‹Heute darf man nichts mehr sagen!›

Oder: Was will ich eigentlich sagen?


Gendersternchen, Doppelpunkte, inklusive Sprache, Rassismus, Feminismus … nicht oft fahren die Emotionen so hoch, und auch fest. Sprache betrifft uns – sie rührt an unser Denken, an unser Innerstes, an unsere Freiheit. Sprache offenbart uns. Sie zeigt ausdrücklich oder implizit, was wir denken, wen wir bedenken, welcher Glaube unser Denken rahmt. Die Sprache ist unsere gemeinsame Identität, die sich in den Einzelnen verankert. Heute scheint nicht mehr klar zu sein, was die Gemeinschaft hinter der Sprache ist. Aller Beharrlichkeit und Macht der Gewohnheit zum Trotz hat das kulturelle Selbstverständnis in der westlichen Welt Risse. Nicht nur spirituelle Schwellen werden überschritten, auch irdisch definierte Grenzen sind verschwommener. Wirtschaftsinteressen haben unsere Schicksale eng verbandelt und uns einander ausgeliefert; Kapitalisierung und Technisierung haben Korridore zwischen den vormaligen Gemeinschaften gebahnt: für Menschen, für Unternehmungen, für Informationen. Da, wo das Kapital und die Technologie stark sind, ist die sprachlich-kulturelle Durchmischung hoch. Die Grenzen der Nationalstaaten wirken immer artifizieller. Wenn sich die Sprachdebatten wie Glaubenskämpfe anfühlen, dann, weil die Sprache ein Haltegriff ist in einer verschwommenen Welt. Die Wut, wenn die Grenzen dessen, was (oder vielmehr wen) die Sprache umfasst, befragt werden, erhellt sich aus diesem Blickwinkel. Wir wollen nicht stottern. Wer ins Stottern gerät, wirkt unsicher und vielleicht inkompetent. Doch bei all der Empörung wird die eigentliche Schwelle, an der wir stehen, meist übersehen. Die Frage, die sich uns allen nähert, handelt nicht von Schuld oder Ordnung der Sprache. Es geht nicht um technische Lösungen, sondern um eine empathische Heilung. Ich muss mich nicht fragen: ‹Was darf ich noch sagen?› Aber ich will mich fragen, wie ich dich verstehen kann. Darin liegt ein Same. Stottern wir uns frei!


Foto Jacek Dylag

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