Im Zeichen des Wirbels

Die Kunstauffassung von Joseph Beuys steht mit dem Rosenkreuzer-Impuls in einem Zusammenhang.


Ausgelöst durch ein Erlebnis ‹seiner selbst außerhalb seines Körpers›, machte Joseph Beuys (1921–1986) die Entdeckung, dass die Kunst mit der Evolution des menschlichen Bewusstseins in einem Zusammenhang steht.1 Das Schöpfungsprinzip, von ihm als ‹Plastische Theorie› bezeichnet, basiert auf der Dreigliederung. Dem Formprinzip der Ratio steht im Seelenleben der ungeformte Wille gegenüber. Dazwischen befindet sich das Fühlen, das in seiner Beziehung zur Kunst eine «höhere Form des Denkens» in Aussicht stellt.2 Die Ahnung, dass sich hinter dem Gefühl eine untergründige Lebensschicht verbirgt, die als Bildekraft die Voraussetzungen für das Denken schafft, ist für die frühen Zeichnungen von Beuys, die er als «eine andere Form der Sprache» bezeichnet, richtungweisend. Zwischen dem Denken, dem Sprechen und dem Zeichnen besteht ein fließender Zusammenhang.3

Der alte Körper, den er im Todeserlebnis zurückgelassen hat, war an eine Erkenntnisgrenze gestoßen. Darauf deutet ein künstlerisches Dokument hin. Es handelt von der ‹Konstruktion eines Spezialgehirns›, welches an das von Rudolf Steiner (1919) erwähnte ‹Spezialgehirn› in dem Vortragszyklus ‹Die Sendung Michaels› erinnert.4

Durch Max Benirschke (1880–1961), der Beuys während seines Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie in den Evolutionsbegriff der Rosenkreuzer eingearbeitet hat, war der Künstler auf seine ‹Intuitionskrise›, der er die Entdeckung der ‹Plastischen Theorie› verdankt, vorbereitet.5 Ihren Ausgang nahm die Krise vom leibgebundenen Bewusstsein, das durch die Sprache das physische Gehirn organisiert.

Um seinem Auftrag gerecht zu werden, musste Beuys das durch den Materialismus für die Geisterkenntnis unbrauchbare Denkorgan plastisch umgestalten. Wie aber ist dieser Prozess der plastischen Umorganisation geistig zu verstehen?

Joseph Beuys, ‹Kadmon›, 1948/49, ca. 9,5 x 2,8 cm, Stiftung Museum Schloss Moyland, Kranenburg.
Bildquelle: Ann Temkin and Bernice Rose, ‹Thinking is form: the drawings of Joseph Beuys›, 1993.

Das Ich erfahren

Die Schöpfung der Vergangenheit wurde, bevor sie sich in die Materie verdichtet hat, von ‹Adam Kadmon›, dem Urbild des im Irdischen sich abbildenden Menschen, ins Ätherische ausgesprochen. Gleichzeitig wurde etwas von der lebendigen Schöpfungssubstanz des kosmischen Urmenschen für die Seelenentwicklung der sich auf der Erde inkarnierenden Menschen in den Mysterien zurückbehalten.6 Mit ihr steht die Ichempfindung in einer natürlichen Beziehung. Es sind die urmenschlichen Gefühle, die durch die Kunst mit der Idee des Menschen in einem Zusammenhang stehen. Der Vorgang teilt sich dem Bewusstsein mit als etwas außer ihm liegendes Geistiges, das durch die Kunst in den Bereich der Wahrnehmung rückt. Dabei kommt es auf die Umkehrung der Willensrichtung an, sodass in der Bewegung von außen nach innen ein ‹Wirbel› entsteht, der, so Beuys, die Idee der Evolution zum Ausdruck bringt.7

Das Zeichen führt den Menschen, der seiner Spur folgt, in die konkrete Icherfahrung. Das wird deutlich anhand der Zeichnung ‹Kadmon› (1948/49), die für Beuys etwas Besonderes war.8 Ihr Inhalt verweist intuitiv auf die kosmische Ichsubstanz, die mit dem ‹Spezialgehirn› derart in einem Zusammenhang steht, dass es ihr seine Entstehung verdankt. Im Bereich des Kopfes wird ‹Kadmon› als Bild der Geisterkenntnis ein Kreuz, umgeben von sieben Wirbelzeichen, zur Seite gestellt. Dass die Wirbel mit den Rosen am Rosenkreuz gleichbedeutend sind, veranschaulicht eine Zeichnung aus demselben Jahr.9

Zeichnung von Joseph Beuys «1.7.1974 für Volker Harlan» unter dem Titel Evolution publiziert, Bleistift auf Zeichenpapier 29,7 × 42 cm.

Von Mythos zu Logos

«Der Bezug auf das Rosenkreuzertum, auf das sich Beuys (dabei Rudolf Steiner nennend) berief, ist ebenso evident wie bei der unter der Bezeichnung ‹Evolution› publizierten, diagrammatischen Zeichnung von 1974, bei der es sich um den gedanklichen Aufbau einer Meditation im Sinne der Rosenkreuzer handelt, die das sich selbst erkennende Denken zum Inhalt hat.»10

Verfolgt man den Weg vom Mythos zum Logos, dann tritt in der Meditation ein diaphanes Ereignis ein, durch welches das Geistige der Evolution im ‹höheren Denken› als Imagination bildlich zur Erscheinung kommt.11 Für Beuys sind es die Imaginationen, die «viel tiefer in die evolutionären Wurzeln hineinfassen» und sozusagen «das Leben für die Sprache erst anliefern».12

Das Zeichen des Rosenkreuzes verweist so gesehen in dreifacher Hinsicht auf den Zusammenhang mit dem ‹Mysterium von Golgatha›. Es bezieht sich auf die Einweihung des Lazarus-Johannes, durch die sich das zurückbehaltene kosmische Urbild des Menschen durch den Logos in ein irdisches Ich umgestaltet.13

In der Einweihung des Christian Rosenkreutz findet dieser Prozess der ‹umgekehrten Transformation› dann im 13. Jahrhundert seinen Abschluss.14

Durch das Ereignis der Ichumwandlung, mit der Bewegung von oben nach unten wurde die Voraussetzung geschaffen, dass der inkarnierte Mensch in der Nachfolge des Lazarus-Johannes einen umgekehrten Prozess der Ichwerdung von unten nach oben vollziehen kann. Dadurch, dass er sein physisches Gehirn durch die Sprache der Rosenkreuzererkenntnis in ein ‹Spezialgehirn› erweitert, kann er durch das Erlebnis seiner selbst außerhalb des Körpers dem ätherischen Christus im ‹Plasma der Erde› begegnen.15 In der Zeichnung ‹Kadmon›, die für Beuys am Beginn seiner künstlerischen Entwicklung steht, spricht sich so gesehen gefühlsmäßig die Evolution des menschlichen Bewusstseins als Geistiges aus. Es begreift sich durch sich selbst in dem auf das Rosenkreuzertum sich beziehenden Satz: «Ohne die Rose tun wir’s nicht – da können wir gar nicht mehr denken.»16

Das Wort bezieht sich – im Zeichen des Wirbels – auf das neue Schöpfungsprinzip, durch das inspiriertes Leben in das tote Denken und die gesellschaftliche Erneuerung strömt.17

Damit wird deutlich, wie der Auftrag von Joseph Beuys, «den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen», mit der Arbeit am Ätherleib des Christian Rosenkreutz in einem Zusammenhang steht.18


Karl-Heinz Tritschler, gestorben 2020, hat diesen Text kurz vor seinem Tod begonnen und konnte ihn nicht mehr ganz vollenden.

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Footnotes

  1. Johannes Stüttgen, Stiftungsgespräche. Der Erweiterte Kunstbegriff und Joseph Beuys’ Idee der Stiftung. Köln 1990, S. 21 ff.
  2. Oswald Oberhuber, Gespräche mit Beuys – Wien-Friedrichshof 1983. S. 76.
  3. Dieter Koepplin, Beuys aktualisiert Steiner, in: Rudolf Steiner – Tafelzeichnungen, Entwürfe, Architektur. Osterfildern 1994, S. 85 ff.
  4. Rhea Thönges-Stringaris, Denke an die Konstruktion eines Spezialgehirns. Zu einem Dokument der Krise, in: Joseph-Beuys-Symposium – Kranenburg 1995. S. 59 ff. und R. Steiner, Die Sendung Michaels. Dornach 1934, S. 50.
  5. Wie 3, S. 86 und zu Benirschke aus dem Nachlass am Goetheanum, in: K.-H. Tritschler, Joseph Beuys und die Rosenkreuzer. Arbeit am ‹Plasma der Erde›. ‹Goetheanum› 33/34, 2008.
  6. K.-H. Tritschler, Hilma af Klint – eine Entdeckung, in: ‹Goetheanum› 12/2019.
  7. Mario Kramer, Joseph Beuys. Das Kapital Raum. 1970–1977. Heidelberg 1991, S. 30.
  8. Dieter Koepplin, Kadmon: Nahsicht auf eine frühe Zeichnung von Joseph Beuys, in: Joseph Beuys-Tagung, Basel 1.–4. Mai 1991. S. 31 ff.
  9. Dieter Koepplin, Joseph Beuys in Basel, Bd. 2: Zeichnungen und Holzschnitte bis 1954. München 2006, S. 96.
  10. Ebd., S. 97.
  11. Nicht aufgeführt (Anm. d. Redaktion).
  12. Joseph Beuys/Frans Haks, Das Museum (Gespräch Dez. 1975). Wangen 1993, S. 31 f.
  13. Wolf-Ulrich Klünker, Wer ist Johannes? Dimensionen der letzten Ansprachen Rudolf Steiners. Stuttgart 2006, S. 96 f.
  14. Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum, Neuchâtel, Erster Vortrag, 27. Sept. 1911. Dornach 1977, S. 61 ff.
  15. Joseph Beuys, Aktive Neutralität. Vortrag mit Diskussion am 20. Jan. 1985. Wangen 1987, S. 7.
  16. Wie 9, S. 239.
  17. Wolf-Ulrich Klünker, Ich-Empfindung im Denken, in: Johannes-Lazarus. Die Geistselbstberührung des Ich. Dornach 2016, S. 60 ff.
  18. Dieter Koepplin, Fluxus. Bewegung im Sinne von Joseph Beuys, in: Joseph Beuys: Plastische Bilder 1947–1970. Galerie der Stadt Kornwestheim 1990, S. 31

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