Steiner als Erzähler

Kann sich die Anthroposophie als Erzählung aufgefasst aus einem Dogmatismus lösen? Das neue Buch von Ulrich Kaiser wagt diesen Ansatz und stimmt die Lesenden auf ein neues Abenteuer mit ihr ein.


Im Churerdeutsch, meinem Schweizer Heimatdialekt, kann ich einen unwillkommenen Fabulierer, der mir irgendwas dahererzählt, mit einem einzigen Wort zum Schweigen bringen. Ich sage dann nur «verzell» (erzähl) und meine damit ‹Hör auf, ich glaube dir kein Wort›.

Sind Fabulieren und Erzählen wirklichkeitsfremd, etwa im Gegensatz zu den Wissenschaften? Oder zur Anthroposophie, die oft wie die Wahrheit an sich aufgefasst wird? Wer so denkt, sollte im Buch ‹Der Erzähler Rudolf Steiner› lesen. Auf fast 300 Seiten bringt der Phänomenologe Ulrich Kaiser eine Auslegung der Anthroposophie, als ginge es darum, sie aus dem Dornröschenschlaf des Dogmatismus zu erlösen. Bei diesem Aufwachprozess setzt der Autor nicht auf Wahrheitsappelle, sondern auf den Erzähler Rudolf Steiner. Ausgerechnet Steiner ein Geschichtenerzähler? Doch was wäre an seiner Geisteswissenschaft als einer der bedeutendsten Erzählungen über das Universum denn so schlimm? Tatsächlich lässt sich Steiners Werk als erstaunliche, einmalige Erzählung verstehen, die für uns Gegenwartsmenschen genauso richtungweisend ist, wie es die großen Epen der Vergangenheit für unsere Vorfahren waren.

Das Dritte

Wie Kaiser mit der Anthroposophie als Wissenschaft umgeht, zeigt sich in seinem Umgang mit Helmut Zander. Er unterscheidet sich von anderen anthroposophischen Autoren dadurch, dass er Zander ernst nimmt und dabei gleichzeitig aufzeigt, wo sich dieser von Steiner entfernt und wo er ihn nicht oder ungenügend versteht. Den Rechthabereien und subtil agitativen Wendungen Zanders mit Polemik zu begegnen, fällt dem Autor nicht ein.

Ich lehre nicht, ich erzähle.

Rudolf Steiner

Wie bei Zander, wirkt Kaiser auch im Umgang mit Max Dessoir, einem verbitterten Feind Rudolf Steiners, schlichtweg entspannt. Dessoirs Agitation gegen Steiner hat er dabei so gründlich studiert, dass er da, wo andere in eine Sackgasse geraten, neue Erkenntnisse aufzuschließen vermag. Mit Andersdenkenden so umzugehen, bringt uns weiter. Manchmal denke ich, nur das bringt uns noch weiter. Kaiser stellt die Differenzen zwischen Steiner und Dessoir so dar, dass wir von beiden einen Gewinn haben, von Steiner und von Dessoir. Und durch eine dritte Figur, Alfred Meebold, wird die Situation dialektisch auf eine höhere Betrachtungsebene gehoben. Dieser seelenvolle Mensch, der als Student und Freund von Dessoir begann und später Rudolf Steiners Geistesschüler wurde und der mit beiden befreundet bleiben wollte, lebte uns vor hundert Jahren vor, wie zwischen zwei extrem verschiedenen Weltanschauungen eine dritte Position möglich ist. Menschliche Verflechtungen in einer solchen Weise darzustellen, zeichnet Kaiser selbst als einen Erzähler aus, der aus den gegebenen Tatsachen neue Zusammenhänge entfaltet.

Sich in den Dingen aufhalten

Rudolf Steiner, der in seinem Leben wohl weit über eine Million Zuhörer erreicht hatte, erzählte in einer gewissermaßen dialektischen Manier, wie das Profane erhoben werden kann. «Nicht Sachinfos, sondern das Fragemotiv», nicht «statische Fakten», sondern «performativ Bewegtes», das sei bei Steiner entscheidend. Kaiser behauptet, Steiners Anthroposophie sei «ohne das performative Element nicht zu denken». Ob in seinem Hauptwerk ‹Die Philosophie der Freiheit›, wo er seinen eigenen Angaben zufolge schlichtweg erzählte, was er «innerlich durchlebt» hat, ob in seiner Auseinandersetzung mit Goethes Rätselmärchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie oder ob beim Erzählen aus der Quelle der Akasha-Chronik, überall habe sich Steiner als Erzähler um die Darstellung erlebter Erfahrung bemüht, wobei er «die Dinge nicht im Zuschauerbewusstsein von außen betrachtet, sondern sich in den Dingen aufhält».

Kaisers über Jahre entwickelter Gedankenstrom wird zu einem Aggregat, das eine Energie ausstrahlt, die vielleicht viele Leserinnen und Leser auf ein neues Abenteuer mit der Anthroposophie einstimmt.

Das Buch sollte ‹hinausgelesen› werden, wie Goethe zu sagen pflegte, wenn er ein Buch zu Ende gelesen hatte. Man wird, gerade im Abschlussteil, reichlich belohnt. Dieser Teil fährt in ruhigeren Gewässern. Ich weiß nicht, ob es an der jahrelangen Vertiefung von Ulrich Kaiser in diese Materie liegt oder ob eher seine vielen Jahre als Waldorflehrer dafür verantwortlich sind (vermutlich beides), jedenfalls haben sich in seinem neuen Buch viele seiner lange betriebenen Forschungen nochmals verdichtet und von ihm ein Stück weit abgelöst. Sie wirken frei und sind freilassend in der Vermittlung, auch wenn sie rigoros und mit unerschrockenem Denkermut vorgetragen werden.


Buch Ulrich Kaiser, Der Erzähler Rudolf Steiner Info3-Verlag, Frankfurt a. M., 2020

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare