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Macht und Christentum

Der Urimpuls des Christentums und die irdischen Machtverhältnisse pflegen eine sichtbare und eine unsichtbare Beziehung. Innerlichkeit und Form, die Form des Regierens, stellen eine allgegenwärtige Frage.


Will man den Kern, das Herz des christlichen Impulses charakterisieren, kann man es gut mit den Worten Rudolf Steiners zum ‹Fünften Evangelium› machen: «Von der göttlichen Machtfülle bis zur Machtlosigkeit, das war der Passionsweg des Gottes. […] Aus diesen Schmerzen herausgeboren ist die allwaltende kosmische Liebe […], die ähnlich geworden ist dem Menschen, ähnlich einem menschlichen Leibe, und die durchmachte das unendliche Leiden […], die durchmachte den Augenblick der höchsten, göttlichen Ohnmacht, um jenen Impuls zu gebären, den wir dann als Christus-Impuls in der weiteren Evolution der Menschheit kennen. – Das sind die Dinge, die wir ins Auge fassen müssen, wenn wir den tiefen Sinn verstehen wollen, die ganze Bedeutung des Christus-Impulses, wie sie wird verstanden sein müssen in die Zukunft der Menschheit hinein.» (3.10.1913 Kristiania) – Macht wird Ohnmacht und dadurch verwandelt sich die allwaltende kosmische Liebe in eine menschliche Möglichkeit. So will der christliche Impuls für die Zukunft verstanden werden, damit unsere Kultur «auf ihrem Entwicklungspfade» (s.o.) weiterkommen kann. Der wahre christliche Impuls ist die Geburt der Liebe aus der Ohnmacht, sodass klar wird: Macht ist gerade das Umgekehrte!

Geist der Enge

Steht man vor den äußeren Formen des Christentums, dann hat man es mit Machtstrukturen zu tun, die ihren irdischen, politischen Platz und Schauplatz in der Welt- wie der Innenpolitik suchen. Ihr Wille zur Macht, ihre Notwendigkeit, sich zu behaupten, indem sie die Bahn bestimmen, indem sie zeigen, ‹wo es hingeht›, in anderen Worten ihr Wille, anderen Menschen ‹das Richtige beizubringen›, erscheinen in der Weltgeschichte als missionarische Arbeit, als Religionskriege und Verfolgung. Als gutes Beispiel der Hässlichkeit, die diese Vermischung hervorbringt, kann uns der Dreißigjährige Krieg dienen (1618–1648), in dem nach manchen Schätzungen die Bevölkerung Deutschlands um rund 40% geschrumpft ist. Wie man darauf auch schauen will, die äußere Form einer Religion, einer Weltanschaung und einer Gesellschaft besteht immer aus hierarchischen Strukturen, die Machtpositionen erschaffen und so zwangsläufig, ob offiziell oder nicht, in Parteipolitik münden. Da dies eine Merkmal jeder organisierten Religion ist, ist klar, dass es nicht aus dem Wesen des Christentums hervorgeht, sondern eher ein menschlich allzumenschlicher Zug der Menschheit ist.

Wir können es, wenn wir wollen, auch als einen ahrimanischen Aspekt des Menschseins bezeichnen, der aus den Fugen geraten ist. Ist der ‹Geist der Enge› nicht mehr da tätig, wo es notwendig ist, dann breitet er sein Bedürfnis nach Kontrolle und Kraft, das berechtigt ist, solang es um eine tragende Härte geht, über seinen Bereich hinaus aus. Er entfaltet eine physikalische Realität innerhalb der Seele, in der es um Kräfte, um stark und schwach geht, in der der Wille zu tragen, berechtigt im Bereich der Steine, zum Willen zu bestimmen wird. Oder wie es Ahriman selbst durch Friedrich Nietzsche schildert, er wird zum Willen zur Macht: «Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen.» (Kritische Studienausgabe, Nachgelassene Fragmente 1875–1879 8, S. 425) Gefasst schildert Nietzsche die drei Kräfte, die eine ahrimanisierte Politik bezeichnen: Furcht, Macht, Meinung. Es sind gerade diese drei Elemente, die eine geistige, also innerliche, esoterische Bewegung oder ein solches Bestreben in eine äußere, politische, exoterische Organisation verwandeln.

