Die Würde der Wunde

Der Titel des Buches überrascht: Wer legt denn in bedrohlich wirren Zeiten Wert auf ein Recht auf Verletzlichkeit?


Jeder hat schon seine Wunden. Dass man sich vor weiteren Verletzungen schützen möchte, ist mehr als verständlich. Christine Gruwez macht aber darauf aufmerksam, dass wir die Chance verpassen können, zur Quelle des Menschlichen durchzudringen, wenn wir versuchen, den Schmerzen und der Ohnmacht zu entkommen. Durch Schmerzen werden wir wach. Es kommt dann darauf an, wach bleiben zu können und mitzutragen, was als unerträglich in der Welt empfunden wird. Das ist anspruchsvoll und will auch verstanden werden.

Einen Schlüssel dazu bekommen wir bereits im Vorwort: Eine Wunde entsteht, wenn ein lebendiger Zusammenhang zerrissen wird. Ist das nicht bei der ursprünglichen Menschwerdung und dann immer wieder bei der Geburt eines Kindes der Fall? Christine Gruwez nennt das «die primordiale Wunde», die allen späteren Verletzungen vorangeht. Wir sind «als Menschen aufgrund unseres Wesens verletzlich». Eine Wunde mobilisiert Heilungskräfte. Heilung geschieht durch das Wirksamwerden der Kräfte, die Zusammenhänge neu herstellen können.

Das erste Kapitel geht der Frage nach, wie wir wach bleiben und aus der Ohnmacht auferstehen können. Dazu dürfen wir die Geschehnisse nicht nur passiv erleiden, sondern müssen den Entschluss fassen, sie in uns hineinzunehmen und an unseren Kern heranzuführen. Den nennt die Autorin mit Aristoteles ‹Energeia› (übersetzt ‹Potenz›): die schöpferische, noch nicht vorbestimmte Fülle des Vermögens, deren Träger jede und jeder von uns als Mensch ist. Der Entschluss kann nur die ureigenste Initiative sein, eine Ich-Tätigkeit, die die leiblich-seelische Betroffenheit transzendiert, ohne sie zu verleugnen. Er konfrontiert mich zunächst radikal mit meiner Ohnmacht. Diese befreit mich aber vom Gebundensein an die Fakten, von meinen unwillkürlichen seelischen Reaktionen darauf und vom Zwang, nach Lösungen suchen zu müssen. Eine radikale Umkehr wird eingeleitet. Wo ich bisher der äußeren Welt ausgeliefert war, kann ich mich jetzt aktiv, aber in empfänglicher Haltung nach innen öffnen. Aus dieser Richtung kann Erlösung und Auferstehung kommen.

Die Fülle der Potenz

Der Schmerz lässt auch die Frage nach dem ‹Sinn des Bösen› entstehen. Ich kann die Kräfte des Bösen als Möglichkeit in mir selbst entdecken. Dabei befinde ich mich zugleich an dem Punkt, wo es in meiner Entscheidung steht, wie ich mich zu dieser Möglichkeit verhalten will. Das Böse zerreißt und zerstört Zusammenhänge, aber ich kann mich durch Selbstüberwindung auf den Zusammenhang des Lebendigen beziehen und so Gutes schaffen aus freiem Entschluss. Dazu muss ich allerdings erst ich selbst, ein selbstbewusstes Einzelwesen sein. Es sind gerade die Kräfte des sogenannten Bösen – die im Kosmos und in der Geschichte als Kräfte der Absonderung wirken – die das ermöglichen. Durch sie kann das Ich sich seiner Möglichkeiten bewusst werden.

Der erweiterte Kunstbegriff von Joseph Beuys leitet in das dritte Kapitel hinüber. ‹Jeder Mensch ist ein Künstler›, insofern in ihm die Potenz in immer neuen Formen zum Ausdruck gebracht werden kann – und will. Im Ich lebt das brennende Verlangen, die inneren Möglichkeiten zu realisieren. Aber es gibt Widerstände und keine äußere Form ist imstande, die Fülle der Potenz zu fassen. Das gilt für die Kunst, die Gesellschaft und das Menschenleben überhaupt. Unsere Krisenzeit ist ein eminentes Übungsfeld, damit umgehen zu lernen. Bedeutende Künstlerinnen und Künstler zeigen: Es geht nicht primär um das fertige Kunstwerk. Es kommt darauf an, den Verwirklichungsprozess, der sich im Medium der Wärme vollziehen kann, geistesgegenwärtig zu begleiten. Dazu ist in unserem Herzen ein Wahrnehmungsorgan veranlagt.

Zeig mir die Wunde,
Dass ich endlich fühlen kann
Die Menschenwürde

Rudy Vandercruysse

Christine Gruwez entfaltet diese Zusam­menhänge in warmer Lebendigkeit und mit einer Fülle an Bildbetrachtungen und Poesie, mit berührenden geschichtlichen und biografischen Erzählungen über fast 200 Seiten. Ein engagierter Epilog über die Menschenrechte, in dem die Autorin sich solidarisiert mit denjenigen, die an der selbstbestimmten, immer auch mit Risiko verbundenen Verwirklichung ihrer Möglichkeiten gehindert werden, schließt das Ganze kraftvoll ab. Ein tiefmenschliches Buch einer weitherzigen Zeitgenossin. Gewiss sind damit noch nicht die konkreten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beantwortet, aber der Geist dieser Meditationen zur Zeitlage bietet zukunftsträchtige Voraussetzungen.


Buch Christine Gruwez, Die Wunde und das Recht auf Verletzlichkeit, Meditationen zur Zeitlage. Urachhaus, Stuttgart 2023.

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