Judentum und Anthroposophie

Die Schreibenden wussten nicht, wie aktuell ihre Publikation ‹Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus› werden sollte, als am 7. Oktober 2023 ein neuer Konflikt um und in Gaza ausbrach. Dieses Buch geht aber hervor aus einem inneren Anliegen. Ein ‹negatives› vielleicht, denn es galt, noch mal das Thema ‹Rudolf Steiner und der Antisemitismus› auf breiter Basis zu behandeln. Und ein ‹positives›, denn der jüdische Humanismus des 20. Jahrhunderts steht der Hochschule für Geisteswissenschaft nahe und ist ihr ein Dialogpartner.


Die inhaltlichen Fragen, ausgeführt von Peter Selg und Constanza Kaliks, werden umrahmt von einem Rückblick auf ein Leben, das von Jerusalem über Dornach zur Gründung des heilpädagogischen Instituts ‹Kfar Rafael› bei Beer Sheva (vgl. ‹Goetheanum› 46/2023) führt. Dieser Bericht von Udi Levy ist mit den anderen Themen der Publikation verbunden. Das Buch schließt mit einem Beitrag von Iftach Ben Aharon, der eine Einladung in die Poesie des jüdischen Dichters Paul Celan (1920–1970) ist.

Antisemitismus

Dass Rudolf Steiner sich klar und deutlich gegen Antisemitismus ausgesprochen hat (unter anderem in seinen Dreyfus-Artikeln), mag schon vielen bekannt sein. Peter Selg gibt auf etwa 90 Seiten einen Überblick in dieses umfassende Thema. So auch über manches mehr oder weniger Antisemitische in der jungen Anthroposophischen Gesellschaft. Nicht alle verhielten sich resistent und oppositionell zum militanten Antisemitismus der Nazis (S. 34), obwohl es doch viele jüdische Freunde in der Gesellschaft gab, die unter diesem Verhalten litten (S. 34–36). Interessant und wenig bekannt sind die Beziehungen von Rudolf Steiner zu den Zionisten Ernst Müller und Hugo Bergman. Sie sind für ihn eingetreten und haben die Anthroposophie herangezogen zum Verständnis der jüdischen Mystik. Hugo Bergman sollte der erste Rektor der Hebräischen Universität von Jerusalem werden. Rudolf Steiner kannte Bücher von Martin Buber (vielleicht nicht ‹Ich und Du›, das erst aus 1923 stammt) und schätzte dessen kulturellen Zionismus (S. 72). Seinerseits hielt Buber Distanz zu Steiners Anthroposophie (S. 105). Peter Selgs Gesamtbild lässt insgesamt keine Zweifel, dass von Antisemitismus bei Steiner nicht gesprochen werden kann.

Der jüdische Humanismus

Das zweite große Thema des Buches ist dem jüdischen Humanismus gewidmet. Mit der Anthroposophie gemeinsam hat er, dass der Mensch «nicht länger als ein sich selbst behauptendes Individuum verstanden [wird], sondern als ein sich konstitutiv aus der Gegenseitigkeit bildendes Wesen» (S. 155). Diese Grundfigur finden wir bei den gewürdigten jüdischen Denkern Hermann Cohen, Martin Buber, Franz Rosenzweig, Emmanuel Levinas und Hans Jonas. Sie alle werden nur kurz vorgeführt, aber Constanza Kaliks und Peter Selg haben schon vorher über Buber und Rosenzweig publiziert.1 «Ein weiterführender Dialog» (S. 175) wird angekündigt. Nicht ganz deutlich wird das intendierte Verhältnis des Humanismus zur jüdischen Religion oder Mystik. Ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist die starke Resonanz von Philosophen jüdischer Herkunft (Arendt, Horkheimer, Adorno, Marcuse und Bloch), die sich alle selber im säkularen Humanismus oder marxistischen Materialismus zu Hause fühlten. Arendt nimmt zum Beispiel in ihrem ‹The Human Condition› (deutsch: ‹Vita activa› 1958) keinen Rekurs auf die jüdische Tradition, sondern – vermittelt von Heidegger – auf Aristoteles und das Griechentum der alten Polis. Das Gesicht eines Humanismus wie bei Arendt und das der jüdischen Religiosität wie bei Buber sind vielleicht gar nicht so notwendig verbunden. Und dies ist auch für den genannten Hermann Cohen eine relevante und interessante Frage.

Cohens Neukantianismus

Hermann Cohens ‹Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums› (Berlin 1919), bildet angeblich eine Grundlage für die spätere Generation von Denkenden wie Buber und Rosenzweig (S. 157). Cohen war nach dem Ersten Weltkrieg aus Marburg, wo er einen Lehrstuhl für Philosophie hatte, nach Berlin gezogen für eine Stelle an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. In Marburg hatte Cohen wesentlich beigetragen zu einer Art des Neukantianismus, in dem wieder «die Tragkraft des Gedankens durchbricht».2 In seinem progressiven Kantianismus finden wir zugleich die Quellen für das neue Ich-Du-Verhältnis im transzendentalen Kritizismus. Sie geht hervor aus Kants Kritik an der theoretischen Philosophie und aus Cohens Ethik des reinen Willens. Cohen vertritt einen feurigen Idealismus. Er sieht die Wissenschaft als ‹erzeugt› vom Denken. Wissenschaft kann nur die Idee sein in ihrer vielgliedrigen Ausgestaltung. Diese umfassende Idee ist das methodische Ziel der Wissenschaft, ihre ewig unerfüllte Aufgabe. Als solches ist die Idee ‹das Ding an sich› zu nennen, doch nur als erstrebte Wahrheit der Gesetze der Welt, die sich, der Forschung ausgesetzt, den Menschen nicht verbergen. In der unerforschten Erfahrung hat man sie nicht unmittelbar und deswegen dort auch nicht ‹das Ding an sich›. Ebenso wenig ist das Subjekt des Denkens, die Seele, eine Seele an sich, Erfahrung, und – da überschlägt sich Cohens Idealismus – deswegen nur Aufgabe oder Gedanke. So ist der Mensch nicht substanziell frei durch innere Anlage, sondern nur durch die Idee der Freiheit, die sittliche Idee des gesetzmäßigen Handelns. Gesetzmäßigkeit ist die reine Ethik a priori, die aus der Vernunft selber hervorgeht. Sie gilt auch da, wo es keine Menschen geben würde. ‹Handle gesetzmäßig› ist der höchste kantische Imperativ. Der reine Wille ist der freie Wille, d. h. rein vom Zweck (Idee) bestimmter Wille. Somit ist jeder Mensch Zweck an sich, nicht weil er Individuum ist, sondern die Aufgabe hat, frei zu sein, weil die Idee der Menschheit in ihm es bedingt. In der Idee herrscht Einheit unter dem Gesetz (die Gesetze gelten für uns alle).

