Sprache des Nichts

Die Dichtung Paul Celans (1920–1970) ist ein Zeugnis der Schwellenwirklichkeit eines Menschen, der den Holocaust durchschritten und überlebt hat, um zu sprechen.


Zwei tiefgreifende Erfahrungen liegen Paul Celans Dichtung zugrunde: Das Verschwinden oder die Verfinsterung des Menschlichen durch die Offenbarung eines Bösen und die Geburt einer neuen Menschlichkeit in und nach Auschwitz. Diese beiden Erfahrungen bringen das menschliche Bewusstsein an den Rand dessen, was es erfassen und beschreiben kann. Zeugnis ist für Celan in erster Linie der Versuch, zu vergegenwärtigen, in Worte zu fassen, was unsagbar ist.

Masten der Schwermut

Celan (dessen ursprünglicher Name Paul Ancel lautet) wird in eine jüdische Familie in Czernowitz, Rumänien, hineingeboren und wächst in einer mehrsprachigen Kultur auf. Deutsch ist für ihn eine Art Muttersprache und wird zu der Sprache seines Schreibens. Schon in jungen Jahren verfasst er erste Gedichte, insbesondere unter dem Einfluss von Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1941, als Celan 21 Jahre alt ist, fällt die deutsche Wehrmacht in Rumänien ein. Celans Familie wird auseinandergerissen: Vater und Mutter werden in ein Konzentrationslager deportiert, Celan selbst wird zur Zwangsarbeit unter der rumänischen Armee verpflichtet. Er arbeitet im Straßen- und Tunnelbau, unter Umständen von Hunger und Kälte, Demütigung und Erschöpfung. Während der gesamten Zeit schreibt er weiter und seine Dichtung reift nun. Seine Gedichte schickt er zum Sammeln an seine Freundin Ruth Lackner, die dem Lager entkommen ist. Bald erfährt er vom Tod seiner Eltern. Sein Vater stirbt 1942 an Typhus und seine Mutter wird 1943 durch Genickschuss ermordet. In einem nicht in seinen Gedichtbänden veröffentlichten Gedicht aus dieser Zeit schreibt er:

O steinerne Masten der Schwermut!
O ich unter euch und lebendig!

O ich unter euch und lebendig und schön,
und sie darf mir nicht lächeln! 1

Es wird finster um ihn und das Schuldgefühl des Überlebenden wiegt schwer. In einem Brief an Ruth Lackner aus dieser Zeit bemerkt er: «Es soll nun Frühling werden. […] Seit ungefähr zwei Jahren fühle ich nicht mehr Jahreszeiten und Blumen, und Nächte und Verwandlungen überhaupt.»2 Für Celan hält die Zeit an und mit ihr auch die Empfindung der Identität, welche den Menschen in der Regel an sich selbst und an sein Tun bindet. Es entstehen Gedichte, aber ihre Bindung an ihn als Persönlichkeit wird unwichtig. In einem Brief an die Freundin bezieht er sich auf die mögliche Veröffentlichung seiner Gedichte in der Zukunft und schreibt: «Eine Bitte, die meine Gedichte betrifft: […] keine Namen auf das Titelblatt zu schreiben und keinen Titel, höchstens: ‹Gedichte›»3. Die Gedichte schickt er ihr als ein Vermächtnis.

Paul Celan, 5. April 1955, Paris. © Deutsches Literaturarchiv Marbach.

Nach dem Tod seiner Eltern erscheint es ihm, als seien sein Leben und sein Schreiben an ihrem Ende angelangt. «Was er für sich selbst nicht mehr erwartet, soll seiner Dichtung zuteilwerden: Weiterleben in der Zukunft, und ohne seinen Namen, der ihm bedeutungslos geworden ist, soll sein Werk Kunde davon geben, was unsäglich Großes ihn bewegt hat.»4

Anfang 1944 erobert die Rote Armee Rumänien und Celan wird aus der Zwangsarbeit befreit. Er geht von Czernowitz nach Bukarest und überwindet dann illegal die Grenze nach Wien. Von dort aus kommt er später nach Paris, wo er schreiben wird, bis er seinem Leben 1970 mit einem Sprung in die Seine ein Ende setzt.