Nur im ‹Ich bin›

So betrachtet wird klar: Der christliche Impuls in seiner Realität, der aus der Ohnmacht geboren ist, kann sich nicht als Macht, Machtposition oder Machtspiel etablieren. Das Aufopfern der Allmacht, das der Möglichkeit des Wirkens Sich-Entziehen, das Verzichten auf das verführerische ‹Recht›, dem anderen zu sagen, wie er sich verhalten soll, das Nie-Moralisieren («Wer von euch noch nie gesündigt hat, soll den ersten Stein auf sie werfen!» Joh. Kapitel 8-7), das sind die Quellen des Christlichen in seinem verborgenen Wahrsein, also die Quellen des esoterischen Christentums. Das esoterische Christentum, dieser Unterstrom der Menschheitsentwicklung, der von Quelle zu Quelle und von Fluss zu Fluss durch Manichäertum, Gral, Rosenkreuzertum und Anthroposophie strömt, lässt sich charakterisieren als ein tiefer, kategorischer und radikaler Verzicht auf Macht, auf Machtpositionen, Machtspiele und Machtpolitik.

Im Unterschied zu anderen und älteren Einweihungspraxen, die sich dem Kosmos zugewendet haben, findet die christliche Einweihung ihren höchsten Moment in dem Erlebnis des «Christus in mir», des Christus-Werdens. Dieses Erlebnis kennzeichnet sich als in der ‹Nachfolge Christi› Sein, als das Erleben von dem, was ‹er› erlebt hat. Es bedeutet, dass wir nach einer Umwandlung in der Seele streben, der Macht zur absoluten Ohnmacht, die dann zum Erfülltsein vom verwandelten Machtstreben wird, das wir als das Geistselbst, als den Heiligen Geist oder in Steiners Worten als die «allwaltende kosmische Liebe» bezeichnen. Im esoterischen Christentum haben wir es mit einem Aspekt der Menschheit zu tun, der sich zum Rest der Welt so verhält wie die Meditation zum Alltag. Wir haben es mit einem ‹Moment› zu tun, der sich befreit von der Notwendigkeit des Sagens, des Handelns, des Politisch-Seins, mit einem Bereich, in dem nur aus dem vollkommenen Verzicht auf Macht, nur aus dem eigenen inneren Tun heraus etwas blühen kann, etwas beginnen kann, was frei ist von Machtspielen, was nur in dem ‹Ich bin› begründet ist.

Offizieller Austritt

So verstanden ist jeder Versuch, an die Macht zu kommen, jedes Etablieren des politischen Spiels, jedes demokratische Verfahren ein unmittelbares Aussteigen aus dem Strom des esoterischen Christentums. Die einzig mögliche gesunde Beziehung zwischen der Machtstruktur eines organisierten demokratischen oder nicht demokratischen Systems und dem esoterischen Leben ist die eines ‹guten Willens›. In dem Augenblick, in dem die Geister des ‹guten Willens› vertrieben werden, um, ob im Name der ‹Wahrheit›, der ‹Reinheit› oder anderer Argumente, der Interessenvertretung Platz zu machen, entzieht sich die wahre Innerlichkeit, in unserem Fall das esoterische Christentum, und taucht wieder in den Schutz des Schattens und Schweigens. Das Politisieren einer Handlung verweist das Individuelle wie auch ganze Menschengruppen oder Organisationen neben anderen politischen – wenn auch manchmal scheingeistigen – Organisationen auf ihren berechtigten Platz in der physischen Welt. Der Moment, in dem das Handeln an Interessengruppen und parteibildende Elemente gebunden wird, unabhängig von berechtigten oder unberechtigten Meinungen, gleicht dem Akt eines offiziellen Austretens aus dem Verbund der Geister.

Es ist, als ob wir als Individuen, Gruppen oder Organisationen ein offizielles Papier im Geiste unterschrieben hätten: «Hiermit schließen wir uns aus dem esoterischen Christentum aus, um unseren Machthaushalt in die Welt zu setzen. Jetzt sind wir wie alle ‹fortgeschrittenen› Menschen eine Demokratie mit einer klaren Machtstruktur.» Für die Seele, die ihr Zuhause im esoterischen Christentum hatte, klingen im Geist die Worte mit einem umgekehrten Sinn: «Es ist vollbracht.» Der Sturz, der in der noch wachen Seele erlebt wird, wenn sie sich zutraut, ihre Erlebnisse anzuschauen, gleicht einer tiefen esoterischen Scham. Hier helfen keine grundlegenden Verzeihensmeditationen, weil man wirklich nur sich selbst gegenüber schuldig ist. Hier muss jeder für sich zugeben: Wir haben uns unendlich verirrt, es ist menschlich, göttlich ist es nicht.


Bild: Eine vorbereitende Metamorphoseübung von Zvi Szir

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