Israel am Scheideweg

Seit drei Monaten ist Israel in Aufruhr. Die Situation innerhalb des Landes sowie mit den Nachbarstaaten ist äußerst angespannt. Die rechtskonservative, ultrareligiöse Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu möchte in einer ‹Justizreform› die Gewaltenteilung verändern und die Legislative zugunsten seiner Regierung aushebeln. Die zivilen Proteste treiben Hunderttausende auf die Straße, zu Streiks, Dienstverweigerung und Straßenblockaden. Fünf Fragen an den Dreigliederungs­praktiker Juval Elad.


Was würde mit Israel geschehen, wenn die Reform durchgebracht wird? Einige Stimmen gehen davon aus, dass dies im April schon geschehen wird.

Ich denke nicht, dass die Regierungskoalition diese Reform durchsetzen kann. Die Protestierenden werden sie verhindern. Wenn sie durchkäme, wäre das ein Desaster und womöglich das Ende der israelischen Gesellschaft. Das ganz Rechtssystem würde extrem geschwächt, da das Oberste Gericht die Gesetze der Regierung nicht mehr überprüfen und ablehnen könnte. Die Ersten, die darunter leiden würden, wären die arabische Bevölkerung, die Frauen und die Menschen in den palästinensischen Gebieten. Die Armut würde rasant steigen, gerade bei denen, die sich gegen diese Politik auflehnen. Die Kriminalität würde stark zunehmen; wir sind schon jetzt in keinem guten Zustand. Das Bildungssystem würde stark radikalisiert. Das Rechtssystem, das heute der arabischen Bevölkerung und den Frauen noch hilft, ihre Rechte zu verteidigen, würde es so nicht mehr geben. Wenn diese Reform durchkommt, wird es eine Katastrophe geben.

Vor dem Hintergrund der sozialen Dreigliederung: Wo krankt es im israelischen Staat?

Es gibt zwei Blicke. Wir können die israelische Gesellschaft anschauen und wir können innerhalb der politischen Sphäre die Dreigliederung betrachten. Gesamtgesellschaftlich können wir sehen, dass seit 14, 15 Jahren die politische und die wirtschaftliche Sphäre daran arbeiten, die geistige Sphäre zu zerstören. Das betrifft die Kultur, die Bildung, die zivilen Friedensorganisationen. Sie wollen es überwachen und steuern. Sie übernehmen über alle diese Bereiche die Kontrolle. Das Geistesleben wird also schon lange angegriffen und das ist der Grund, warum es kein Wissen an das Rechts- und Wirtschaftsleben zurückgeben kann.

Juval Elad

Was im Moment durch die geplante Justizreform sichtbar wird, ist, dass auch der geistige Teil innerhalb des politischen Feldes angegriffen wird. Das ist der Bereich der Gesetzgebung.

Wir können das Prinzip der sozialen Dreigliederung im großen gesellschaftlichen Kontext, wie Rudolf Steiner es getan hat, anschauen, sowie auch in jedem der drei einzelnen Organe betrachten. Also: im Geistes-, im Rechts- und im Wirtschaftsleben. Die Politiker, die dem Rechtsleben dienen sollten, greifen das demokratische System, seinen gesetzlichen Aufbau an. Und dieser gesetzliche Aufbau ist der geistige Teil der politischen Sphäre. Das ist das extrem Gefährliche daran. Denn das Rechtsleben attackiert sich selbst.

Und wie kann das Geistesleben dann wieder mehr Freiheit und Autonomie gewinnen?

Das Geistesleben, das Freiheit und Autonomie will, kann die Medien und das Internet benutzen, um immer mehr Verbindungen zu anderen Menschen, auch in den palästinensischen Gebieten aufzubauen. Wir können dadurch mehr Beziehungen und Kooperationen schaffen mit Menschen außerhalb von Israel, mit den Menschen in Palästina, Jordanien, Ägypten. Wir müssen uns verbinden. Und innerhalb von Israel müssen wir lokaler, regionaler denken. Wir müssen lernen, uns mit den Menschen vor Ort zu organisieren, ohne die Staatspolitik. Wir haben die gleichen Probleme, die gleichen Potenziale und wir müssen lernen, mit unseren Nachbarn und Nachbarinnen zu arbeiten. Dafür brauchen wir den Staat nicht.

Welche Perspektiven siehst du in dieser Krise?

Das große Problem ist nicht die Justizreform, sondern dass der Premierminister angeklagt ist und dass die Gerichte ihn zu einer Gefängnisstrafe wegen Korruption verurteilen wollen. Es gibt keinen Grund, zu glauben, dass die Regierung diese Reform zum Wohle der Gesellschaft anstrebt. Premier Netanjahu und einige seiner Minister wollen diese Änderung zu ihrem eigenen Vorteil durchbringen. Sie wollen sich selbst retten. Und es gibt auf der anderen Seite eine große Gruppe in der jetzigen Regierung, die mit von der Partie ist und die palästinensischen Gebiete vollständig besetzen will. Diese sehr rechte, ultrareligiöse Gruppe hilft, Netanjahu vor dem Gefängnis zu bewahren, indem sie die Reform unterstützt. Im Gegenzug muss er ihnen aber erlauben, die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen immer weiter zu vertreiben und jüdische Siedlungen zu bauen. Das ist der Handel zwischen diesen extremen Regierungsgruppen.

Welche Impulse sind nötig, um die Situation zu verwandeln?

Die meisten der Menschen, die jetzt auf den Straßen sind, um gegen die Reform zu protestieren, sind sonst nicht politisch aktiv, wenn es um die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes geht. Aber jetzt, wenn sie ‹Demokratie› rufen, verstehen sie, dass wir das auch rufen müssen, wenn es um diesen Konflikt geht. Das politische Bewusstsein ändert sich. Wir können nicht nur losziehen, wenn es ‹uns› betrifft, sondern wir müssen uns dagegen wehren, dass die palästinensischen Menschen leiden. Ich glaube, im Moment verstehen viele den Zusammenhang zum ersten Mal. Wenn der Protest für eine friedliche Konfliktlösung zusammenkommt mit dem Ruf nach Demokratie, dann gibt es Hoffnung.


Bilder Demonstration gegen die ‹Justizreform›- Pläne von Netanjahu und Levin, Januar 2023. Hauptfoto oben: Hanay, Wikimedia, cc 3.0; Foto im Artikel: Oren Rozen, Wikimedia, cc 4.0

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