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Man muss die Schüler mit der Vielfalt der Stoffe konfrontieren

Vor vier Jahren trat der Bildungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer mit einer scharfen Kritik an der seit dem Jahr 2000 von der OECD im dreijährigen Turnus durchgeführten PISA-Studie zur Erhebung der Lesekompetenz, der mathematischen Kompetenz sowie der naturwissenschaftlichen Grundbildung 15-Jähriger an die Öffentlichkeit – Tausende Bildungsbewegte aus der ganzen Welt unterzeichneten seinen ‹Offenen Brief›. Wie ging es seither weiter?


Guten Morgen, Heinz-Dieter, willkommen hier im Berliner taz-Café. Es sind mittlerweile vier Jahre vergangen, seit du den ‹Offenen Brief an Andreas Schleicher›(1) initiiert hast, der im April 2014 im ‹Guardian› erschien und auch in Deutschland weite Kreise zog. Einige Monate später sind wir uns in Albany zum ersten Mal begegnet für ein Interview.(2) Wie hast du die PISA-Welle und die kritischen Stimmen dazu seither erlebt?

Ja, trotz Kritik von vielen Stellen treibt die OECD die PISA-Welle mit großer Energie weiter. Die neuesten Pläne sind, innerhalb der nächsten 20 Jahre die ganze Welt in das PISA-System einzugliedern, also praktisch alle Schüler der Welt mit diesem einen Maßstab zu testen. Unsere Kritik war ja auch, dass mit diesem einen schmalspurigen Maßstab ganz unterschiedliche Dinge getestet werden, von Peru bis Finnland, von Japan bis Griechenland, das sind ja so viele unterschiedliche Kulturen und Traditionen. Eine andere Entwicklung ist das, was man so lose ‹Edu-Business› nennt, also der ganze Komplex privater Firmen wie Pearson und McGrawHill – es gibt davon etwa ein halbes Dutzend, die global operieren und die PISA in vieler Hinsicht als Trojanisches Pferd benutzen. Die klopfen also an die Tür und sagen den Regierungen: Die Defizite, die PISA aufgedeckt hat, die können wir beheben … ihr allein seid dazu nicht in der Lage. Denn diese viele Testerei, das verschlingt Kapazitäten, die die meisten öffentlichen Schulverwaltungen nicht haben.

Und die kritischen Stimmen?

Es gab auf den Brief hin eine große Unterstützungswelle und insgesamt fast 4000 Unterschriften, es gab ein großes Presse-Echo und sogar wissenschaftliche Veranstaltungen zum Offenen Brief. Ich erinnere mich an einen Brief aus Italien, in dem eine Lehrerin sagte, das sei das erste Mal, dass diese vermeintliche technokratische Neutralität von PISA infrage gestellt wird. Bis dahin war PISA in den italienischen Medien unhinterfragt als technisch neutraler Beurteilungsrahmen für Schulqualität akzeptiert.

Es ist auch verführerisch – ich hab’s ja in der Waldorfbewegung gesehen. Die musste sich geschichtlich immer aus einer Minderheitenposition heraus rechtfertigen, wieso ihr Bildungsansatz ein guter ist. Da war man heilfroh, mit PISA endlich einmal zeigen zu können, dass die Waldorfschüler in Mathe sogar besser abschneiden als der Durchschnitt – Kritik an der Studie als solcher wurde kaum laut.

Na gut, wenn ich Lehrer an einer Waldorfschule wäre, würde ich mir das auch nicht entgehen lassen, das auf diese Weise zeigen zu können! Trotzdem: Dass die OECD so was wie ein Bentham’sches Panopticon im Erziehungswesen, und zwar auf globaler Ebene, aufbaut, das halte ich nach wie vor für sehr gefährlich. Ebenso das, was man im Englischen ‹mental uniformity› nennt – also die Verbreitung einer geistigen Uniformität, ohne die sich kein Tyrann der Welt an der Macht halten kann, was von John Stuart Mill und Tocqueville und Humboldt sehr deutlich gesehen wurde.

