Kritische Liebesbriefe an die Anthroposophie

Ein Buch über unseren fragwürdigen Umgang mit Deutungshoheiten, Ansprüchen und doch nicht so ganz freien Seelenregungen in Bezug auf die Anthroposophie und ihr lebendiges Wesen.


In der alten, aber im Zeitalter rasender E-Mail-Kommunikation vielleicht wieder zu entdeckenden Form von Briefen hat Mathias Wais ein Buch über seine langjährige persönliche Beziehung zur Anthroposophie geschrieben. Schon in dem Kunstgriff der Briefform steckt ein deutliches Bekenntnis: Hier wird Anthroposophie zu einem vertrauten Gegenüber, mit dem man Dialoge führen kann. Das vielleicht mit den Jahren etwas abgenutzte Wort von der Wesenhaftigkeit der Anthroposophie wird hier selbstverständlich und alltäglich: Soll man diese außergewöhnliche Freundin mit ‹Sie› oder ‹Du› anreden? Aber nicht nur die Möglichkeit einer direkten Ansprache wird durch die Form des Briefs befördert, sondern auch die wohltuende Langsamkeit der mit ihr verbundenen Erzählweise. Fast nach jedem der kurzen Kapitel gibt es beispielsweise ein kursiv gedrucktes Postskriptum – oft eine weitere überraschende Mitteilungsebene, die sich offenkundig aus dem vom Briefautor vorgenommenen Durchlesen des Geschriebenen ergeben hat.

Gefühlsdramen

Und fast wie von selbst bleibt Anthroposophie hier nicht mehr nur ein Gegenstand des Erkennens, sondern gewinnt den ganzen Reichtum emotionaler Beziehungsschichten hinzu. So beginnt etwa der sechste Brief mit der Aussage: «… offen gestanden tat mir dieser sektiererische Gestus immer schon leid für Dich: Denn wie kannst Du, die Anthroposophie, lebendig bleiben, wenn man nicht über Dich debattiert …?» (S. 21) Verstärkt wird diese Seite des Buchs durch die Figur der ‹Tante Alberta›, einer liebevoll karikierend gezeichneten Gesprächspartnerin des Autors, die in ihrem bewahrenden Grundhabitus der Veränderungslust des Autors mit einer weiteren Farbe des Möglichen im Verhältnis zu Rudolf Steiners Geisteswissenschaft entgegentritt.

Beim Lesen waren denn auch schnell meine eigenen Gefühlsdramen aus der mehr als 40-jährigen Beziehung zur Anthroposophie, zu ‹den Anthroposophen› und zu Rudolf Steiner selbst präsent, sodass ich mir das Buch gleich ein zweites Mal vorgenommen habe, um besser zwischen meinen eigenen ungeschriebenen Briefen und dem unterscheiden zu können, was Mathias Wais zu Papier gebracht hat. Erstaunlich, wie stark die Gefühle bei der Auswahl von Wahrnehmungsperspektiven beteiligt sind.

Mit der Multiperspektivität ist auch bereits ein Kernbereich der Aussagen angesprochen, um die es Wais offenbar geht. Brief Nummer elf spricht als Frage zum ersten Mal eine denkbare Auffassung an, die danach noch mehrmals aufgegriffen wird: «Verehrte Freundin, könntest Du Dich eventuell darauf einlassen, Dich selbst vergleichbar einem Kunstwerk oder einer Kunstrichtung als eine Inspirationsquelle zu sehen, als eine unter mehreren, statt als alleinige Eigentümerin endgültiger Wahrheiten? Du, die Anthroposophie, als Kunstwerk?» (S. 37) Der Briefschreiber sehnt sich dabei nach einem Akt künstlerischen Nachschaffens im Anerkennen vielfältiger Zugänge, um Aneignung und Individualisierung dessen, wozu Anthroposophie anregen kann und will, nicht um ein stumpfes Repetieren fertiger Wahrheiten. Sein Ideal ist nicht die Wahrheit als solche, sondern die durch den dialogischen Prozess mit Aspekten der Wahrheit mögliche Sinnstiftung.

Hofnarr oder Weltenhumor

Dieses Anliegen trägt Mathias Wais jedoch nicht in nüchterner Sachlichkeit vor, sondern ergreift dafür die Rolle des klassischen Narren. Am königlichen Hof war der systemfremde Außenseiter einer, der seine Weisheit im Gewand von Provokation, Verstörung und nicht immer feinem Humor zu verbreiten wusste. So werden die Lesenden auf (fast) jeder Buchseite mit Wendungen konfrontiert, die auch unerwünschte Gefühle hervorrufen. Dazu gehörten bei mir: heftiger Widerspruch (vom Narren erwünscht), verschämte Zustimmung (ebenfalls erwünscht), Enttäuschung bis hin zum Zorn (wohl leider auch erwünscht). Das subversive Anliegen humoristischer Übertreibung und provokanter Vorschläge wendet sich im Sinne alchemistischer Seelenverflüssigung, die das Wort ‹Humor› ja ursprünglich bedeutet, gegen alles allzu fest Bestehende: gegen Gläubigkeit und Abschottung, gegen starre Strukturen und überflüssige Hierarchien, vor allem aber gegen eine Deutung der Anthroposophie als eines fertigen und damit zur Entwicklung unfähigen Lehrgebäudes.

Das finden Sie weder radikal noch neu? Dann vielleicht diese Überlegung aus dem Schlusskapitel, das sich dem fantasierten 90-jährigen Rudolf Steiner zuwendet: «Hätte er sich mit seiner dritten Ehefrau Lucie Steiner in Dornach, unten im Dorf, eine kleine Wohnung gemietet, wo sie gemeinsam Musikstücke komponiert hätten, welche die geistige Welt berühren? Oder wären sie jede Woche auf seiner Harley zum Tango-Kurs nach Basel gefahren?»


Buch Mathias Wais, Ach Du liebe Anthroposophie, Briefe an eine Freundin, Info3-Verlag, Frankfurt a. M. 2020

Grafik: Fabian Roschka

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