Starke, stolze und stetige Seele

Nachruf für Almut Bockemühl, 9.3.1933–26.9.2022.

Für Frauen der Zukunft:
Den Mut zur Wahrheit.
Für Frauen der Zukunft:
Den gewaltigen großen Willen,
der nicht fraget, was der Haufe wohl sagt.
Für Frauen der Zukunft:
Die starke, die stolze, die stetige Seele.

W. Jordan, Nibelunge, 2. Band

Almut Bockemühl ist am 26. September 2022 vormittags friedlich über die Schwelle gegangen. Sie hinterließ ein Mäppchen mit einer selbst geschriebenen Kurzbiografie und einigen biografischen Notizen. Obenauf lag ein Zettel mit den hier vorangestellten Sätzen in der Handschrift ihrer Mutter. Offensichtlich sah sie in ihm in gewisser Weise ein Lebensmotto. Von Natur aus eher ein zartes, schüchternes, melancholisches Wesen, musste sie schon früh – zu früh, wie sie selbst meinte – stark und selbstbewusst im Leben stehen.

Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte sie aber noch wohl behütet mit den Eltern, Käthe und Kurt Henn, und dem fünf Jahre älteren Bruder Peter in dem kleinen Edelsteinschleiferstädtchen Idar-Oberstein. Ihr Vater war dort Werklehrer. Er war fröhlich, künstlerisch und handwerklich sehr geschickt, die Mutter liebevoll und fürsorglich. Beide waren sehr naturverbunden, gehörten der Wandervogelbewegung an und waren zum Entsetzen der Verwandtschaft Vegetarier. Ihre Freunde hatten eines der ersten Reformhäuser in Deutschland.

In ihrer letzten Lebenszeit tauchten bei Almut viele Erinnerungen an diese Jahre wieder auf: Sie spielten viel draußen im Freien. Mit dem Großvater, der Förster in Türkismühle war, ging man in den Wald. Vater und Großvater hatten die Hände auf dem Rücken verschränkt und unterhielten sich, während die kleine Almut die beiden Dackel an der Leine führen durfte, wobei sie immer so schnell rennen musste, wie sie nur konnte, da sie fürchtete, die Dackel sonst zu würgen. Oft erzählte sie auch von dem rot lackierten Gitterbettchen, in dem sie als Kind schlief, von den Rosinen aus dem Reformhaus, oder wie sie auf dem hochgedrehten Klavierhocker am Kachelofen saß, mit den Beinen baumelte und Bienenwachs knetete. Vor allem aber tauchte immer wieder das Bild des geliebten Vaters auf: Er schwamm mit ihr auf dem Rücken über den Fluss, von ihm lernte sie die Namen der Pflanzen, er hatte eine spezielle Technik, den Kindern ihrer Klasse das Lesen beizubringen, und er zog mit großen handgeschnitzten Puppen durch die Dörfer und spielte für die Kinder Puppentheater. Aber vor allem war er immer fröhlich.

Dieser Familienfrieden wurde 1940 jäh unterbrochen: Es war Krieg, der Vater war an der Front am Rhein, und bald schon kam der verhängnisvolle Brief. Sie erzählte häufig, wie die Mutter den Brief öffnete und schrecklich zu weinen begann. Der Vater war tot. Was das bedeutete, wurde ihr besonders schmerzlich bewusst, als nach dem Krieg die Väter nach und nach zurückkamen, aber der eigene ausblieb. Da die Mutter nicht weiter in Oberstein leben wollte, zogen sie nach Göttingen, wo sie Freunde hatten. Einige Zeit später wurde der Bruder auch eingezogen und es gab lange keine Nachricht von ihm, da er in britische Gefangenschaft geraten war. In dieser schwierigen Zeit war die Tochter der einzige Trost der Mutter. Die Mutter suchte nach Antworten auf ihre drängenden Fragen und der evangelische Pfarrer konnte ihr dabei nicht helfen. Freunde empfahlen ihr die Christengemeinschaft. Hier konnten Mutter und Tochter Hilfe finden.

In den Jugendfreizeiten der Christengemeinschaft fand Almut viele Freunde, es herrschte Fröhlichkeit und es wurde über wesentliche Inhalte gesprochen. Viele der Lieder, die sie hier lernte, gab sie später auch an ihre eigenen Kinder weiter.

Da sie früh an existenzielle Fragen gestoßen war, war sie auch früh selbständig und wusste, in welche Richtung sie gehen wollte: Mit 16 Jahren entschied sie sich, Mitglied der Christengemeinschaft zu werden, und mit 21 Jahren wurde sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.

Nach der Schule wollte sie studieren. Von dem, was die Familie ihr mitgegeben hatte, lag es nahe, Biologie zu studieren, und Göttingen ist eine Naturwissenschaftsstadt. So begann sie 1952 ein Biologiestudium. Ihr ganz eigenes Interesse lag aber bei der Dichtung. Aus diesem Grund und weil sie durch die Christengemeinschaft auch die Anthroposophie kennengelernt hatte, zog es sie gen Süden, nach Tübingen. Hier lehrte Professor Friedrich Beißner, ein Hölderlin-Spezialist. Für Alt- und Mittelhochdeutsch gab es Professor Kurt H. Halbach. Und es gab eine große anthroposophische Studentengruppe. Sie schrieb sich dort auch für Germanistik ein.

Almut Bockemühl, Fotoquelle: Verlag Freies Geistesleben

In einer Biologievorlesung begegnete Almut bald schon Jochen Bockemühl. Man wanderte zusammen, spielte zu Weihnachten mit der Studentengruppe das Oberuferer Christgeburtspiel und verlobte sich schließlich.

Um das Studium zu verkürzen und doch einen Lehrerabschluss zu haben, ging Almut 1955 noch für ein Jahr auf die Kunstakademie in Stuttgart. 1956 heirateten Almut und Jochen in Stuttgart. Sie wollten nun für ein Jahr nach Dornach und anschließend nach Bremen gehen, wo Jochen eine Stelle als Waldorflehrer in Aussicht hatte. In Dornach wollte er ein Jahr bei Dr. Frieda Bessenich im Kristallisationslabor arbeiten und nebenher eigene Forschungen betreiben. Aus diesem einen Jahr wurde dann das ganze weitere Leben.

Vier Kinder wurden geboren, denen Almut eine liebevolle fürsorgliche Mutter war. Sie bemühte sich, eine gute Mutter zu sein, die das Leben mit ihren Kindern sehr bewusst gestaltete. Feste, seien es die Jahresfeste oder Geburtstage, wurden immer ganz besonders gefeiert. Ein Geburtstag, an dem es nur einfach Kaffee und Kuchen gab, war in ihren Augen kein richtiges Fest. Es wurden passende Gedichte geschrieben, Geschichten erzählt oder kleine Aufführungen gemacht. Ich erinnere mich noch gut, wie wir als Kinder mit der Familie zu Johanni irgendwo in der Natur ein Feuer machten, Lieder sangen und das Märchen vom treuen Johannes spielten. Später wurden für geburtstägliche Darbietungen auch die Enkel mit einbezogen.

Als Mutter bot sie Geborgenheit, denn sie war einfach da. Es gab einen festen Tagesrhythmus: Die Mahlzeiten mit Tischgebet und der Abendabschluss mit Geschichte, Singen und Abendgebet bildeten den Rahmen. Am liebsten schien sie es zu haben, wenn die Kinder draußen spielten, und es schien sie nicht zu beunruhigen, wenn sie auf hohe Bäume kletterten oder andere gefährliche Dinge unternahmen. Sie ließ ihren Kindern einen großen Freiraum, der, je mehr diese heranwuchsen, immer größer wurde, aber sie war mit ihrem Bewusstsein dabei. Es war ihr nicht gleichgültig, was man machte, und als Kinder wussten wir immer genau, was sie gutheißen würde und was nicht. Auch als später die Jugendlichen große Reisen unternahmen, hatte sie volles Vertrauen in das Schicksal.

Die Studieninhalte ihrer erwachsenen Kinder interessierten sie immer, besonders die geisteswissenschaftlichen Fächer: Schauspiel, Theaterstücke, Literatur und Lyrik. Hier gab sie Anregungen und ließ sich auch selbst zu weitergehender, vertiefender Beschäftigung anregen. So entstanden zahlreiche Aufsätze und Theaterkritiken. Ihre eigenen Entdeckungen teilte sie dann wiederum mit ihren Kindern und litt schmerzlich darunter, wenn dieser Austausch aus irgendwelchen Gründen unterbrochen wurde.

An einem Sektionstreffen rief Almut 1989 mit einem kleinen Kreis Interessierter eine Lyrik-Arbeitsgruppe am Goetheanum ins Leben, aus der schließlich 1991 nach einer Hölderlin-Tagung mit Lyrikfreunden aus Salem regelmäßige Lyrikkolloquien hervorgingen, die im Frühjahr in Dornach und im Herbst in Salem am Bodensee stattfanden.

Ihr Ehemann arbeitete sehr viel. Damals arbeitete man auch samstags. Nur zu den Mahlzeiten kam er nach Hause, aber dies sogar mittags. Die Hausarbeit oblag der Frau, was sie keineswegs als erfüllend empfand. Almut saß lieber an ihrem Schreibtisch und schrieb neben den bereits erwähnten Aufsätzen und Theaterkritiken auch viele Buchbesprechungen, was nicht heißen soll, dass sie ihren Haushalt vernachlässigte.

Almut und Jochen Bockemühl (2004), Foto: Erdmuthe Margiani, Privatbesitz

Den Kindern (und später den Enkeln) erzählte sie viele, viele Märchen, und wenn sie älter wurden, las sie Literatur vor. Beim Erzählen beschäftigte sie sich intensiv mit der Bildhaftigkeit in den Märchen und überlegte sich genau, wann und warum welches Märchen am passendsten war. Aus dieser Beschäftigung, welche, wie sie sagte, nicht aus einem ursprünglichen Interesse, sondern aus den Umständen, dem Leben mit den Kindern, geboren war, konnte sie schließlich ihre ersten Kurse geben.

Auf Empfehlung ihres Mannes erhielt sie 1973 von Ada Möhle die Möglichkeit, im Anthroposophischen Studienjahr (unter der Leitung von Hagen Biesantz) zu unterrichten und bald schon auch an der Organisation mitzuwirken und andere Referentinnen und Referenten für Kurse einzuladen. Sie nahm ihre Aufgabe sehr ernst, suchte die Menschen auf, um mit ihnen zu sprechen, bevor sie sie für Kurse oder Vorträge einlud. Von den 56 von ihr nach Dornach eingeladenen Dozentinnen und Dozenten war es für 43 erstmalig. Dabei kümmerte sie sich nicht um Vorbehalte, die am Goetheanum gegenüber manchen Persönlichkeiten bestanden, ebenso wie sie sich nicht um die Auseinandersetzungen zwischen Nachlassverein und Anthroposophischer Gesellschaft kümmerte. Es ging ihr um die Anthroposophie.

Für das Anthroposophische Studienjahr arbeitete sie bis Herbst 1980. Von 1984 bis 2001 war sie dann im Zweigvorstand, wo sie zunächst eine ähnliche Aufgabe innehatte, und 1992 bis 2000 leitete sie auf Anregung von Hagen Biesantz zusammen mit Rudi Bind die sogenannte ‹Winterarbeit›, zunächst zu den Mantrischen Sprüchen Rudolf Steiners, später auch zu anderen Themen, z. B. zusammen mit Jochen über Elemente und Elementarwesen.

Da Jochen viel unterwegs war, beschloss sie, zur Selbsthilfe zu greifen und auch ‹Dienstreisen› zu machen – Dienstreisen als Mutter, wie sie sagte. Das bedeutete, dass sie Reisen mit einzelnen ihrer Kinder machte. Zum Beispiel fuhr sie mit der Tochter, die in der Schule eine Abschlussarbeit über Michelangelo machen wollte, nach Rom, Florenz und Mailand zu den Werken Michelangelos.

Sie fuhr aber auch zu Tagungen der Europäischen oder Schweizer Märchengesellschaft sowie zu Tagungen der Goethe- und Rilke-Gesellschaften.

Nach einer ersten von Biesantz veranlassten und von Almut ausgerichteten Märchentagung im Jahr 1985 gründete sie 1994 den ‹Arlesheimer Märchenkreis›, aus dem ab 1997 regelmäßige Märchenkolloquien am Goetheanum entstanden, die sich der Vorbereitung von Wochenendseminaren und Tagungen widmeten.

Von Jean-Claude Lin wurde sie gefragt, ob sie nicht ein Buch über das Muttersein als Beruf schreiben könnte. Man traute es ihr zu, also wollte sie es versuchen. So erschien 1989 ihr erstes Buch ‹Selbstfindung und Muttersein im Leben der Frau›. Es folgten später noch mehrere Bücher. Wie sie sagte: immer auf Anfrage von außen. Das letzte im Jahr 2015 über Märchen und Rosenkreuzer – ein Thema, das ihr sehr am Herzen lag und an dem sie schon seit vielen Jahren gearbeitet hatte.

