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Mutter- und Vaterschaft in der Waldorfschule

«Keine einzige Frage der Gegenwart lässt sich verstehen, wenn man nicht weiß, wovon bei den alten Griechen die Rede war», erklärt der Philosoph Georg Picht.


Es lohnt sich also, bei der Frage, wie Schule heute gelingen kann, ebenfalls dort hinzuschauen, wo Pädagogik, wo das berufsmäßige Führen (agōgós) der Kinder (paidós) seinen Anfang genommen hat. Der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen beschreibt in seinem Buch ‹Vaterschaft›, dass in Griechenland die berufsmäßige Pädagogik aus der Beobachtung begründet wurde, dass die Familie als Erziehungsort zu schwach sei. Die Mütter verwöhnten, die Väter versagten, weshalb mit Lehrerin oder Lehrer nun eine zweite Vaterschaft zum Zuge kommt, die all die Kulturtechniken vom Reden, Lesen und Schreiben vermittelt. Vielleicht ist dieses imaginäre Vaterbild auch daran schuld, dass die Schule zum Ort des Bewertens, Prüfens und oft sogar Strafens wurde. Mit der Waldorfschule kommt die Mutterschaft in die Schule, denn Rudolf Steiners Ruf bedeutet, nicht mit Ehrgeiz oder Angst, sondern mit den Mitteln der Liebe zu unterrichten.

Die Vaterschaft, die bedeutet, in die Welt von heute und – in einer sich wandelnden Welt – noch mehr in die Welt von morgen hineinzuführen, bleibt dabei bestehen. So wichtig es ist, die Kinder in der Unterstufe durch Medienabstinenz vor Überforderung, Entfremdung und Entsinnlichung durch Medienkonsum zu schützen, so wichtig ist der verantwortungsvolle und souveräne Umgang mit medialer Technik in der Oberstufe, um sich zu dieser Souveränität aufzuschwingen. Edwin Hübner empfiehlt beispielsweise in seinem Artikel, dass man in der Oberstufe einen Film produziert haben sollte, um diese mediale Selbständigkeit zu gewinnen. Wenn heute von Lernbegleitung statt Stoffvermittlung die Rede ist, dann kommt vielleicht zur Mutter- und Vaterschaft auch noch die Bruder- oder Schwesterschaft hinzu. Dann ist eine ganze zweite Familie im Klassenzimmer da.


Titelbild: Schulheftseite, Freie Waldorfschule Heidelberg, 1988

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