossenen theoretischen Überbau mit letzter begrifflicher Schärfe zu liefern. Was er beschreibt, ist gedanklich durchdrungene Erfahrung mit lebendigen Menschen, die es Leser und Leserin erlauben, am praktischen Beispiel Grundsätzliches wiederzuerkennen oder kennenzulernen.
Beides, Theorie und Praxis, sind legitime Zugänge zur Wirklichkeit, auch der des Rechts. Schon das von Krampen zitierte Urbild Pico della Mirandolas vom Menschen zwischen Geist und Natur lässt ahnen, dass auf beiden Wegen von ‹oben› und von ‹unten› zur Wirklichkeit des Menschen gefunden werden kann. Dabei hat der lebensweltliche Zugang seine eigene Gediegenheit und bietet mit seiner Nähe zum praktischen Dasein Wärme und Empathie, auch mit den Schwächen des Menschen, mit denen es der Anwalt im Alltag meist zu tun hat. So verliert das Recht den sonst so im Vordergrund stehenden formalen Charakter und erlaubt, dem Menschlichen Geltung zu verschaffen.
Auf dieser Spur bekommen die folgenden Kapitel einen starken Bezug zu persönlicher Betroffenheit. Im ‹Dialog zwischen Ich und Gemeinschaft› wird deutlich, dass wir in einer Kultur des Vertrauens durch die Begegnung mit den uns umgebenden Menschen unser ‹Außen-Ich› erleben, eine Erfahrung von Gemeinschaft, die jeder Mensch für seine Entwicklung braucht. Mit der Frage ‹Wie werde ich gemeinschaftsfähig?› schält sich dafür die Aufforderung eines «einfachen Perspektivwechsels» als Weg zur «Geschwisterlichkeit» heraus, der freilich, wie sich im Weiteren zeigt, vielleicht doch nicht ganz so einfach ist: Vielfältig hilfreiche Anregungen beschreiben, wie der Mensch hier weiterkommen kann.
Mit diesen Veränderungen ändert sich auch das Bild anwaltlicher Tätigkeit – vom Kämpfer für individuelle Rechtsansprüche zum Mediator: ‹Die Mediation als Methode der Konfliktlösung im Verantwortungsrecht›. Ein ausführlich geschilderter Streit zwischen Heinz und Hertha Haderer mit allen Verästelungen des Familienrechts zeigt, wie sich gerade in diesem persönlichen Bereich Ansätze finden lassen, um aus wechselseitigen Schuldvorwürfen herauszukommen. In der Verantwortung des Mediators oder der Mediatorin für den Prozess werden die Streitenden begleitet, Schritt für Schritt die Perspektive des anderen einzunehmen und von dort aus auf das Geschehen zu blicken. So entsteht wechselseitige Verantwortung für den Inhalt neu getroffener Absprachen für die Zukunft – selbst geschaffenes Recht im großen Rahmen von Menschenwürde und Menschenrechten. Um zu erläutern, wie dies dann ganz praktisch abläuft, schildert Krampen zwei Beispiele (S. 127), die zeigen, dass sich unsere Vorstellung, was ‹Recht› ist, grundsätzlich verändern kann: Von einem sanktionierten Schuldrecht zu einem ‹sympathischen Recht›, das uns mitfühlend durch Verantwortung und Vertrauen im Leben stehen lässt.
Buch Ingo Krampen. Recht-schaffend werden – Aufbruch zu einer Rechtskultur der Verantwortung und des Vertrauens. Info3-Verlag, Frankfurt a. M. 2024