Götz Werner, der Allesverschenker

Ein Moment, wie er Hunderte Mal geschah und ich ihn, wenn wir zusammen zu Vorträgen unterwegs waren, in Teilen miterleben durfte: Götz Werner besuchte in allen Städten, in die er kam, seine dm-Filialen. Nicht, wie man meinen könnte, den Filialleiter zum Gespräch, sondern er sprach mit allen Mitarbeitenden, denen er begegnete, ganz persönlich, herzlich, interessiert, fragte, wie es ihnen geht, wie ihnen die Arbeit gefällt oder wie sie die Menschen wahrnehmen, wenn sie an der Kasse stehen. Nicht auf Äußeres zielten seine Fragen, sondern immer auf das Herz, auf die Beteiligung, das Engagement der Menschen.


Einmal lehnte er sich bei einem solchen Filialbesuch mit einer Mitarbeiterin an ein Regal, wobei ein Regalbrett herunterfiel, weil es nicht richtig befestigt war. Da sagte die Verkäuferin, dass das schon länger kaputt sei. Sie habe das dem Marktleiter gesagt, aber er habe noch nichts unternommen. Zu was führte das? Götz Werner sagte, dass es doch absurd sei, wenn sie, die das Problem sehe, es dann nicht selbst lösen könne, sondern warten müsse, bis ihr Vorgesetzter es entschieden habe. Es müsse doch so sein, dass jeder selbst entscheiden und die Probleme in seinem Arbeitsfeld selbständig lösen kann. Nach diesem Ereignis änderte er die Organisation seines Unternehmens. Hier sieht man Götz Werners unglaubliches Vertrauen auf die Kraft des Denkens, der Erkenntnis – der eigenen, aber mehr noch der in allen Menschen. Man muss den Menschen nicht Anweisungen geben, sondern man muss sie darin unterstützen, Zusammenhänge zu verstehen. Dann sind sie selbst fähig und motiviert, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Jeder Mensch ein Unternehmer

Ich glaube, dass das viel zu wenig gewürdigt ist, dass er bei dm diese Kultur einer selbstbestimmten Arbeit und dialogischen Zusammenarbeit als Modell und Vorbild für alle anderen Unternehmen begründet und fortwährend weiterentwickelt hat. Götz Werner hat nicht nur mit Europas Marktführer im Drogeriehandel einen enormen Unternehmenswert geschaffen, er hat vor allem auch 66 000 Menschen ermöglicht, sinnerfüllt zu arbeiten. Sein Bild war und ist, dass in jedem Menschen diese Fähigkeit zur Selbstverantwortung schlummert. Wenn Joseph Beuys uns zuruft: «Jeder Mensch ist ein Künstler!», dann ruft Götz Werner: «Jeder Mensch ist ein Unternehmer!»

Zu jedem Menschen hatte er dieses Vertrauen, dass in ihm das Denken die Wirklichkeit zugänglich machen, dass er oder sie denkend die Wirklichkeit durchdringen und verstehen und sie auch entsprechend verändern kann. Während wir allzu oft nur auf abstrakte Ideen schauen und dabei die Menschen vergessen und so die Ideen zu Systemen oder Ideologien werden oder wir umgekehrt nur auf unsere Mitmenschen schauen und dabei den klaren Gedanken verlieren, waren bei Götz Werner beides zwei nicht trennbare Seiten einer Medaille – das Denken und die Mitmenschlichkeit.

Er wollte sein Unternehmen so bauen, dass alle, die darin arbeiten, fähig werden, selbständig Entscheidungen zu treffen. Deshalb sollte auch jede/r von seinem Platz aus das Ganze übersehen. Viel zu wenig bekannt ist daher eine erste bahnbrechende Innovation, mit der er überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schuf: die Wertbildungsrechnung im Unternehmen so transparent zu machen, dass jeder Mitarbeitende an seinem Platz sehen konnte, wo das Ganze steht und wie er dazu beiträgt. Wenn jeder diesen dynamischen Überblick hat, dann, so Götz, muss man den Leuten doch nicht sagen, was zu tun ist, dann kann jeder in seinem Rahmen, in seiner Kompetenz sehen, was am besten ist.

