Durch die Sprache des Schicksals: Wilfried Hammacher

«Der Schauspieler fühlt ja genau, was ihm von seinem Hörer-Zuschauer entgegenkommt. Ja, so gut, so schlecht gelingt ihm sein Spiel, wie gut, wie schlecht ihm diese Zwiesprache gelingt. Der Bühnenkünstler überhaupt wird die Resonanz auf sein Tun aber erst in seiner Rückschau nach dem Tod wach und wirklich erfahren.»


Diese Worte, die Wilfried Hammacher (14. April 1928 – 5. Januar 2021) schon vor zehn Jahren niederschrieb1, erscheinen jetzt wie ein Wegweiser zu ihm, «zu dem Ort seiner Seele»2, von dem aus er nun seine weiteren Wege geht. Von der Klarheit, mit der er später seine Wege ging, sich mit bestimmten Lebensimpulsen tief verbindend oder, wo er andere Erfahrungen machte, auch deutliche Distanz wahrend, leuchtete schon etwas auf am Anfang seines Erdenweges. Der Vater war Schauspieler und kam auf eigenen Schicksalswegen dazu, noch das Erste Goetheanum zu erleben und Vorträge von Rudolf Steiner zu hören. Was er über Sprachgestaltung vernahm, beeindruckte ihn, aber ohne dass er sich schon mit der Anthroposophie identifizieren konnte. Nach Rudolf Steiners Tod sah er Dornach wieder als Mitglied der Haaß-Berkow-Schauspieltruppe. Den definitiven Wechsel dieser Truppe nach Dornach machte er dann aber nicht mit, weil er die Brücke von der ‹Sprachgestaltung› zum ‹Schauspiel› nicht sehen konnte. Die berufliche Laufbahn verlief nun an staatlichen Theatern. Allein an den ‹Sprachübungen› hielt er lebenslang fest. Dieses ‹zweite› Leben, sein eigentliches, führte auch zu einer zweiten Ehe. Er trennte sich von seiner Frau und der vier Jahre alten Tochter, wie auch von der Anthroposophie – kurz nach der Geburt von Wilfried. «In diese karmische Entscheidung und ihre Folgen wurde ich hineingeboren.» Die Mutter litt sehr unter der Trennung. Wilfried aber hatte immer auch ein gutes Verhältnis zu seinem Vater.

Mit 14 Jahren die erste Regie

Wilfried Hammacher, z. V. g.

Jetzt begann für die katholisch aufgewachsene Mutter eine intensive Beziehung zur Anthroposophie! Die ältere Schwester Helga war schulreif geworden. So erfolgte 1931 wegen der Waldorfschule die Umsiedlung von Bonn nach Stuttgart. Dort bezog die dreiköpfige Familie eine 1½-Zimmer-Dachwohnung. «Trotz der ganz beschränkten Lebensverhältnisse hat unsere Mutter es verstanden, uns diese nie erleben zu lassen.» Die Einschulung von Wilfried kam 1935, als das Aufnahmeverbot für neue Waldorfschüler schon im Kommen war. Aber wie durch ein Wunder war es noch einmal möglich, dass eine 1. Klasse eröffnet werden durfte mit Martin Tittmann, dem sehr geschätzten Klassenlehrer. Als die 3. Klasse zu Ende ging, wurde die Waldorfschule geschlossen – ein großes seelisches Drama für alle Betroffenen, in dem die Schüler auch weinende Lehrer zu sehen bekamen. Nur eine einzige, durch besondere Beziehungen noch erlaubte Waldorfschule gab es in Dresden, bis auch hier die endgültige Schließung erfolgte. Zwei Schuljahre konnte Wilfried Hammacher hier noch verbringen. Dann kam für den Sechstklässler ab 1942 die dritte Schule, jetzt am Bodensee gelegen: die Schlossschule Gaienhofen – eine noch nicht (an den Nationalsozialismus) angepasste Schule.

Hier hatte er nun ein entscheidendes biografisches Erlebnis. Von seinen älteren Klassenkameraden wurde er – noch als 14-Jähriger – gefragt, mit ihnen ein Theaterstück einzustudieren (‹Des Kaisers neue Kleider›). Das Ergebnis war so überzeugend, dass er noch weitere viermal einen solchen Regieauftrag bekam. Dieses Erlebnis kam einer inneren Weichenstellung gleich: «Damit stand der Beruf fest.»

Nach Kriegsende zog die Familie wieder nach Stuttgart, in die zertrümmerte Stadt. Großenteils fanden sich dort auch wieder die alten Klassenkameraden ein, jetzt als Zwölftklässler. Als Abschlussspiel wurde Shakespeares ‹Der Sturm› einstudiert unter der Regie von Erich Schwebsch. Und wieder kam etwas wie ein Nachklang des Erlebnisses auf der Schlossschule. «Dr. Schwebsch kam montagabends für zwei Stunden und regte den Stil der Charaktere und der poetischen Sprache auf seine geniale Weise an … Die verbleibenden sechs Tage der Woche blieb die Regie an mir hängen.» Er hatte ja schon das Erlebnis – «Damit stand der Beruf fest.» – mitgebracht. Aber als er dann nach der 12. Klasse die Schule verließ, ging er dennoch nicht in die Sprachausbildung. Warum?