Als Entblößter sprechen

Nach dem Holocaust bleibt für Celan das Bedürfnis, zu sprechen. Dieses spannt sich jedoch stark im gleichzeitigen Drang, zu verschwinden. Hier muss Celan mit Theodor Adornos Vorwurf umgehen: «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.»5 Celan nimmt sich diesen Ausspruch sehr zu Herzen – auch weil er sich nach Ansicht vieler auf sein berühmtes Gedicht ‹Todesfuge› bezieht. In seinem Gedicht ‹Sprich auch du› findet sich vielleicht die Antwort auf die Notwendigkeit, die die Dichtung nach Auschwitz für ihn hat:

Sprich auch du,
sprich als letzter,
sag deinen Spruch.

Sprich
–doch scheide das Nein nicht vom Ja. […]

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
Beim Tode! Lebendig! 6

Das Sprechen, die Dichtung, sind nur einem möglich, der «als letzter» übrig bleibt, völlig entblößt, sogar von seinem Namen. Nur Dichtung kann die Wirklichkeit in Worte fassen, ohne das Nein vom Ja zu scheiden. Hierin liegt vielleicht die Lösung für Celans innere Spannung: einerseits die Pflicht, zu reden, Zeugnis abzulegen, eine neue Intimität in der ermordeten Sprache zu gebären. Andererseits ist dieses Sprechen nur durch eine neue Sprache möglich, welche das Nichts durchschritten hat, welche Zeugnis der Geburt einer neuen Ichheit aus dem Tod und dem Bösen sein kann. Die Frage der Möglichkeit einer Dichtung nach Auschwitz ist Celans Ansicht nach gleichzeitig auch die Frage nach einer Möglichkeit des Gesprächs, die Frage nach dem Anderen als wahres Du.

In seiner ‹Meridian-Rede› aus dem Jahr 1960 stellt Celan zwei poetische Grundsätze vor. Der erste: «Das Gedicht zeigt […] eine starke Neigung zum Verstummen. […] das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst.»7 Dies spricht für die Bewegung des Gedichts in Richtung des Verschwindens, oder des Nichts.

Und der zweite: «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.» Das Gedicht benötigt den widerhallenden Raum des Anderen, es sehnt sich nach ihm, um seine Einsamkeit zu überwinden, und findet im Anderen seine wesentliche Vervollständigung. Celan zielt hier auf die dialogische Grundlage der Dichtung ab.

Das lebendige Nichts

Die Frage des Verschwindens oder des Nichts tritt in Celans Dichtung in zweierlei Aspekten: Das Nichts taucht als Erfahrung der Negation des Seins auf, als Erfahrung eines Bruchs und eines Abgrunds – im Zusammenhang mit dem Holocaust sowie mit dem Bruch des modernen Menschen allgemein. Und andererseits das Nichts im kabbalistischen Sinn als das wahre, unaussprechliche Sein, als das Unendliche, das nur durch eine Sprache der Negation ausgedrückt werden kann. Im Gedicht ‹Mandorla› schreibt Celan:

In der Mandel – was steht in der Mandel?
Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.

Im Nichts – wer steht da? Der König.
Da steht der König, der König
Da steht er und steht. 8

Das in der Mandel enthaltene Nichts kann die Leere sein, aus welcher, über das mystische In-sich-selbst-Zurückziehen, die Wirklichkeit, der König erwachsen kann. Oder es kann die verborgene Wirklichkeit selbst sein, welche sich auf bildliche Weise in der Gestalt des Königs verbirgt.

Celan begegnet der Kabbala-Forschung von Gershom Scholem 1960. Das Nichts als Begriff in seiner direkten und wesenhaften Form erscheint bei Celan zum ersten Mal in seinem vierten Gedichtband ‹Die Niemandsrose› drei Jahre später. Im Gedicht ‹Einem, der vor der Tür stand› taucht die Wesenhaftigkeit des Nichts als «das lebendige Nichts»9 auf. Dieser Ausdruck ist gleichzusetzen mit dem jüdischen Bezug auf Gott als «lebendigen Gott». Scholem schreibt über das Nichts:

«Da, wo die Seele alles Begrenztsein ganz von sich abstreift und, um mit den Worten eines Mystikers zu sprechen, in die ‹Tiefen des Nichts› hinabsteigt, da gerade begegnet sie Gott. Das ‹Nichts› nämlich ist ein Nichts, voll mystischer Fülle […]. Das Nichts ist, mit anderen Worten, die Gottheit selbst in ihrem verborgensten Aspekt.»10

