Kabbala und Anthroposophie

In acht Kapiteln schildert János Darvas Wege möglicher Begegnung zwischen der Kabbala – der jüdischen Theosophie – und anthroposophischen Ideen.


Das kleine, sorgfältig gestaltete und ausgestattete Buch vermittelt aufgeschlossenen Lesenden eine Sinnsphäre der Toleranz, aber auch der Eindringlichkeit geistiger Kontakte und Verständigung. Jüdische Kabalistik ist aktuell: Es ist in seiner Geschichte und in seinen überlieferten Glaubensformen menschheitsweit unentbehrlich. Die vom Verfasser achtfach geschilderten Geisteswege des Judentums sind kein Kommentarwerk, sondern harren des persönlichen Nachvollzugs durch die Lesenden. Als Beispiel hier die Abschnitte 4 und 5 in Kürze.

Ein ewiger Bund?

Die Sinai-Offenbarung als menschheitsweite Theophanie ist Keim der Freiheit, nicht der Bedrückung. Die menschliche Seele gehört Gott, deshalb ist jeder Mensch frei, wenn er Gott in der Thora begegnet. Der Sinai-Bund bedeutet Partnerschaft, deshalb ist die Entgegennahme der Thora ein Vorgang sich entfaltender Freiheit in der Menschheit. Die Thora ist kein Dekret, sondern Teil göttlicher Emanation. Die Kabbalisten sprechen «von der obersten Welt – atzilut – als der Welt der Emanation Gottes, welche der Welt der Schöpfung – beria – vorgeordnet ist. Dieser folgen die Welt der Formungen – jetzira – und als unterste die Welt des Tuns – assia.» Damit sind die Entstehung der Thora und die Geschichte des Bundesvolks Israel mit dem Weltenwerden verbunden. In kabbalistischer Sicht können die beiden Gesetzestafeln vom Sinai mit den beiden Bäumen des Gartens Eden in Zusammenhang gebracht werden. Die Tafeln sind Zeugen der Weisheit (chochma).

Lebensbaum und Jakobsleiter

Die Lehre von den zehn Sefirot ist «ein Herzstück jüdischer Theosophie». Die Sefirot sind in der gleichbenannten Tafel senkrecht und waagrecht, schräg übergreifend angeordnet, auch in Triaden, zugehörig zu den vier Emanationsstufen (Kap. 4). Man liest in der Regel von oben nach unten, ausgehend von Keter als Repräsentant von Ejn Sof, der Gottheit. Durch die Wechselbeziehung der Sefirot wird die Schöpfung Gestalt, wird erkennbar. Die unterste Sefira – malchut – ist die Schechina, die Einwohnung Gottes (vgl. Ex 25, 10 ff.). Ausführlich schildert Darvas die inneren Bezüge des Sefirot-Baumes und seinen Bezug zum Gottesnamen. Das Kapitel 5 ist besonders veranlagt zu wiederholtem Durchgang.

Janos Darvas fordert auf, die universelle Gottheit der Menschheit zu erkennen. Eine größere Perspektive ist kaum vorstellbar.

Alle Kapitel des Buches liefern Anlass und zugleich Grundlagen für sinnendes Bewegen der aufgezeigten Bereiche jüdischer Esoterik, weniger zur Entnahme einzelner Informationen. Die wenigen Bezüge auf die Anthroposophie Rudolf Steiners sind vorwiegend methodischer Art. Sie betreffen zum Beispiel den ethischen Individualismus der ‹Philosophie der Freiheit›. Nach den Hinweisen auf die angeführten beiden Kapitel wiederhole ich die Titelworte des Buches: ‹Auf allen deinen Wegen, erkenne Ihn›. Die Lesenden sehen sich durch die acht Kapitel aufgefordert, die universale Gottheit der Menschheit zu erkennen. Eine größere Perspektive ist kaum vorstellbar. Selbstverständlich ist Ejn Sof auch der Vater des Logos, der nach der Weisheit des Johannesevangeliums zum Schöpfungsmittler wurde und schließlich unter den Menschen ‹zeltete›.

Gespräch mit der Tradition

Im Kapitel 4 seines Evangeliums schildert Johannes die Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen bei Sychar in Samarien. Die Frau erkennt Jesus als Juden; dieser spricht: «Das Heil kommt von den Juden.» (Joh. 4,22 f.) Darauf redet die Frau von der Messias-Erwartung und Jesus antwortet: «Ich bin es, der mit dir redet.» Dieser Evangeliumstelle ist zu gedenken, wenn nach Sinn und Bedeutung des Judentums gefragt wird. Der Jude muss nicht gefragt werden, ob er vielleicht (insgeheim) Christ ist. Er besitzt die ältere Offenbarung Gottes, des Vaters. «Ohne Gespräch mit der Tradition geht es nicht, besonders was das Judentum anbelangt» (S. 17). János Darvas, bekennt sich als Gewordener und zugleich Werdender. Wir sind mit unserem Thema noch nicht zu Ende, deshalb sei diese kurze Betrachtung mit Worten eines anderen jüdischen Autors abgeschlossen, Hans Jonas in ‹Der Gottesbegriff nach Auschwitz›: «Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich […]».


Buch János Darvas, Auf allen deinen Wegen, erkenne Ihn! Info3 Verlag, Frankfurt a. M, 2023.

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