Spannungen und Elastizität im Sozialwesen

Manfred Trautwein im Gespräch

Manfred Trautwein hat 22 Jahre lang als Geschäftsführer von ‹Anthropoi Bundesverband› das anthroposophische Sozialwesen in Deutschland miterlebt und geprägt. 2025 soll seine Nachfolge besetzt werden. Die Fragen stellte Jonas von der Gathen.


Jonas von der Gathen: Wie blickst du auf die Szene und was hat dir in deiner Rolle als Geschäftsführer geholfen?

Manfred Trautwein Das anthroposophische Sozialwesen befindet sich meiner Wahrnehmung nach in einigen Spannungsfeldern. Einerseits richtet es sich an Idealen aus, wie etwa den Menschenrechten oder einem spirituellen Weltbild, andererseits lebt es inmitten von gesellschaftlichen Realitäten, wie beispielsweise dem einseitigen Streben nach monetärem Wachstum und der fortgesetzten Steigerung wirtschaftlich verwertbarer Leistung – Faktoren, die exkludierend auf Menschen mit Assistenzbedarf wirken und unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstören.

Auch auf der operativen Ebene gibt es multiple Spannungen und Ambivalenzen, beispielsweise zwischen dem gesetzlichen Auftrag, Personenzentrierung und Sozialraumorientierung zu verwirklichen, und der stetig wachsenden Bürokratie sowie den mangelnden Ressourcen, seien es Mitarbeitende, Wohnraum oder Partnerinnen und Partner im Sozialraum.

In meiner langjährigen Arbeit half mir Rudolf Steiners Hinweis, sich die innere Elastizität zwischen Ideal und Wirklichkeit zu erhalten, um in solchen Spannungsfeldern weder die Orientierung noch die Kraft für Weiterentwicklung zu verlieren. Diese Spannungen möglichst klar zu beschreiben, zeigte mir oft, wo Veränderungsbedarf ist. Oft werden dann Energien für eine konstruktive Bewältigung freigesetzt. Ambivalenzen lassen sich auf der Ebene, auf der sie liegen, prinzipiell nicht lösen. Entweder findet sich eine Lösung auf höherer Stufe oder wir können nur dialogisch und graduell Verbesserungen erreichen.

Welche sozialpolitischen Auswirkungen durch das Zerbrechen der Ampelkoalition siehst du?

Die Ampel war im sozialen und menschenrechtlichen Bereich ambitioniert gestartet. Vor allem die FDP erschwerte oder verhinderte jedoch einige Gesetzgebungsverfahren. In den letzten drei Jahren wurde an wichtigen Gesetzgebungsverfahren gearbeitet, die nun wegen des Koalitionsbruchs nicht vollendet werden können. Verfahren, die in einer Legislaturperiode nicht abgeschlossen werden, müssen nach einer Bundestagswahl, falls sich der politische Wille dafür findet, neu begonnen werden. Das nennt sich ‹Diskontinuität›.

Das für junge Menschen mit Behinderung wohl wichtigste Vorhaben ist das Inklusive Kinder- und Jugendhilfegesetz. In den vergangenen zwei Jahren gab es dafür ein umfassendes Beteiligungsverfahren, in das auch der Anthropoi Bundesverband eingebunden war. Nachdem unsicher war, ob es wegen des Ampelbruchs nach dem Referentenentwurf weitergeht, hat das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf noch am 27. November 2024 beschlossen. Der Gesetzesentwurf müsste nun durch den Bundestag und den Bundesrat. Wahrscheinlich wird er im Bundestag keine Mehrheit finden. Das wäre das vorläufige Aus und viele Hoffnungen wären enttäuscht.

Für den Abbau von Benachteiligungen behinderter Menschen im privaten Bereich war im Koalitionsvertrag eine Reform des Gleichstellungsgesetzes vereinbart, was aber von dem von der FDP geführten Justizministerium verhindert wurde. Das von der SPD geleitete Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatte versucht, mit dem Behindertengleichstellungsgesetz, das sich eigentlich nur auf den öffentlichen Bereich bezieht, dagegenzuhalten. Aber auch das scheiterte an einem Veto aus dem Justizministerium. Eine vertane Chance für mehr Barrierefreiheit und Antidiskriminierung.

Mit einem Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes sollten sechs wichtige Verbesserungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben erreicht werden. Hier kam es trotz intensiver Beratungen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales nicht einmal zu einem Referentenentwurf. Ob diese Thematik von einer neuen Bundesregierung aufgenommen wird, hängt vom Ausgang der Bundestagswahl ab.

Was macht dir am meisten Sorgen im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe?

Das Erstarken der AfD in Deutschland hat auch in anderen Parteien die Unterstützung von Diversität, Inklusion und eines solidarischen Sozialstaates geschwächt. Sollte die AfD tatsächlich eines Tages auf Landes- oder Bundesebene mit in Regierungsverantwortung kommen, droht ein massiver Abbau des Sozialstaates und einer vielfältigen Kultur. Das zeigen die Erfahrungen aus Kommunen und Landkreisen, in denen die AfD Einfluss hat. Schaut man in das Grundsatzprogramm der Partei, so schlägt sie zum Beispiel die Abschaffung der Agentur für Arbeit vor, einer Organisation, die bundesweit auch für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung wesentlich zuständig ist.

Angesichts der vorgezogenen Bundestagswahl sollten wir uns mit aller Vehemenz für Freiheit, Vielfalt der Kultur, Menschenrechte und Solidarität einsetzen. Dies auch wegen der klimatischen Katastrophen, welche Transformationen auf gesellschaftlicher Ebene verlangen, die ohne Solidarität und tiefe Verbundenheit aller Menschen nicht zu machen sind.

2025 gibst du den Staffelstab weiter – welche Qualitäten wünschst du dir von einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger?

In jedem Fall geht es darum, fachliche, soziale und persönliche Kompetenzen zu vereinen, Veränderungsprozesse voranzubringen und gleichzeitig auch ‹Bewahrer› und ‹Bewahrerinnen›, mit ihren Werten und Perspektiven, einzubinden. Der Vorstand und unsere drei Bereichsleitungen werden die neue Geschäftsführung in ein herzliches und erfahrenes Umfeld einbetten. Ich möchte deshalb allen vielleicht noch Unentschlossenen Mut machen, sich für diese spannende und vielseitige Aufgabe zu bewerben.


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Bild Manfred Trautwein, Foto: Anthropoi

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