Niemandsbuchten

Mit dem siebten, gerade erschienenen Band vollendet sich ein Werk von Stephan Ronner. 168 Klavierstücke laden zu innerseelischen und weltlichen Erkundungsgängen ein.


Wann ist ein Werk vollendet? Mit dem letzten Bleistiftstrich des Komponisten? Oder mit dem Erscheinen des siebten, letzten Bandes 2023 im Notensortiment der Edition Zwischentöne? Oder ergibt sich die Vollendung gar mit der handwerklich-musikalischen Durcharbeitung und Präsentation einer Pianistin oder eines Pianisten? Nun liegen jedenfalls 168 Klavierstücke von Stephan Ronner vor, die zwischen März 2020 und März 2023 entstanden sind. Nach meiner persönlichen Beschäftigung mit den ‹Niemandsbuchten› in und außerhalb der Musikpädagogik, der Lektüre mancher Vor- und Nachworte und persönlicher Begegnungen mit dem Ur-Heber komme ich zu dem Schluss: nichts von alldem!

Der Anfang, die Keimzelle war eine Suchbewegung, ein Antwort-Finden auf real gestellte Fragen der Zeit, ein Tasten ins Unbekannte, ins Niemandsland. Wegbegleiter und -begleiterinnen aus dieser oder vergangener, eventuell auch zukünftiger Welt schienen dem ein Ohr zu leihen, und der Ur-Heber entdeckte im Skizzieren und Schaffen unzählige neue Pfade und Spuren. In den sieben Bänden steht das Freilassend-Offene mit dem Bezug- und Kontaktsuchen in einem wechselseitigen Austausch. Verfolgt man den einen oder anderen Pfad, wird im besten Fall das Hören neu erfunden. Pianistisch leicht Bewältigbares wechselt sich mit noch zu erringenden Fähigkeiten ab. Aha-Erlebnisse stoßen an harmonisch-rhythmische Fragezeichen, Antipathieerlebnisse für den einen, Heimatgefühle für den anderen. Der Grundton dieser Klavierminiaturen bleibt die Offenheit und Freiheit der Interpretation – ja, sogar der Fortführung oder Ausgestaltung der Stücke. Werden in den ersten Bänden die kindlich-unschuldig Wandernden behutsam an die Hand genommen, tauchen in der Mitte des Zyklus immer mehr Buchten auf, die selbständig, jugendhaft erobert werden müssen. Das Wachsen – Erwachsenwerden – mündet schließlich bis zum siebten Band in Skizzen, bei denen die gesetzten Notenzeichen ohne Notenwertangaben nur als Anhaltspunkt für ein eigenverantwortliches, erwachsenes Wandeln in den ‹Niemandsbuchten› zu erahnen sind.

Wann also ist dies Werk vollendet? Nach über zweijähriger Beschäftigung – ohne Aussicht auf Ende oder Überdruss – würde ich sagen: immer dann, wenn Menschen diese Musik für sich entdecken und sich auf den Weg machen, sich biografisch damit zu verbinden. Es sei folgende These gewagt: Sind die ‹Niemandsbuchten› vielleicht ein Zusammenklang jahrzehntelanger Bemühungen Stephan Ronners als Musiker und Musikpädagoge an Waldorfschulen und am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart, Menschen aller Altersstufen über das künstlerisch-musikalische Element in eine tiefe biografische Entwicklungs- und Zukunftssuchbewegung zu bringen? Damit setzt er einen Kontrapunkt zu inflationärer Instant-Musik, die alle Buchten zu überfluten droht. Aus den ‹Niemandsbuchten› ist dagegen das rhythmische, gesunde, atmende Bewegen, gleichsam auf Ohrenhöhe, zu erlauschen. Musikalische Klimarettung!


Buch Stephan Ronner: Aus den Niemandsbuchten, Klavier-Skizzen, Band 1 bis 7. Edition Zwischentöne, Weilheim 2020 bis 2023

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