Die Seele taucht in die Leere, in die «Tiefen des Nichts», um das Nichts als «die Gottheit selbst» zu finden. Das Nichts selbst erscheint hier in zwei Arten. Und genau diese zwei polaren Aspekte des Nichts, der abgründige und der göttliche, machen es zur eigentlichen Grundlage für die Verwandlungsprozesse in der Welt. Das ist, gemäß Scholem, der Abgrund der Transformation des Göttlichen:

«Kabbalisten, die diesen Gedanken des Zohar weitergedacht haben, […] lehrten, dass in jeder Veränderung des Wirklichen, in jedem Formenwandel, jedem Übergang eines Dinges von einem Status in einen anderen, dieser Abgrund des Nichts neu durchschritten wird […]. Kein Ding kann sich verwandeln, das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker eben ‹Nichts› nennt, berührt hat.»11

Das Nichts wird hier als der Umwandlungsaspekt der Gottheit aufgefasst, als dasjenige, was das Ding verschwinden lässt und es in etwas anderes verwandelt. In der Dichtung Celans wird die Umwandlung zu einem zentralen Motiv und wird in der ‹Meridian-Rede› «Atemwende» genannt. Das ist der Moment der Umstülpung durch das Schälen, in dem das Wesen sich zurückzieht und dadurch ein Ort für sein Anderes sein kann. Im Gedicht ‹Sprich auch du› schreibt er:

Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst:
Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?
Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
an dem er herab will, der Stern:12

Was das Herabsinken des «Sterns» ermöglicht, ist das «Faden»-Werden des Menschen. Es entsteht eine Art Verschwinden nach innen, ein Rückzug aus den Gesetzen des Raumes, ein Prozess der Selbstnegierung, der Raum für etwas Neues lässt. In dieser Bewegung des Rückzugs nach innen, unten, wird eine grundlegende Geste in der Lyrik Celans sichtbar: Das seiner selbst entleerte Ich, das geschrumpft ist, ermöglicht dem Anderen, dem «Stern», das Sprechen, und offenbart darüber den Kern seines Seins.

Sprich auch du
Sprich auch du,
sprich als letzter,
sag deinen Spruch.

Sprich –
Doch scheide das Nein nicht vom Ja.
Gib deinem Spruch auch den Sinn:
gib ihm den Schatten.

Gib ihm Schatten genug,
gib ihm so viel,
als du um dich verteilt weißt zwischen
Mittnacht und Mittag und Mittnacht.

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.

Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst:
Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?
Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
an dem er herab will, der Stern:
um unten zu schwimmen, unten,
wo er sich schimmern sieht: in der Dünung
wandernder Worte.

Paul Celan, Von Schwelle zu Schwelle, © 1955, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Bild links: Das Gedicht ‹Sprich auch du› in Paul Celans Handschrift. © Deutsches Literaturarchiv Marbach.

Diese Bewegung nach innen und unten, um die Geburt von etwas Neuem zu ermöglichen, spiegelt das kabbalistische Zurückziehen wider. Die anfängliche Schöpfungsbewegung ist eine nach innen führende Bewegung; das Göttliche «steigt […] in sein Selbst hinab, konzentriert sein Selbst in sein Selbst».13 Im Gegensatz zur kabbalistischen Beschreibung verbindet sich in Celans Gedicht das Zurückziehen aber nicht mit dem Göttlichen, sondern mit dem Menschen selbst. Der Mensch selbst zieht sich zurück, wird zu einem «Faden». Hier findet eine Umkehrung statt, welche den Menschen selbst in den Mittelpunkt eines schaffenden-schöpferischen Handelns stellt. Dieser Verwandlungsprozess bildet in der Dichtung Celans die erforderliche Grundlage für eine tiefgehende Individualisierung:

Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehen, nachtlang,
wirklich.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Licht war. Rettung.14

Wer ist dieser «er», dessen wirkliche Existenz Celan so entschieden betont? Wer ist der, «der die Welt wusch […] nachtlang»? Um welche Nacht handelt es sich? Celan teilt uns etwas mit wie: Obwohl man ihn nicht sehen kann, ist er wirklich da und er beherrscht die Fähigkeit dem, was zerstört wurde, neue Ichheit zu schenken. Dieser Ungesehene steht hinter der Geburt des Ichs durch das Nichts. Er ist der, welcher die Welt «wäscht» im Laufe der «Nacht», welche man biografisch und historisch der Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 zuordnen kann. Hinter dem großen Schatten des Krieges erscheint Celan das Licht des individualisierten Ichs.

