Ich fühle

Fühlend bildet sich die Seele einen Raum. Gefühle eröffnen ihr Dimensionen. Die Welt wird farbig in ihr.


Es geschieht beim Lesen der ersten Zeilen dieses Textes, und es geschieht feiner mit jedem Aufschlag der Augen, Einströmen neuer Luft durch die Nase: Ich und Welt, Innen und Außen begegnen sich. Was so auf die Seele zukommt, dem antwortet sie mit einem Gefühl. Wären wir Komponisten, hätten wir mit solcher Brandungswelle aus dem Innen und Außen eine Melodie im Ohr, wären wir Malerinnen, wäre es ein Pinselstrich. Es ist unsere Betriebsamkeit, der Lärm des Alltags, wodurch dieses immerfort gesungene innere Lied verebbt, beinahe verstummt – und dennoch: Es ist da! Die Seele beginnt zu sterben, wenn sie aufhört, dieses Echo in sich zu erzeugen. Das ist wohl die wichtigste Einsicht: Wir selbst bringen das Gefühl hervor, wir selbst werden wütend, traurig, froh und ängstlich, weil wir über die Welt denken.

Elemente der Seele

‹Wie geht es dir?› Diese Frage, so alltäglich sie scheint, zielt auf den Kern unserer Seele, zielt auf ihr Intervall zur Umgebung – und das macht die Seele aus. Mal klingt es harmonisch, mal spannungsreich, mal lädt uns die Umwelt ein, mal weist sie zurück. Gefühl ist die aus der Urzeit stammende Regung, den eigenen Zustand zu erfahren. Seit das Leben aus einem Lebensmeer sich sonderte, sich eine Haut gab, hat es gelernt, vom eigenen Befinden zu wissen, und wurde so fähig, dem günstigen Milieu zu folgen – als Antwort auf die Trennung. Es ist die Homöostase, die Kraft des Lebens, den Organismus ins Gleichgewicht zu bringen. Was die einzelne Zelle dazu führt, sich ins Licht zu bewegen, wenn sie dessen Abwesenheit erfährt, das wallt in unserer Seele als Gefühl. In vier Grundfarben strömt es durch uns und ist wie die Welt, auf die es antwortet, aus den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer gebaut. Das Gefühl, das uns tanzen und fliegen lässt, wenn wir Ja sagen zu allem, Ja sagen zum Leben, ist wie Luft. Außen und Innen sind gut und somit ist alles gut – das Gefühl der Freude durchströmt uns. Jedes Gefühl birgt eine Kraft. Freude schenkt, was die Luft schenkt: Vitalität und Anziehung. Die lächelnden Gesichter der Werbeplakate zeigen dabei, was die Freude als Schatten im Gepäck hat: Oberflächlichkeit und Illusion.

Wie anders ist das Gefühl, wenn die Umgebung nicht unserem Inneren entspricht, wenn ‹Das ist falsch› als Urteil fällt. Dann steigt wie ein Feuer die Wut in die Glieder. Das Herz pocht. Die Wut mobilisiert die Kraft in uns, alles was stört, zu beseitigen, was wir als falsch verstehen, zu korrigieren. Das kann harmlos sein: Da fährt die Hand über die Lippen, um einen Brotkrümel wegzustreichen, greift die Hand zum Boden, weil ein Stift herunterfiel: Feine Wut ist der Auslöser. Die Verneinung weckt die Wut und die Wut weckt die Stärke, Richtigkeit, Klarheit herzustellen. Schlägt das Pendel ins Negative, so wird aus dieser Ordnung Zerstörung.

Doch was geschieht, wenn wir begreifen, dass die Welt zwar anders ist, als wir es wollen, wir es aber nicht korrigieren können? Dann ist es nicht ‹falsch›, was uns begegnet, sondern ‹schade›, dann ist es nicht Wut, sondern Trauer, die als Gefühl den Leib durchströmt. Die Trauer schenkt der Seele eine nicht mindere Kraft, sie macht uns fähig, anzunehmen, was wir nicht ändern können, Ja zu sagen, zu dem, was jenseits unseres Willens ist. Vom morgendlichen Blick auf Regenwolken bis zum Liebeskummer oder der Nachricht über den Verlust eines Freundes: Stufen des Bedauerns, der Trauer. Dieses Gefühl schenkt die Kraft, sich dem zu fügen, was nicht zu ändern ist, und so wächst als Frucht aus ihr die Demut und mit der Demut die Liebe. «Wer nie sein Brot mit Tränen aß […]», so versichert Goethe, dass zur Schule der Liebe die Trauer gehöre. «Trauern ja, hadern nein», sagte der Liedermacher Reinhard Mey zum frühen Tod seines Sohnes. Wie weise: Man solle nicht Wut an die Stelle der Trauer rücken.

Was ist, wenn das Falsche, das uns begegnet, so ungreifbar, so unfassbar ist, sodass wir es nicht ändern können und noch weniger annehmen? Dann kommt das vierte Gefühl, das Gefühl der Erde ins Spiel: die Angst. Der Atem wird flach, die Haut kalt. Nicht anders als bei Trauer, Wut und Freude nimmt der ganze Leib Anteil an dem Gefühl. Du stehst auf dem Dreimeterbrett, die Augen deiner Mitschüler und -schülerinnen sind auf dich gerichtet und du sollst springen. Es gibt kein Zurück und kein Vorwärts. Die Angst lässt dich frösteln. Was nun? Auch hier schlummert eine Kraft: die Kraft der Verwandlung. Du fasst deinen Mut und springst und wirst im Sprung ein anderer. Die Angst führt uns an die Schwelle und über die Schwelle. Hier liegt ihre Kraft der Verwandlung.

Nicht gefühlte Gefühle

Ich kenne einen Sprachgestalter, der bat seinen Arzt, ihn vor der Angst vor dem Publikum zu befreien. Darauf sagte der Arzt: «Das Lampenfieber kann ich dir nicht nehmen, denn das treibt dich, vom alltäglichen Menschen zum Bühnenmenschen zu werden. Ich kann dir nur helfen, dich dieser Angst zu stellen, sie in Mut zu wandeln.» Wir sind allerdings nicht alleine damit, Trauer, Angst und Wut als negative Gefühle abzulehnen. Es ist auch die allgemeine Haltung. Wir wünschen dem trauernden Vater, dass sein Schmerz bald nachlässt, wir ermahnen die wütende Geflüchtete, sich zusammenzureißen, und beschwichtigen den ängstlichen Fahrschüler. Ein und dieselbe Botschaft: Trauer, Angst und Wut sind negative Gefühle, die der Freude im Weg stehen. Doch es ist anders: Trauer, Angst und Wut sind dann schädlich, wenn wir sie nicht fühlen, wenn wir sie verdrängen, verneinen, übertünchen. Dann sinken sie hinab, dann bewahrt der Leib sie für uns auf. Es gehört zur Weisheit des Lebens: Gefühle, die uns überfordern, werden in der Tiefe unseres Leibes verwahrt und klopfen später von Neuem im Bewusstsein an, um gefühlt zu werden und sich in eine Kraft zu verwandeln. Wo wir dieses Widerkäuen der Gefühle nicht leisten, wird aus Schmerz ein Leid.

Das fünfte Element

In der Seelenarithmetik von falscher und richtiger Umwelt, von annehmbar und unerträglich, gibt es einen fünften Fall: Die Außenwelt erscheint uns stimmig und richtig, aber wir selbst empfinden uns daneben. «Wer hat die Schokolade aus dem Kühlschrank genommen?» Man schüttelt den kleinen Kopf – und weil die Lippen noch verschmiert sind, wird man überführt. Es gehört zu den Lehrstunden der Kindheit, es ist die Schule des Gewissens, dass man mit einer Lüge auffliegt, mag sie noch so ‹süß› sein. Scham steigt in den Kopf, aber anders als bei der Wut, wo sich das Falsche draußen abspielt, ist es jetzt im Innern. Scham ist das einzige Gefühl, das sich ganz nach innen wendet, uns selbst richtet, aufrichtet und in die Selbsterkenntnis führt. Adam und Eva schämen sich, dieses Gefühl schickt sie auf die Reise, Mensch zu werden. Freude, Wut, Angst und Trauer gibt es im Tierreich, die Scham aber nicht. Gefühle sind Arme der Seele. Mit Hunger, Müdigkeit und sogar Verliebtsein ergreift die Seele den Leib, beseelt unseren Körper – mit Treue, Demut und Liebe langt sie hinauf, beseelt den Geist. Sich selbst ergreift sie mit Freude, Wut, Angst, Trauer und Scham. Wenn wir Gefühle fühlen, wächst die Seele, dann schenken die Gefühle uns die Kraft, uns zu verwandeln, alles zu verwandeln.


Illustration Grafikteam der Wochenschrift

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