Dennoch hast du davon Abstand genommen, dich weltweit als ‹Mister Anti-PISA› zu inszenieren …

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Aus der reinen Ablehnung kannst du keine positiven Alternativen konstruieren!

Das wäre auf die Dauer doch etwas monoton. Aber vor allem: Aus der reinen Ablehnung heraus kannst du keine positiven Alternativen konstruieren! Ich denke, es ist wichtiger, die Frage der Erziehungsziele neu zu reflektieren. PISA ist Teil eines technokratischen Bildungskonzepts, also der Idee, dass die Leute eben ein gewisses Maß an abfragbaren Kenntnissen und Fertigkeiten erwerben müssen. Und das ist ja auch völlig klar, dass das ein wichtiger Teil der Bildung ist. Aber was wir nicht reflektieren, ist, dass es unheimlich viele ‹schlaue Dummköpfe› gibt, ‹smart fools›, ‹Fachidioten›. Also Leute, die den Standards unseres Bildungssystems entsprechend unheimlich erfolgreich waren, vielleicht mit 1,0 abgeschlossen haben, und dann später in den Schlagzeilen landen, weil sie mit sich selbst nicht klargekommen sind. Oder ein VW-Manager, der den Abgasbetrug abzeichnet. Aber was sie nicht gelernt haben, sind Sachen, die mit technischer Intelligenz nichts zu tun haben, sondern mit ganzheitlicher Intelligenz. Der Begriff, der mir am angenehmsten ist, obwohl er im Deutschen vielleicht ein bisschen ausgelatscht klingt, ist: Weisheit. Wenn man wirklich zurückschaut, was Menschen wie Aristoteles und Augustinus und Humboldt und wohl auch Steiner als Erziehungsziel anstrebten, die Fähigkeit zu einer Lebensführung, die mich zu innerer Ruhe und äußerem Frieden befähigt. Wo man nicht von Unruhe, Geld- oder Machtgier angetrieben ist. Dazu gehört auch die Fähigkeit, nach innen zu schauen, während eben im konventionellen Schulalltag die Außensicht völlig überbetont wird.

Und was könnten deiner Meinung nach pädagogische Mittel sein, um diese Innensicht zu fördern?

Eine Sache, die diesem Fachidiotismus Vorschub leistet, ist die reine Kopf-Schule. Also wenn man Leute ausbildet, bei denen es wirklich nur um die kognitiven Fähigkeiten geht, und alles andere vernachlässigt. Wir haben als Menschen verschiedene Sinne, damit auch ein Sinn den anderen korrigieren kann. Aber dazu muss man eine Ausbildung haben, die mit mehr Materialien umgeht als mit einem Computer oder vielleicht Papier und Bleistift, obwohl das Letztere heute schon eine Seltenheit ist! Man muss die Schüler wirklich mit der Vielfalt der Stoffe konfrontieren, was die Waldorfpädagogik ja macht. Und am Ende führt das dazu, dass das Kognitive auch vertieft wird, denn wenn ich sehe und fühle, dann frage ich auch anders. Ich lese gerade wieder in den Gesprächen Goethes mit Eckermann. Da ergehen sich die beiden über das Bogenschießen und das Anfertigen von Pfeil und Bogen, das geht über vier, fünf Seiten, in die feinsten Details – das hat mich wirklich fasziniert, als ich das gelesen habe, denn man könnte ja meinen, große Geister geben sich nicht mit Fachfragen ab. Es gibt ja dieses Wort von Goethe: Jedes Naturphänomen, richtig verstanden, schafft ein neues Organ der Wahrnehmung im Wahrnehmenden.

