Ich und neue Gemeinschaft

Freundschaft geht von einer Ichkraft aus, die Unterschiede in sich aufnehmen kann. Das neue Buch von Steffen Hartmann beschreibt diese Kraft genauer und mit Blick auf historische und karmische Zusammenhänge.


«Indem das Ich sich einem anderen zuwendet – einem Stein, einer Pflanze, einem Tier, einer Wolke, dem Mond oder einem Stern –, entsteht durch die Aufmerksamkeit des Ich etwas, das ohne diesen Akt […] im Weltganzen nicht vorhanden wäre. […] Es fügt zum Bestehenden etwas hinzu, wenn ich die Wolkenbildung am Himmel aufmerksam miterlebe.»1 Denn «Wir alle tragen […] einen unsichtbaren Ich-Zauberstab […]. Was wir damit berühren, das verwandelt sich. Dieser Ich-Zauberstab, das ist unsere Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit – die bewusst geschenkte Hingabe – ist […] das Mysterium des Ich.» So entsteht «mit jedem freien Ich-Akt, mit jeder Aktivierung des Ich-Zauberstabes, durch jeden schöpferischen Liebesakt, und sei es noch so unscheinbar, […] ein Bau-Stein des Neuen Jerusalem.»

Dieses Buch lässt eine Hymne an die Freundschaft als schöpferische Begegnung zwischen Ich-Wesen erklingen, die als Keim der neuen Gemeinschaft wahrgenommen werden will. «Das Mysterium des Ich und das Mysterium der neuen Gemeinschaft» ist das offenbare Geheimnis, dem der komplexe Forschungsgang des Autors uns begegnen lassen möchte. Dabei scheut er sich nicht davor, an die tragischsten Augenblicke in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung zu erinnern. Und dies geschieht nicht, um Stoff für sensationslüsternen Eso-Klatsch zu liefern, sondern um darauf aufmerksam zu machen: Der Zentralimpuls Rudolf Steiners hängt intim, unzertrennlich mit einem Weg zusammen, den wir «den Ich-schöpferischen Erkenntnisweg nennen» können. Ich-schöpferisch bedeutet jedoch uneingeschränkt empfangende Anerkennung des anderen Ich in seinem radikalen, häufig als Gegensatz wirkenden Unterschied zu meinem Ich, das heißt jenseits alles Persönlichen, wahrhaftig selbst-los, in liebendem Verstehen-Wollen.

Steffen Hartmann: Gilgamesch und Enkidu. Eine weltgeschichtliche Freundschaft Verlag Freies Geistesleben. Stuttgart 2021.

Durch die weltgeschichtlichen Etappen seiner karmischen Studie – die lebendige Vergegenwärtigung des Gilgamesch-Epos; das rührende geistige Gespräch mit der Artemis von Ephesus sowie mit Aristoteles und Alexander, mit der Gralszeit sowie mit der Scholastik; die fruchtbar nüchterne Wahrnehmung der dramatischen Ereignisse und der zukunftsträchtigen Schwellen im gemeinsamen Weg Rudolf Steiners und Ita Wegmans – zeigt Steffen Hartmann, wie diese Anerkennung, in Zusammenklang mit dem Wirken des Christus, die leidbereite Inkarnation ins Menschliche, ins Irdische und somit die herausforderndsten Erfahrungen von Trennung, Missverständnis, Unzulänglichkeit, Scheitern voraussetzen kann.

«Freunde sind immer Anfänger», weil Ich-Wirken in jedem Augenblick Schöpfung aus dem Nichts ist. Dies impliziert ständige Bereitschaft, durch liebende Intelligenz und Sprache das vollkommen Unerwartete, das ein anderes Ich offenbaren will, als Grundlage einer harmonischen Gemeinschaft mitzugestalten, die Gegenwart einer schöpferischen Unendlichkeit bewusst bewirkend. So erweist sich jene Freundschaft als die fruchtbarste, die, wie zwischen Steiner und Wegman, auf seelischen Urgegensätzen fußt. ‹Alte› und ‹junge› Seele, stürmischer Tatendrang und warme Gedankenkraft, Persönlichkeit als Mittepunkt und Individualität als Umkreissphäre begegnen und lieben sich hier, damit das Mysterium des Ich immer mehr offenbar werden kann, das sowohl unerschöpflich tiefe, individualisierende Selbstzentrierung als auch uneingeschränkt hohe, gemeinschaftsbildende Offenheit gebiert. Auf die zu erlangende schöpferische Einheit dieser Gegensätze weisen die Ausführungen dieses Buchs hin. Die im Gilgamesch-Epos versinnbildlichte Inkarnation der Intelligenz durch eine noch makrokosmisch geprägte, jedoch sich schon irdisch-physisch offenbarende Liebeskraft sowie der stimmige Fortschritt dieser Inkarnation durch die ephesischen Logos-Wort-Mysterien und die Kategorien des Aristoteles verbinden sich auf einem jahrhundertelangen Weg mit der durch Rudolf Steiner urbildhaft manifestierten Fähigkeit, «ein willenshaftes Mitgestalten und Ausgestalten des Denkens anderer» durch das liebend wahrnehmende und verstehende Ich zu wollen. Dieses vom Christus, vom «Ich der Iche» getragene, liebend ichsame Denken darf als generative Umkehrung der Liebeskraft wahrgenommen werden, die Enkidu durch die Ischtar-Priesterin kennenlernen durfte. Seine Kraft kann in jedem Augenblick als Grundsteinkraft für eine Gemeinschaft wirken, die deshalb Anthroposophia offenbart, weil sie das mikrokosmische und das makrokosmische Geistige in neuer, vom menschlichen Ich geborener Form zusammenführt. Den Mut zu dieser ichgetragenen Geburt möchte dieses Buch entfachen.

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Footnotes

  1. Alle Zitate stammen aus dem Buch.

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