Almut Bockemühl mit einem Enkel (2000), Foto: Erdmuthe Margiani, Privatbesitz

Nach der silbernen Hochzeit (1981) begann nochmals ein ganz neuer Lebensabschnitt: Almut fing an, gemeinsam mit ihrem Mann Kurse zu geben. Lange schon hatte sie sich intensiv mit dem Jahreslauf in der Natur, in den Wochensprüchen von Rudolf Steiner und in den Märchen sowie mit verschiedenen Naturbetrachtungsübungen von Steiner beschäftigt. Nun suchten Jochen und Almut nach einem Thema, in dem sich ihre Arbeitsgebiete begegneten, und kamen auf die Elementarwesen, denen man sich sowohl über die Naturbetrachtung als auch über die Märchen nähern kann. Vor allem von seinen ehemaligen Studentinnen und Studenten wurde Jochen zu Kursen auf der ganzen Welt eingeladen. Diese Kursreisen machten Almut und Jochen fortan gemeinsam.

1985 wünschte sich Almuts Mutter, «noch einmal mit der Familie Weihnachten zu feiern». Sie wurde nach Dornach geholt, wo sie bis zu ihrem Tod kurz vor ihrem 90. Geburtstag im Jahre 1990 blieb. Die Jahre der intensiven Pflege der Mutter forderten wieder viel Verzicht auf eigene Tätigkeit, waren aber für die ganze Familie auch sehr bereichernd. Almut beschrieb diese Zeit in ihrem Büchlein ‹Zeit des Sterbens›.

Nach 1990 folgte nochmals eine sehr reiche Kurstätigkeit, gleichzeitig aber auch die Geburt der Enkel, die teilweise sehr häufig bei den Großeltern sein durften.

Im Februar 2016 erlitt sie einen Schlaganfall, durch den sie zunächst gelähmt war und die Sprache verlor. Hier zeigte sich wieder ihre zähe Kämpfernatur: Sie ließ sich nicht durch erste Misserfolge entmutigen, sondern übte hart, bis sie wieder laufen und sprechen konnte. Auch als das Sprechen noch nicht wieder möglich war, schrieb sie die Wochensprüche aus dem Seelenkalender auswendig auf.

Dann kam die Zeit, in der immer mehr äußere Hilfestellungen nötig wurden, aber lange konnte man noch gemeinsam Vorträge von Rudolf Steiner lesen. Langsam ließen die Kräfte nach und das Sprechen wurde zunehmend schwieriger, ebenso wie die Erinnerung an Gegenwärtiges immer schwieriger wurde. Im Mai 2020 starb der geliebte Ehemann, ihr Lebensgefährte über 64 Jahre. Im gleichen Jahr zog Almut zu ihrer Tochter, wo sie Schutz und Geborgenheit suchte, was ihr in unserem regen Arbeitsalltag nur mithilfe der ganzen Familie und lieber Freunde geboten werden konnte. Allen Helferinnen und Helfern sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt.

Immer zarter und hilfsbedürftiger wurde die Mutter, auch wenn sie sich manchmal energisch gegen Hilfe wehrte. War sie nicht zeitlebens ein selbständiger Mensch gewesen, der alleine zurechtkam? Jetzt schien es, als würde ihr langsam der Boden unter den Füßen weggezogen. «Was ist los?» wurde zur ständigen Frage, «So hilf mir doch!» zur ständigen Bitte. Aber wie sollte man helfen, wenn es äußerlich gar keinen Hilfsbedarf gab? Nicht nur die äußere, auch die innere Anwesenheit war gefragt.

Zum Glück hat sie sich bis zuletzt ihren Humor bewahrt, sodass man immer wieder zusammen lachen konnte. Und immer wieder tauchten Gedichte auf, die sie noch auswendig wusste. Aber die Rollen hatten gewechselt: Sie fühlte sich in ihrer Kindheit, mit dem Vater. Das Gefühl der Geborgenheit, das sie ihrer kleinen Tochter gegeben hatte, brauchte sie nun wieder selbst. «Bin ich nicht dein kleines Mädchen?», sagte sie einmal kurz vor ihrem Tod zu mir. Ja, so fühlte es sich an.

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