In diesem Zusammenhang ist ein unter Kabbalisten ehemals verbreitetes Wortspiel interessant: Das hebräische Wort ‹Ain› (Nichts) wird bei Änderung der Buchstabenfolge zum Wort ‹Ani› (Ich). Das Nichts als Umwandlungssein wird in seiner Personifizierung zum Wesen des ‹Stirb und werde› des Ichs. Der «Ein und unendlich» ist der, welcher dem Vernichteten Ichheit schenkt. Die Bedeutung der Transformation ist: Ich zu werden.

Die Welt geht auf

Celans Dichtung weist zur Wandlung, zur Individualisierung, zur Geburt der Ichheit. Das Ich geht durch das Nichts, um sich zu läutern von allem, was es nicht ist. Aber für Celan ist es in vielerlei Hinsicht nur die Vorbereitungsphase für etwas Neues – für die Begegnung:

Zu beiden Händen, da
wo die Sterne mir wuchsen, fern
allen Himmeln, nah
allen Himmeln
Wie
wacht es sich da! Wie
tut sich die Welt uns auf, mitten
durch uns!

Du bist,
wo dein Aug ist, du bist
oben, bist
unten, ich
finde hinaus.

O diese wandernde leere
gastliche Mitte. 15

Hier handelt es sich um eine Öffnung der Welt über das eigene Zentrum und dieses Zentrum erscheint schließlich in der genauen dichterischen Formulierung als «wandernde leere / gastliche Mitte». Diese ‹Wanderung› weist auf die Beweglichkeit hin, die Dynamik und den sich ändernden Charakter dieses Zentrums. Die ‹Leere› zeigt auf eben den kabbalistischen ‹Abgrund›. Und ausgerechnet diese Leere ist, was die «Mitte» «gastlich» werden lässt. Sie lässt die Mitte sich öffnen und in Kontakt treten.

Es scheint, dass die große Frage, mit der sich Celan in seiner Dichtung auseinandersetzt, die Frage des Übergangs aus dem von Martin Buber als «Ich-Es» bezeichneten Zustand, in dem das Andere als Objekt empfunden wird, in den Zustand des «Ich-Du» ist. Um das Andere zu erreichen und es aus einem Objekt in ein wahres Du zu verwandeln, muss das Nichts durchschritten werden:

und zuweilen, wenn
nur das Nichts zwischen uns stand, fanden
wir ganz zueinander. 16

Nur über die Durchquerung des Nichts fallen die Barrieren, die Schalen, welche den Menschen von sich selbst und von seinem Nächsten trennen. Die Aufgabe des Nichts besteht darin, die Bewegung auf das Andere zu und als solche auch das Gespräch zu ermöglichen. Das Nichts erscheint hier als eben diese «leere / gastliche Mitte» und wird zum Mittler, über welchen das Sein sich zeigen kann. Dichtung wird zu einer ethischen Handlung durch diese Bewegung zum Anderen, ohne ihre poetische Dimension zu verlieren. Die Verwandlung, die den Durchbruch zum Zusammentreffen mit dem Anderen ermöglicht, hängt eng mit der Negation und dem Verschwinden zusammen und bildet selbst das eigentliche Wesen des Nichts.

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Footnotes

  1. Israel Chalfen, Paul Celan – Eine Biographie seiner Jugend. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1983, S. 129.
  2. Ebd., S. 130.
  3. Ebd., S. 130.
  4. Ebd., S. 131.
  5. John Felstiner, Paul Celan – Poet, Survivor, Jew. Yale University, New Haven 1995, S. 225.
  6. Paul Celan, Gesammelte Werke. Bd. 1, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1975, S. 135.
  7. Paul Celan, Gesammelte Werke. Bd. 3, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986, S. 198.
  8. Ebd., Celan 1975, S. 244.
  9. Ebd., S. 242.
  10.  Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1957, S. 29.
  11. Ebd., S. 237.
  12. Ebd., Celan 1975, S. 198.
  13. Ebd., Scholem 1957, S. 286.
  14. Ebd., Celan 1986, S. 107.
  15. Ebd., Celan 1975, S. 219.
  16. Ebd., S. 217

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