Nachklänge auf Wolfgang Wünsch

Der Mensch Wolfgang Wünsch (18.6.1926 Halle a. d. Saale † 17.4.2020 Bremen) verfügte über eine optimistische Lebenseinstellung, eine ständige Bereitschaft zum Lernen, Begeisterungsfähigkeit und echtes Interesse an der Welt und seinen Mitmenschen, bewundernswerte Menschenliebe und einen beeindruckenden Arbeitswillen.


Immer donnerstags kam er zu uns zum Mittagessen, unser Nachbar und Musiklehrer. Er brachte stets spannende oder lustige Geschichten aus Russland mit, denen meine Schwestern und ich hingebungsvoll lauschten. Was für Abenteuer er erlebt hatte, wie gut er das Land kannte und wie sehr er die Menschen liebte! Wir haben viel gelacht, sein Humor war ansteckend. Ohne bis jetzt dort gewesen zu sein, habe ich durch Wolfgang Wünsch tiefe Einblicke in die russische Kultur und Seele bekommen. Viel später erst begriff ich, dass unser Nachbar von Begebenheiten aus seiner vierjährigen Kriegsgefangenschaft erzählte.

Dass bei diesen Erzählungen kein Leid, keine Verbitterung durchschimmerten, waren weder Anzeichen einer simplen Positivität noch einer romantisierenden Umdeutung der Vergangenheit. Dass er noch bis kurz vor seinem Tod im April dieses Jahres für Gastepochen an Waldorfschulen und am Moskauer Waldorflehrerseminar als Dozent gefragt war, zeigt sein unglaubliches Engagement, seine Beliebtheit.

Ein deutsches Schicksal

In seiner Biografie zeigen sich verdichtet Signaturen des 20. Jahrhunderts. Geboren 1926 in Halle a. d. Saale in der Weimarer Republik, im Dritten Reich als Flakhelfer eingezogen, als Offiziersanwärter zur Frontbewährung zwei Wochen vor Kriegsende 19-jährig an die Front und gleich in Kriegsgefangenschaft geraten, verbrachte er vier Jahre in Astrachan (Russland). Nach seiner Rückkehr 1949 in das Halle a. d. Saale der DDR Abitur und Bewerbung um ein Mathematikstudium. Selbstgewählter Titel seiner Zulassungsarbeit: ‹Der Freiheitsbegriff bei Schiller›. Er wurde aufgrund dieser Arbeit nicht angenommen und bekam noch dazu den Bescheid, sich doch bitte gesellschaftspolitisch zu bilden, fiel immer mehr als kritischer Geist auf und entging, inzwischen als ‹Staatsfeind› registriert und zur Fahndung ausgeschrieben, knapp seiner Verhaftung durch die Stasi, indem er auf dem Fahrrad von Halle nach Westberlin floh.

Wolfgang Wünsch

Zufälle

Zur Musik kam er dann ‹aus Versehen›. Zum Mathematikstudium an der Freien Universität Berlin nicht angenommen, vertrieb er sich die Zeit im Lager in Berlin klavierspielend mit Mozart-Sonaten und Schubert-Impromptus. Die Lagerleitung wurde auf ihn aufmerksam und empfahl Wolfgang Wünsch ein Kirchenmusikstudium in Spandau. Unvorbereitet und widerwillig machte er die Aufnahmeprüfung, bestand und beschrieb im Rückblick den Moment, als die Kommission ihn fragte, ob er gedenke, Kirchenmusiker zu werden: «Ich dachte sofort ‹Nein›, sagte aber laut und deutlich ‹Ja›, und im Rückblick habe ich das neben mir stehend gesagt. Also es war ein ‹Ja›, das aus höherer Warte kam. Es war irgendwie gelogen, aber im geistigen Lebenslauf war es nicht gelogen. Ich wollte diesen Weg gehen. Sonst wäre ich nie zur Pädagogik und zur Musik gekommen.»

An der Kirchenmusikhochschule Spandau lernte er durch Jürgen Schriefer die Anthroposophie kennen und studierte zeitgleich mit diesem, mit Klaus Knigge und Christa Waltjen bei Ernst Pepping. Nach sieben Jahren folgte eine Episode des naturwissenschaftlichen Studiums in Freiburg i. Br., mit der er seinen ursprünglichen Impuls, Naturwissenschaften zu studieren, überprüfen wollte. Schnell wurde klar: Dies war nicht sein Weg. Nach Stationen als Lehrer an den Waldorfschulen in Stuttgart und Marburg baute er schließlich maßgeblich die Bonner Waldorfschule auf. Aus der ersten Ehe mit Erdmute Wünsch entstammt eine Tochter.