Daraus ergibt sich «Cohens Entdeckung des Menschen als des Mitmenschen» (S. 157) und die philosophische Begründung der Korrelation von Mensch zu Gott, wie Mensch zu Mensch, aus seiner ‹Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums› (S. 157). In der einfachsten sittlichen Handlung, worin der Wille sich schon sprachlich äußern muss, ist der Mensch durch den ‹Nebenmenschen› (Cohen) auf sich als Idee des Menschen als Endzweck bezogen. Nicht vom durch Affekt getriebenen Tun, sondern vom Recht beherrschten Handeln spricht Cohen hier. Das Ich (das Selbstbewusstsein) hat seinen Ursprung im Andern (Nicht-Ich), weil das Recht ausgeht von Beziehungen zwischen Menschen. Nicht der ‹Nebenmensch› der Erfahrung, sondern der ideelle A-priori-Bezug von «hypothetischen, juristischen Personen zueinander ist hier die Grundlage der Ethik».3 Und in der Pflichtethik Kants – wo erkenntnismäßig die ‹Seelen an sich› sich selber und einander in der direkten Erfahrung verborgen bleiben – kann es konsequenterweise wohl nicht anders sein. Wie das Ich und das Du zusammengehören, ist bei Cohen jedenfalls Sache des Gesetzes: «Dieses Selbstbewusstsein ist die Vereinigung von Ich und Du, welches die Rechtshandlung des Vertrages vollzieht».4 Darin erkennt er die Verheißung der jüdischen Propheten.5 Cohen nimmt das A-priori-Gesetz zum Ausgangspunkt, nicht die unmittelbare Erfahrung: «Den Nebenmenschen lediglich aus der Erfahrung entnehmen wollen, das scheint noch aussichtsloser, als die Definition, dass die Gerade durch zwei Punkte bestimmt sei, lediglich auf Erfahrung zu gründen».

Der ethische Individualismus Rudolf Steiners (vor allem der ‹Philosophie der Freiheit›) mündet dagegen nicht in einen idealisierenden, sondern in einen realen Erfahrungsbezug zum Anderen als einen zur Freiheit veranlagten Mitmenschen. Kants Pflichtethik hält er sich fern. Das ist nicht gemeint als pauschale Kritik am jüdischen Humanismus oder gar am edlen Platonismus Cohens (in Nachfolge eines Philo Judaeus), sondern als eine methodische Herausforderung, im Dialog das Andere des Gesprächspartners als solches verstehen zu wollen.

Wo Rittelmeyer versagte

Philosophie und Kantianismus übersteigend, ist es die Frage nach dem Geist des religiösen Impulses von Moses und den alttestamentarischen Propheten, der noch leben mag und den wir als Gegengewicht ‹antijudaistischer Argumente› im Werk Steiners (S. 40) wohl zu beachten haben. Selbst Friedrich Rittelmeyer hat da das Zukunftsfähige überhört (S. 36–38). Hier weist Selg auf Wichtiges hin: Steiner äußerte sich gegenüber Robert Lissau, es gebe eine neue Mission der Juden in seiner Zeit. Selg hat dies m. E. überzeugend in Verbindung gebracht mit der Wiederkunft des Christus im Ätherischen (S. 102–105). Obwohl alles in Metamorphose weiterschreitet, so war und ist doch die irdische Menschwerdung zur Vorbereitung der Aufnahme des Sonnenwesens, die Aufgabe vertreten durch Johannes den Täufer, nicht abgeschlossen. Wir leben auch jetzt noch in einer Erwartung, wie es der alte Messianismus tat. Wenn es eine Freiheit des Geistes geben könne, hier unbefangen weiterzuforschen, so wäre dies sehr zu begrüßen.


Buch Constanza Kaliks, Peter Selg, Udi Levy und Iftach Ben Aharon: Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus. Verlag am Goetheanum, Dornach 2023.

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Footnotes

  1. Constanza Kaliks, Peter Selg, Die Gegenwart des Anderen. Über Martin Buber und Franz Rosenzweig. Verlag am Goetheanum, Dornach 2022.
  2. Rudolf Steiner, Die Rätsel der Philosophie. GA 18, Dornach 1968, S. 582–583.
  3. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik. B. Cassirer (2. Ausgabe), Berlin 1910; und: Ethik des reinen Willens. B. Cassirer (3. Ausgabe), Berlin 1921.
  4. Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 247–251, aber auch S. 210–215 und S. 233.
  5. Ebd. S. 212–221, S. 269–270, S. 300–301, S. 405–412 und S. 499–501. Aber auch in H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 456–497 und in H. Cohen, Innere Beziehung der Kantischen Philosophie zum Judentum, Berlin 1924.

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