In Erinnerung habe ich Götz Werner vor allem in dieser besonderen Haltung: aufrecht, mit wachen Augen und mit leicht geneigtem Kopf. Er hörte jemandem zu, der ihm von einer Idee, einem neuen Gedanken erzählte. Das machte für ihn die menschliche Begegnung aus, das schenkte ihm diese unglaubliche Freude, die er an dem Gedanken eines anderen Menschen hatte, das ließ ihn bis in die letzten Lebensjahre hinein ein Lernender, ein Schüler sein. Sobald die Gedanken seiner Mitmenschen aber ausgedacht oder abstrakt wurden, verlor Götz Werner das Interesse. Es musste immer aus dem Menschen kommen, mit dem Menschen verbunden sein. Bei Götz Werner war der Gedanke selbst schon eine Tat. Tätigsein und Denken – wie oft sehen wir beides als Gegensätze! In dem philosophischen Unternehmer, dem unternehmerischen Philosophen Götz Werner feierten beide eine Einheit. Das macht eine große Persönlichkeit aus, dass sie scheinbar Widersprüchliches in sich zu vereinen mag.

Götz Werner und ich waren öfters zu Veranstaltungen zusammen eingeladen, wo wir uns dann nebeneinander auf dem Podium fanden. Wir sprachen meistens über das bedingungslose Grundeinkommen – oft aber sprach ich auch über direkte Demokratie. Einmal kam er nach einer solchen Veranstaltung auf mich zu. Da sagte er, dass ihm die Idee der direkten Demokratie bisher nie viel bedeutet habe, jetzt aber habe er erkannt, dass bedingungsloses Grundeinkommen und direkte Demokratie zusammengehörten, weil es um den gleichen Gedanken der Selbstertüchtigung gehe, einmal wirtschaftlich, einmal politisch. «Lassen Sie uns zusammenarbeiten!», rief er – und so kam es dann auch zu einer langen, fruchtbaren Zusammenarbeit vor allem mit dem Omnibus für direkte Demokratie und Johannes Stüttgen. Hier zeigt sich eine weitere Charakteristik von Götz Werner: Er war in seinem Denken hochgradig beweglich und hatte zugleich diese enorme Gedanken- und Entschlusskraft.

Gegenüber dem Goetheanum war Götz Werner damals skeptisch, sein Bild von vergangenen Erlebnissen geprägt. Er vermutete dort eine aus der Zeit und Welt gefallene Anthroposophie und riet mir ab, dem Ruf in die Leitung der Sozialwissenschaftlichen Sektion zu folgen. Auch von ‹Dreigliederung› wollte er nicht mehr reden, ihm schien das abstrakt. Er kam aber doch, mit Familie, zumindest kurz zu einer meiner ersten sozialwissenschaftlichen Tagungen, auf der Durchfahrt ins Schweizer Ferienhaus. Wieder gab es eine Überraschung: Ein Vortrag zur Aktualität der sozialen Dreigliederung hatte ihn so elektrisiert, dass er seiner Frau eröffnen musste, er wolle für die ganze Tagung bleiben. Wieder war es die Idee, die ihn überzeugte und ihn so bewegte, dass er alles umwarf. Er konnte sich Ideen erlebend gegenüberstellen – und sie wurden ihm zum Ideal, änderten ihn, seine Pläne, sein Handeln, sein Leben, die Welt!

Arbeit gehört zum Menschsein, sie prägt uns ins Dasein – und bestimmt einen Großteil unseres Lebens. Diese Arbeit zu befreien, von Abhängigkeit, von falscher Fron, Last und Zwang, war ein Motiv seines Lebens. Das Glück, wenn Arbeit sinnerfüllt ist und man diesen Sinn erfährt, diese Idee brannte als ein Feuer in seiner Seele. Dieses Glück wünschte er für alle Menschen. Man darf nicht für Geld arbeiten, das macht den Menschen kaputt. Im bedingungslosen Grundeinkommen wurde aus diesem Feuer eine Kampagne und der Unternehmer Götz Werner eine prägende Persönlichkeit in Kultur und Politik.

Wie bei jeder Kampagne kommt es auf die Idee an, auf den Menschen, der sie zu seiner Sache macht, und auf den richtigen Zeitpunkt. Nichts ist stärker als eine Idee, für die die Zeit gekommen ist! Es gab ja Initiativen zum Grundeinkommen schon in den 80er-Jahren, doch wer damals vom Traum einer bedingungslosen Grundfinanzierung für alle sprach, der oder die hörte bald ‹Geh nach drüben!›. Damals war die Welt noch geteilt und der Kommunismus oder Sozialismus diente als Beweis, dass alles, was nicht aus Egoismus und Konkurrenz geboren war, zum Scheitern verurteilt sei. Der Kapitalismus mochte seine Schattenseiten haben, aber er schien das Erfolgsmodell zu sein, Eigennutz und Profit der einzig mögliche Antrieb zum Arbeiten. Die Bereitschaft, diese Ideologie infrage zu stellen, wuchs erst wieder nach dem Fall der Mauer.