Der Pädagoge

Aus meiner Schulzeit in Bonn ist mir ein geflügeltes Wort in Erinnerung, wenn es Streitigkeiten auf dem Pausenhof gab. Man würde gleich ‹zum Lehrer Wünsch› gehen, um diese zu schlichten. Schon die Ankündigung wirkte befriedend. Das besondere Wesen des Gründungslehrers vereinte in sich unbestrittene Autorität, sanfte Klarheit und eine tiefe Wahrhaftigkeit.

Wolfgang Wünsch war ein Kämpfer: für das Kind, für die Zukunft dieser unsäglich bedrohten Welt, für die Qualitäten des Menschseins, für das Hören nicht nur der Musik, sondern auch der Botschaft, die uns im Ton erreichen will. Seine Waffen waren Wissen, diszipliniertes Arbeiten, Strenge und auch Sorgfalt gegen sich selbst, Offenheit, Humor, Fantasie, Liebe zum Mitmenschen, zur Welt als Schöpfung.

Er war kein Vielschreiber. Doch seine Werke haben Gewicht. ‹Menschenbildung durch Musik› ist nicht nur der Titel seines in sieben Sprachen übersetzten Standardwerks (1), sondern auch eines seiner zentralen Anliegen gewesen. Musikunterricht war ihm niemals Fachunterricht zur Vermittlung spezieller Inhalte, sondern immer ein Ort umfassender Bildung, der Geisterfahrung ermöglichen sollte. Durch die Altersstufen hindurch beschreibt er in seinem Hauptwerk einen improvisatorischen Übweg, der bei einer grundlegenden Phänomenologie (der Intervalle) einsetzt und sich in der Oberstufe ausweitet zu umfassendem Form- und Stilverständnis.

Die Musik

In der musikalischen Improvisation, der er ein eigenes Buch widmete (2), war er zu Hause und entwickelte sie in der musikalischen Pädagogik als zeitgemäße Methode. Ausgehend von Grundphänomenen wie Intervallen oder Kadenzen, suchte er nach daraus ableitbaren Improvisationsformen. Es ging ihm dabei um die Entwicklung der Fantasiekräfte, in denen der Mensch individuell tätig ist mit dem Ziel der Schaffung eines individuellen Freiraums, in dem das Unvorhergesehene oder ‹Unvorhergehörte› zur Erscheinung kommen kann.

Die Kompositionen von Wolfgang Wünsch umfassen Liedsätze und Chorstücke sowie mehrere gerne aufgeführte Kinderopern. (3)

Die Kinder

In seinem letzten Buch (4) ‹Es ist an der Zeit. Eine junge Generation sucht nach einem neuen Verhältnis zur Schöpfung›, das er noch wenige Monate vor seinem Tod fertigstellte, verdichtet sich sein pädagogisches Anliegen wie in einem Vermächtnis, als Appell an die Nachwelt: Es geht heute darum, den Impulsen der nachkommenden jüngeren Generationen Gehör zu schenken. Diese lauschende, hinhörende Haltung war Wolfgang Wünsch zeitlebens eigen. Jeder Tag, jeder Mensch waren ihm eine neue Erkenntnis. Nichts Belehrendes hatte er, immer ging es ihm darum, Festgewordenes zu hinterfragen, scheinbare Gewissheiten auf ihre Gültigkeit abzuklopfen und nach neuen, stimmigeren Wegen zu suchen. Diese experimentierende Grundhaltung, in Verbindung mit einer nie nachlassenden staunenden Ehrfurcht vor den musikalischen Grundphänomenen und einer im besten Sinne frischen und erfrischenden kindlichen Begeisterung, machten ihn zu einem beliebten und gern gesehenen Lehrer, Dozenten und Mitmenschen. Wolfgang Wünsch wird fehlen – mögen seine Impulse nachhaltig wirken, aufgegriffen und weitergeführt werden.


(1) Wolfgang Wünsch, Menschenbildung durch Musik. Der Musikunterricht an der Waldorfschule. Stuttgart 1995.
(2) Wolfgang Wünsch, Musikalische Improvisation. Peter-Michael Riehm Institut PMRI-Schriften Bd. 1, Stuttgart 2012.
(3) Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Barbara Wünsch konzipierte er u. a. die Kinderopern ‹Des Königs Beruf›, ‹Tair und Dshafira›, ‹Des Teufels Schwiegermutter› und ‹Albolina und die Bregostena›. Aufführungsmaterial der Kinderopern im Vertrieb der edition zwischentöne.
(4) Wolfgang Wünsch, Es ist an der Zeit. Eine junge Generation sucht nach einem neuen Verhältnis zur Schöpfung. 2. Auflage Weilheim/Teck 2020.

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