Eine welt­geschichtliche Freundschaft

Rudolf Steiner nahm des Öfteren seinen Ausgangspunkt beim ältesten Epos der Welt: Gilgamensch. Das Zusammenwirken des Freundschaftspaares Enkidu/Eabani und Gilgamesch war ihm Urbild eines Zusammenwirkens polarer karmischer Voraussetzungen, polarer Begabungen zur Geistwelt. Dieser Spur geht Steffen Hartmann in seinem jüngsten Buch sorgfältig nach.


Der Autor tut es in Form einer Karma­studie zu Rudolf Steiner und Ita Wegman. Er vertieft damit Margarete und Erich Kirchner-Bockholts Studie von 1976, ‹Die Menschheitsaufgabe Rudolf Steiners und Ita Wegman›, und geht darüber hinaus. Hier wird die neue Generation anthroposophisch Forschender sichtbar. Es ist eine ungewöhnliche, aber wohltuende Erweiterung des Bandes durch zahlreiche Stimmen, die das Ihre zur Vertiefung der Sichtweise beitragen: M. Betti, G. Kleber, A. Bischof, J. Greiner, C. Zeylmans van Emmichhoven, A. Kimpfler, C. Gleide. Diese Tatsache allein löst schon die Schlussforderung ein: Ein künftiges Mysterienwesen innerhalb der Anthroposophie werde ein Gemeinschaftswesen sein müssen. Es wird also weniger drauf ankommen, wer allermeist recht habe, sondern wer über seinen Schatten springen und auch andere gelten lassen könne.

Hartmann geht von der Beobachtung eines Arbeitskreises nach neunmonatiger Corona-Krise aus – wo ein jeder, eine jede mit 1,5 Metern Abstand Platz nimmt, Raum ist für die Aura auch des Nachbarn, wo in der langen Pausenzeit etwas hatte reifen und wachsen können. Dieser Duktus zieht sich wohltuend durch das ganze Buch auf über 300 Seiten. Es spannt ein Zeitdach von mehr als 3000 Jahren, ausgehend vom Tierkreis der Gilgamesch-Tafeln aus der Euphrat-Tigris-Kultur. Immer steht im Mittelpunkt freundschaftliches Zusammenfinden in Verantwortung für Geist- und Mysterienwesen und zieht sich durch Zeiten und Kulturen.

Wie vollzieht sich dieses Erkennen von Geist im Entwicklungsgang Rudolf Steiners? Dessen berühmter Studentenbrief vom Januar 1881 kommt zur Sprache, kurz vor seinem 20. Geburtstag. Als eine weltgeschichtliche Pioniertat schildert Hartmann die drei elementaren Bausteine dieses Entwicklungsgangs: reinste Ich-Erkenntnis, allseitiges Erkennen des Erkennens, inneres Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha. Dabei verweist der Autor auf Hans Erhard Lauers ‹Wiedergeburt der Erkenntnis›, welches er als eines der bedeutsamsten Bücher des 20. Jahrhunderts zitiert. Dabei entsteht die Frage, wie der Übergang zu denken sei von der Nietzsche-Begeisterung, wie sie im Brief Rudolf Steiners an Pauline Specht vom 23. Dezember 1894 zum Ausdruck kommt, zur christlichen Esoterik nach der Jahrhundertwende. Kaj Skagen hat diese Entwicklung, die kein Bruch, vielmehr Entfaltung war, Friedwart Husemann aufgezeigt.

Aufschlussreich und bereichernd sind die Hinweise Hartmanns auf die Alexander-Zeit, wie sie in den Romandichtungen von Jakob Wassermann und Klaus Mann zur Darstellung kommen. Letzterem schreibt er die Eigenheit zu, er sei einer der seltenen Fälle, wo die Dichtung wahrer werde als das wirkliche Leben: nämlich in der Schilderung des Gilgamesch-Epos während eines Festgelages, um Alexander daran seine Sterblichkeit deutlich zu machen – Gilgamesch im Spiegel der Worte seines Freundes Kleitos.

Manche werden mit Gewinn und wachsendem Interesse von den vier Individualitäten lesen, mit denen Ita Wegman sich in besonderem Maße verbunden zeigte: Alanus ab Insulis, Brunetto Latini, Christian Rosenkreutz, Richard Wagner. Sogleich steigt die Frage auf, was es denn sei, was diese vier miteinander verbindet?

Sachlich und gründlich werden die Schicksalsbeziehungen zwischen Marie Steiner, Edith Maryon und Ita Wegman in der Dornacher Brandnacht Silvester 1922 bewusst gemacht; wie im Verlauf des Buches auch die Beziehung eben von Marie Steiner zur Gilgamesch-Zeit beleuchtet wird. Es kommen auch weitgehend randstämmige Namen wie Ballmer, Tomberg, Wehr, Poeppig, Beckerath, von Gleich unerschrocken zur Sprache.

Wie M. Betti im Vorwort schreibt: Das Buch ist eines der Hoffnung, der Freundschaft, der Empathie, eine Musik der Zukunft für fruchtbares Zusammenwirken auf der Basis erneuerter Mysterien und ein Weiterverfolgen der Weihnachtstagung, auf deren 99-jährige Wiederkehr wir zugehen. Es grenzt nicht aus, polemisiert nicht, klagt nicht an. Steffen Hartmann fragt geradezu: Könnte es sein, dass das Schicksalsjahr 2020 uns individuell und kollektiv Erneuerungserlebnisse, Verjüngungsmöglichkeiten und Auferstehungskräfte gebracht hat? Es ziehen sich von unserer Gegenwart Fäden zu den Vorgängen im alten Uruk. Von hier gingen und gehen Initialfragen und Initialhandlungen aus, die sich in die tägliche spirituelle Arbeit fortsetzen: Es ist ein Stück Selbsterkenntnis, diese Fäden zu verfolgen bis in das Zusammenwirken anthroposophischer Institutionen und Individualitäten hier und jetzt.

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