Das bedingungslose Grundeinkommen

Dann kam Götz Werner. Er war durch Rudolf Steiner, vor allem seinen ‹Nationalökonomischen Kurs›, den er ausführlich studiert hatte, auf den Gedanken der notwendigen Trennung von Arbeit und Einkommen und durch seinen lebenslangen Gesprächspartner Benedictus Hardorp auf die Idee des Grundeinkommens gekommen und hatte sich diese zu eigen gemacht. Mit Götz Werner bekam die Idee Fahrt! Er warb unermüdlich für den Gedanken, unterstützte Menschen und Initiativen, machte aber einen Bogen um die Organisationen, die sich hier bildeten. Werner wollte frei bleiben und konnte so mehr für die Idee des Grundeinkommens tun. Seine unternehmerische Erfahrung und sein wirtschaftlicher Erfolg waren der Goldgrund seiner Argumente. So einfach sie manchmal wirkten, so tief und wirkungsvoll waren sie kraft seiner Persönlichkeit. Seine Willenskraft gab der Idee des Grundeinkommens das Feuer. Dabei ging er bewusst nicht auf das gefährliche Terrain der Zahlen und des Durchrechnens. Er sagte immer – wissend, wie falsch jede solche Rechnung nur sein könne –: Sie müssen es erst einmal denken! Er wollte die Menschen für die große Idee gewinnen, für eine Idee, die jeden befreien kann! Viele haben diese Befreiung erlebt, wie eine Kraft, die sie innerlich nach oben zieht.

Bei manchen Veranstaltungen wie der Schweizer Abstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen haben Aktivisten allen Menschen, die vorbeikamen, Goldkronen aufgesetzt. Das bringt ins Bild, was bei diesem Gedanken passiert: Es hebt, es adelt den Menschen, wenn er begreift: Du bist etwas wert, du hast Fähigkeit, du hast Würde und du darfst ein vollgültiger Mensch sein unter Menschen, menschenwürdig unter Menschen leben, ohne dir diesen Rang erst verdienen oder erarbeiten zu müssen. Es gilt nicht mehr, sich seine Existenz erst zu verdienen, im Schweiße des Angesichts. Nein, wir sorgen füreinander. So wie du bist, hast du diese Existenz und diese Sorge verdient. Und wir wollen jetzt dein Bestes kennenlernen! Wir wollen, dass du es zeigst, praktizierst und damit deine Fähigkeiten entwickelst zum Wohle der anderen. Diese Idee hebt uns Menschen innerlich. Sie hat auch ihn erhoben. Sie hat, was er zunächst scheinbar für sich errungen hat, in Liebe verwandelt. Er hat mit (und manchmal auch aus) ihr gelebt und er wollte dieses Feuer weitergeben: dass wir jeden Menschen als freie Persönlichkeit schätzen, dass jeder diese Freiheit entwickeln kann, dass jedem eine eigene Würde zukommt – und dass das nicht etwa als frommer Spruch unter uns lebt, sondern als Entschluss und Tat mit allen Konsequenzen. Wie wirklichkeitsgesättigt, wie voller Leben diese Idee ist, das bewies Götz Werners wirtschaftlicher Erfolg. Denn auch hier war sein Antrieb nie der materielle Profit, sondern der Wille, Menschen Freiheit und Entwicklung zu ermöglichen, sodass diese in der Folge besser für andere Menschen da sein konnten.

Sich selbst zu befreien, ist eine Mutfrage. Das spürte man auch in der Begegnung mit Götz Werner. Im Gespräch nahm er kein Blatt vor den Mund. Er sagte, was er meinte, und das musste man aushalten. Gleichzeitig war diese Offenheit frei von autoritärer Anmaßung, vielmehr lag die Autorität in der Wahrheit, auf die man gemeinsam zusteuerte. So galt in jedem Gespräch Augenhöhe. Er war neugierig, begierig, zu erfahren, und, wo immer möglich, von anderen zu lernen. Jedes Gespräch konnte dafür Gelegenheit sein – und es ist wohl diese Offenherzigkeit, dieser Wärmestrom, der sich dann auch in feinster Verdünnung in den Filialen von dm wiederfindet. Interessant ist, dass er nicht nur den ersten dm-Markt am 28.8., an Goethes Geburtstag, eröffnet hat, sondern dass auch der aus dem ‹Faust› entlehnte Spruch ‹Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein› sich bis heute hielt. Das geht ja nur, wenn es sich in der Erfahrung der in dm-Märkten einkaufenden Menschen wiederfindet.

