Soziale Bestäubung

«Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.


Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben.» (Schelling) Der Mensch ist also nicht nur ein vorübergehendes Aggregat von Mineralien, Flüssigkeiten, Gasen und kalorischen Prozessen, sondern trägt auch ein fünftes Prinzip, eine Quintessenz, die den bloßen natürlichen Bestimmungen überlegen ist und ihm seine eigentliche Würde verleiht. Diese Erkenntnis hat schwerwiegende Folgen für das Verständnis des Menschen und liefert die Grundlage für eine anthroposophische Erforschung, eine Noesis der in der äußeren Welt wesenden Geistigkeit.

Bernard Stiegler, während RoumicsRencontres Ouvertes du Multimédia et de l’Internet Citoyen et Solidaire »), Lille, 2014. Quelle: Lamiot, Wikimedia Commons

Innerhalb dieser äußeren Welt erscheinen auch die anderen Menschen. Auch sie tragen dieses Ewige in sich, diese Quintessenz, die zunächst verborgen bleibt. Sie kündigt sich als eine unantastbare Wirklichkeit an, der man sich nur mit Ehrfurcht annähern kann. Diese respektvolle Haltung eröffnet im Zwischenmenschlichen einen sakralen, religiösen Begegnungsraum, der nie vorgegeben ist und stets von meinem freien Willen abhängt. Durch ihn kann mitten im sozialen Leib der Menschheit eine neue Art von Befruchtung stattfinden, die der französische Philosoph Bernard Stiegler (1952–2020) im folgenden Bild zusammenfasste: Heute verhalten sich die Menschen überwiegend wie überbeschäftigte Ameisen, die sich durch digitale Pheromone bloß gegenseitig informieren. Wir sollten zu ‹noetischen Bienen› werden, die sich durch Erkenntnisprozesse (Noesis) gegenseitig bestäuben und befruchten, damit sich ein immer neues und freies Geistesleben bilden kann.

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