Wir hatten gerade an unserer Schule in Görlitz einen erfahrenen Waldorf-Chemielehrer zu Gast, der in Versuchsreihen zeigte, wie der Zucker mit der Stärke und mit der Zellulose verwandt ist. Die Schüler waren begeistert! Sie konnten wirklich sehen, tasten, riechen, schmecken. Die Ausrüstung fürs Chemiekabinett haben wir übrigens von einer benachbarten Schule geschenkt bekommen – dort werden nämlich nur noch Videos von Versuchen gezeigt.

Ja, das ist die generelle Entwicklung. Vor allem in den USA wird das immer als ein Riesenfortschritt gefeiert, wenn jetzt die Zweitklässler alle schon ein iPad auf ihren Schulbänken haben und wenn man so früh wie möglich diese iPads auch schon benutzt, die Hausaufgaben darauf gemacht werden. Aber das führt in Wirklichkeit zu einer Verengung der Sinneswelt und verwandelt uns so ein bisschen in Monaden.

In den Vorträgen, die wir organisieren, bieten wir den Referenten immer eine schwarze Tafel und bunte Kreide an. Ich liebe dieses Instrument, ich denke, es ist überhaupt nicht antiquiert!

Powerpoint beraubt den Lehrer jeglicher Spontaneität. Ohne die gibt es aber keine Begeisterung beim Unterrichten. Wenn ich Powerpoint anmache, ist immer alles schon geklärt. Es gibt keine Ambivalenzen, es gibt nichts Offenes, das zum Fragen einlädt. Wenn man jedoch an die Tafel schreibt, dann sind alle aufgefordert, innerlich am Ball zu bleiben, mitzugehen.

Und dann können Gespräche stattfinden, die Energie freisetzen.

Ja! Und genau das ist absolut gefährdet. Denn wenn für jede Unterrichtseinheit ein Lernziel da sein muss, muss es auch abfragbar sein, und sobald sich dann eine Kluft auftut zwischen Lernziel und Testresultat, dann muss das Modul geändert werden. Und weil der Lehrer das allein nicht kann, können dann scheinbar wieder nur die E-Learning-Systeme von Pearson dabei helfen. Das ergibt den ganzen Teufelskreis, der wirklich am Ende die Industrialisierung der Pädagogik und des Unterrichtens zur Folge hat.

… und das können wir nun wirklich nicht wollen, wir bleiben also dran!


Heinz-Dieter Meyer

Geboren 1952, Soziologiestudium in Göttingen, PhD an der Cornell University, usa, Soziologe und Bildungswissenschaftler an der New York State University. Tätigkeiten u. a. an der Universität Peking, der Boston University und dem East-West Institute, Honolulu, zahlreiche Veröffentlichungen. Seit den 1990er-Jahren Forschung und Vortragstätigkeit zur Rolle der Zivilgesellschaft im Bildungswesen. 2013 Herausgabe des Bandes ‹pisa, Power, and Policy› als kritische Reflexion und umfassende Aufarbeitung der pisa-Studie – 2014 folgte recht spontan der ‹Offene Brief›, der auch von Diane Ravitch, Noam Chomsky und Silja Graupe unterschrieben wurde. Einige Thesen seines 2016 erschienenen Buches ‹The Design of the University: German, American, and ‘World Class’›, u. a. zur Aktualität des Bildungsbegriffs Wilhelm von Humboldts, wurden auch am Kongress ‹Geist & Kapital› (www.geistundkapital.de) im Oktober 2016 an der Freien Waldorfschule Berlin Mitte vorgestellt. 

Heinz-Dieter Meyer wird voraussichtlich bei der Bildungskonferenz im Markhof in Wien (siehe Goetheanum 12–13 · 2018) an Pfingsten 2019 mitwirken. 


Zeichnung Teo Vadersen

(1) http://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2014/05/offener-brief-schleicher-autoriserte-fassung.pdf

(2) Das erwähnte Gespräch erschien in ‹Erziehungskunst›, Januar 2015, und ist im Internet nachzulesen: www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/wider-die-bildungsdiktatur-durch-pisa

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