Ein ökonomisches Vorbild war für Götz Werner Gottlieb Duttweiler, der Schweizer Unternehmer, Politiker, Schriftsteller und Gründer des heutigen Marktführers Migros als Genossenschaft mit der Einrichtung des ‹Kulturprozentes›, einer Verpflichtung zur Förderung von Geistesleben und Kultur. Die Entdeckung seines Lebens aber war für Götz Werner Rudolf Steiner. Er fand bei ihm eine Quelle von Inspiration wie innerer Schulung. So führte ihn sein Weg auch zu Angelika Sandtmann, Karl Martin Dietz, Thomas Kracht und Rudy Vandercruise vom Heidelberger Hardenberg-Institut. 1991 holte er sie – wie eine Reihe weiterer Anthroposophinnen und Anthroposophen – in sein Unternehmen, um dort – teilweise nach einjährigem Praktikum auf allen Feldern des Unternehmens – mit allen Mitarbeitern an der Entwicklung der Kraft lebendigen Denkens und Handelns zu arbeiten. Diese Fortbildungen richteten sich an alle, von der Abteilungsleiterin bis zum Lagerarbeiter.

Weite Flügel und tiefe Wurzeln

Jeder Mensch kann denken und sollte es fortwährend üben und lernen, denn nur denkend erschließe ich mir mich selbst und die Welt. Dies zu praktizieren und mit allen Mitarbeitern zu üben, war ein Grundmotiv seines Wirkens. Ein zweites war aus meiner Sicht die ‹Begegnung›, denn hier, im Dazwischen, liegt der Treibstoff für das Denken wie für das Tun. Daraus entwickelte er – stark von K. M. Dietz unterstützt – das Prinzip der dialogischen Unternehmensführung. Ein drittes Motiv schließlich war für Götz Werner ‹Verantwortung›. Jeder sollte an seinem Platz Verantwortung tragen, tragen können und dürfen. Jeder sollte entscheiden. Es ging ihm auch hier um das Selbständigwerden jedes Menschen. Er wollte Schluss machen mit alten Formen der Unterordnung und richtete sich gegen alles, wo Menschen Ausführende eines fremden Willens sind. Dabei war es vermutlich vor allem die durch die Anthroposophie erlebte Selbsterfahrung des lebendigen Denkens, die ihn inspirierte und diese Ideale zum Leuchten brachte. Auch im Urlaub trug er Bücher von Steiner im Koffer mit und las darin – besonders in der ‹Philosophie der Freiheit›, wo Rudolf Steiner diese Kraft und Qualität des Denkens entwickelt. Es ist der Gedanke, der uns die Wirklichkeit erst zugänglich macht. Abstraktionen – oft auch Zahlen – verdecken manchmal mehr, als sie offenbaren. Auch deshalb winkte er ab, wenn er nach einer Kalkulation für das Grundeinkommen gefragt wurde. Er wollte die große Idee vermitteln. Die Menschen würden schon selbst die Wege finden. Dabei wusste jeder, dass er selbstverständlich Szenarien gerechnet hatte. «Wer etwas nicht will, findet Gründe – wer etwas will, der findet Wege», so konterte er manch skeptischen Einwurf. Er blieb hier ein realistischer Idealist. Untergründig schwang dann Novalis mit: «Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen.»

Willenskraft und die Gewissheit, was Gedanken bewirken können, das hat Götz Werner weite Flügel und tiefe Wurzeln wachsen lassen. Dabei ging und geht es immer um den Menschen, die Menschen, dass sie frei werden, befreit werden, sich selbst zu entfalten. Das ist der anthroposophische Topos des Menschen als werdender Mensch. Wenn so Wille und Gedanke dem Menschen dienen, dann ist das, was hinter der Willensenergie steht, was durch die Gedankenkraft leuchtet, die Liebe.

Ein Mensch mit solcher Energie eckt natürlich auch an. Das fing schon in Schule und Elternhaus an. Er blieb sitzen und verließ die Schule nach elf Jahren. Im väterlichen Betrieb tat er sich schwer. Götz wollte zu viel ändern. Der Vater warf ihn raus, hielt nichts von den ‹spinnerten› Ideen des Sohns. Auch im nächsten Unternehmen blieb er nicht lange. Bis er sein eigenes gründete. Was mit einem einzigen Laden begann, ist heute ein Unternehmen in 14 Ländern mit über 2000 Filialen. Götz Werner wollte es nicht für sich, sondern für die Menschen. So hat er seine Anteile in eine Stiftung eingebracht, hat das Unternehmen ‹verschenkt›. Mit dem Unternehmen ist es letztlich genau wie mit dem Denken, mit der Erfahrung, mit dem Gelernten – und genau wie mit der Idee des Grundeinkommens, die jeden Menschen zum Unternehmer machen will: Man kann am Ende nichts besitzen, sondern nur teilen. Alles wird stärker, je mehr man es verschenkt. Götz Werner hat früh damit angefangen.


Bilder: Goetz Werner, Fotograf: Stefan Pangritz

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare