Olivier Messiaen heute – was bleibt

Vor 30 Jahren wurde sein letztes großes Orchesterwerk, ‹Éclairs sur l’Au-Delà› (‹Streiflichter über das Jenseits›), uraufgeführt. Messiaen hat dieses Ereignis am 5. November 1992 im Lincoln Center in New York nicht mehr miterlebt, er verstarb bereits ein halbes Jahr zuvor. Die Kompositionszeit erstreckte sich über die Jahre 1987 bis 1991.


‹Éclairs sur l’Au-Delà› steht als gut 65-minütiges Werk in seiner Art einmalig da. Ein finales Orchesterwerk mit großer Besetzung, gut 120 Musizierende sind gefordert, ein hervorragender Orchesterleiter desgleichen. Kein Routinegeschäft, eine exzellente musikalische Herausforderung steht an. Das Werk überzeugt durch sich selbst, wenn es denn zu einer Aufführung gelangt. Selten genug ist dies der Fall. Insgesamt nur sechs Aufzeichnungen liegen vor, die Beschäftigung außerhalb eines Konzerts bleibt also sehr eingeschränkt.

Zeitgleich mit der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 bringt das SWR-Sinfonieorchester ‹Éclairs sur l’Au-Delà› unter der Leitung von Ingo Metzmacher in Stuttgart zur Aufführung. Das Konzert beginnt mit einer Solidaritätserklärung für die Ukraine und einem kurzen orchestralen Zitat von Schiller/Beethoven, «Alle Menschen werden Brüder!» Im Orchester spielen Musizierende aus 21 Nationen friedlich und freundschaftlich zusammen. Das elfteilige Werk ‹Éclairs sur l’Au-Delà› von Olivier Messiaen (10.12.1908–27.4.1992) entfaltet in spontan fassbarer Weise eine Schwellenlandschaft von eindringlicher Intensität und Tiefe. ‹Lightning over the Beyond› oder ‹Illuminations of the Beyond› lautet der Werktitel in englischer Sprache, was das deutsche ‹Streiflichter über das Jenseits› bei Weitem nicht erreicht. Die einzelnen Stufen dieses musikalischen Stufengangs tragen Überschriften wie ‹Erscheinung des verklärten Christus›, ‹Die Auserwählten mit den Siegeln›, ‹Die sieben Engel mit den sieben Trompeten›, ‹Und Gott wird jede Träne von ihren Augen wischen …›, ‹Der Weg des Unsichtbaren›, ‹Christus, Licht des Paradieses›.

Gläubig geboren

Nach eigener Aussage wurde Messiaen ‹gläubig› geboren und fühlte sich zeitlebens eng mit dem katholischen Kultus verbunden. Über 60 Jahre lang versah er den Orgeldienst in der Sainte-Trinité inmitten von Paris. Er improvisierte zu den kultischen Handlungen. Dies nennt er seine eigentliche kompositorische Werkstatt. Meiner langjährigen Beschäftigung mit Messiaen folgend, komme ich zum Schluss, dass Messiaens Musik tief in spirituellen Fundamenten fußt und aus entsprechend unversehrten Quellen schöpft – trotz seines Eingebundenseins in diese konfessionelle Institution. Messiaen vermochte kraft seiner überzeugenden Wirkung seine so sehr unabhängige künstlerische Sprache in die Musikwelt hineinzutragen. Seine Sakralmusik bildet in jeder Hinsicht ein Unikum im Kontext gängiger Praxis und musikalischen Niveaus. Wie bei J. S. Bach gab es auch bei Messiaen keine Trennung von sakral und profan.

Die intensive Einbeziehung musikalischer Naturemanationen in Form unzähliger transkribierter und transponierter Vogelstimmen aus aller Welt gehört zum festen Bestand seines musikalischen Schaffens. Ebenso spielen die mannigfaltigen Farbenbezüge eine prägende Rolle, die er kraft seiner synästhetischen Fähigkeiten unentwegt in sein musikalisches Schaffen einbezieht. Seine umfangreiche schriftliche Hinterlassenschaft trägt den Titel ‹Traité de rythme, de couleur et d’ornithologie›, was die Gewichtung von Rhythmus, Farbe und Ornithologie klar positioniert. Wobei Tiefe und Autonomie dieser Ansatzweisen weit über dasjenige hinausgehen, was man sich so unter Kolorismus und Zitatentechnik im herkömmlichen Sinne vorstellen mag.

Die überzeugende Aussagekraft seiner Musik lässt keine Zweifel offen, dass da ein tiefgläubiger, hochspiritueller und musikalisch universalversierter Komponist am Werk ist. Weder die Niederungen biederer Sinfonik noch säkularisierter bzw. trivialisierter Sakralmusik spielen da herein. Messiaens Musik verwandelt im Nu einen Konzertraum in einen Mysterienraum und lässt übersinnliche Lichtwirkungen durch die Betonmauern dringen. Nicht gleißende LED-Scheinwerfer wie bei Stadionspektakeln, sondern sinnlich-übersinnlich ergreifende Licht-Klang-Bewegungswirkungen werden durch die musikalische Sprache Messiaens stimuliert und zur Einwirkung gebracht. Schleusen werden geöffnet, die vormals unerkannt geblieben sind, und musikalische Wirkung sondergleichen flutet herein.

Musikalisches Mysterium

Zeitgebundenheit an die Entstehungsperiode spielt kaum eine Rolle. Die spontan ansprechende Universalität dieser Musik ist evident. Dabei ist das Interessante, dass auch eine Art Ost-West-Gegensätzlichkeit wie aufgehoben erscheint. Messiaen sagt immer wieder, dass Menschen in asiatischen Gegenden sein bestes Publikum seien. Das hängt unter anderem mit seinem Rhythmusverständnis zusammen, das konsequent verzichtet auf durchschlagende Beats, gleichförmigen Takt, metrische Repetivität und sich damit radikal abhebt von westlich geprägten Musikkonformitäten. Dennoch handelt es sich um ein Rhythmusverständnis, das unter anderem auf klassisch-indischen Rhythmen beruht, also auf einem altehrwürdigen Fundament aus Weltkulturerbe fußt. Auch ohne solches Vorverständnis werden Hörende von dieser Klangsprache unmittelbar ergriffen und angesprochen und das Mysterienhafte, das über den Alltag weit Hinausreichende, wird unmittelbar spürbar, ohne Text und Erklärung. Mir erscheint dabei der Ausdruck ‹Musikalisches Mysterium› als zutreffend. Die Verwandlung der Beethoven-Arena in einen Mysterientempel, ja das Durchlässigwerden der physischen Begrenzungen für eine übersinnliche Tonkunst metasprachlicher Kraft und Verständlichkeit vollzieht sich. Damit werden auch die Grenzen einzelner Sprechsprachen überwunden und eine universale Sprache nonverbaler Art erhebt ihre Stimme.

Alle Erklärungen und Analysen fallen ab wie dürres Laub. Eine jugendliche Frische geht von dieser Klangsprache aus und schafft neben gewaltigen apokalyptischen Klangfresken auch immer wieder ausgleichende Wirkung im Sinne eines Weltenhumors durch die so überaus wunderbaren Vogelstimmen. Sie erscheinen eben nicht bloß als Ausstattungsgegenstände appliziert, sondern werden zu Inhalt und Sinn des Ganzen. Gelingt es, alles Musikwissenschaftliche, Katholische und sonst wie Interpretatorische abzustreifen, erfährt man einen frischen Wind aus ungeahnten Dimensionen, frei nach Stefan George bzw. Arnold Schönberg: «Ich fühle Luft von anderem Planeten […].» Messiaen vermag heute, im Angesicht tagespolitischer Ungeheuerlichkeiten, eben diese Schneise an Transzendenz zu schaffen, dieses Licht aus anderen Dimensionen hereinscheinen zu lassen, diese Kraft und Hoffnung zu befeuern, deren wir Menschen der Gegenwart so dringend bedürfen. Streiflichter über das Jenseits sind die wahren Kraftfelder, die einer gegenwärtigen Not und Hilflosigkeit so dringend nottun und deren Durchbrüche so überaus notwendig erscheinen.


Foto Rob Simmons von unsplash

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