Den Schlüssel empfangen

Es gab noch ein anderes Erlebnis auf der Schlossschule: 1944 – mit 16 Jahren – war er dort schon der Dornacher Sprachgestaltung begegnet in Gestalt einer Sprachgestalterin, die durch freundschaftliche Beziehung einen Besuch machte. Er war sehr interessiert, ihr ganz anderes Sprechen hatte ihn, den werdenden jungen Regisseur, sogar begeistert. Aber dann kam im Einzelunterricht die Aufforderung, das, was er hörte, genau nachzusprechen. «Ich machte nach. Und es verschlug mir den Atem: Das Zwerchfell krampfte. Und das Verhängnis war, dass dieses Übel für Jahre fortdauerte, sobald ich Sprachgestaltung nachzuahmen suchte.» 18 Jahre lebt er mit dieser Erfahrung des ‹Nachahmens›, bis er endlich – in Dornach – das andere biografische Grunderlebnis in Bezug auf die Sprache hat: «Die nicht gelingende Nachahmung und ihr Versiegen war wie ein Spuk verschwunden. Ich hatte aus Rudolf Steiners Schilderungen den Schlüssel empfangen, der [für meinen Weg] alle Türen aufschließt.» Was er gefunden hatte, nannte er dann den «dreigliedrigen Weg in der Schulung und in der Inszenierung». Wir kommen darauf noch zurück. Was beinhaltet nun der Weg dieser 18 Jahre? Nach der 12. Klasse geht er nicht auf eine Sprachschule, sondern unmittelbar an das Eurythmeum in Köngen unter der Leitung von Else Klink. Er absolviert dort das ganze Eurythmie-Studium bis zum Diplom. Für sein Leben mit der Sprache war dieses Studium entscheidend: «Der Keim- und Kräftegrund meines Tätigseindürfens ist die Eurythmie.»3

Nach dieser Grundlegung durch die Eurythmie hat er – 23 Jahre alt – den Mut zum Studium der Sprachgestaltung. Er geht nach Dornach, aber die Zeit ist noch nicht reif. Noch vor dem Abschluss bricht er das Studium wieder ab. «Nachahmung des Alten» – das war das Erlebnis, welches ihn diese Entscheidung treffen ließ. Er verlässt Dornach – vielleicht für immer, so fühlt er. Für drei Jahre geht er nach England in ganz verschiedene Zusammenhänge – auch anthroposophische. Vielseitig und anregend waren die Erfahrungen, aber – rückblickend – eben doch nur «Umwege». Zurück auf dem «Kontinent», geht er nun aufs Neue nach Dornach, um die Ausbildung zum Sprachgestalter mit dem Diplom abzuschließen. In diese Zeit fällt auch die Begegnung mit Silvia Voith, mit der er bald die Ehe schließt und eine Familie begründet. Er wird Mitglied des Goetheanum-Bühnen-Ensembles, bekommt zunehmend Rollen in den am Goetheanum aufgeführten Dramen. Für sieben Jahre besetzt er in den Mysteriendramen die Rolle des Strader, als der er bei vielen Menschen eindrücklich in der Erinnerung weiterlebt. Dann kommt die Inszenierung von Shakespeares ‹Sturm› mit einer in Dornach ungewohnten Technik der Bühnenbeleuchtung, die sehr positive, aber auch kritische Aufmerksamkeit erweckt.

Wilfried und Silvia Hammacher, z.V. g.

Dreigliederung in Schulung und Inszenierung

Doch die für ihn entscheidende Erfahrung hatte er schon vorher gehabt: Von Dora Gutbrod war die Anfrage gekommen, über die ‹Gebärde› vorzutragen in Zusammenhang mit der Sprache. Das war ‹sein› Thema. Es war die große und für sein Erleben immer noch nicht befriedigend gelöste Frage nach der eigentlichen Brücke zwischen Sprachgestaltung und Schauspiel. Das war schon die Frage seines Vaters gewesen. Durch intensives Studium alles dessen, was er bei Rudolf Steiner zu dieser Fragen finden konnte, kam schließlich der Durchbruch. Er fand den Weg zum Wesen der Sprache, der sein ganz eigener war. Diesen Weg bezeichnete er – wie oben schon erwähnt – als den «dreigliedrigen Weg in der Schulung und in der Inszenierung». Da war er 34 Jahre alt. «Das Grundprinzip aller poetischen Gestaltung stand wie eine Seelengestalt vor mir.

• Zuerst der Erlebnisinhalt, der durch den Gedanken zum Bewusstsein kommt;

• dann das Übergehen des verinnerlichten Erlebens in das Elementar-Willensmäßige, das Instinktiv-Spontane der Gebärde, die sich nur persönlich, ichhaft gebiert, als solche aber in einem objektiven, sachbezogenen Ich-Welt-, Welt-Ich-Verhältnis lebt;

• zuletzt das Auferstehen der Erlebnis-geborenen Gebärde im intensiven Erfühlen des flutenden Gestus der poetischen Sprache, die so Abbild einer Imagination werden kann.»

Das Problem, das er mit der ‹Nachahmung› in der Sprache hatte, als 16-Jähriger und später bei seinem ersten Studienaufenthalt in Dornach, war nun für ihn gelöst. Nun war er bei sich angekommen, bei seinem ‹dreigliedrigen Weg›. In intimer Vertrautheit fühlte er die Worte Rudolf Steiners im Dramatischen Kurs: «Im Sprechen ist die Auferstehung des in der Gebärde verschwundenen Menschen.»4

Das Wohnhaus in Stuttgart in dem sich auch der Novalis Schule befand, z.V. g.

1970 verlässt er nach zwölf Jahren Dornach. Er ist 42 Jahre alt und dieser Abschied ist ein anderer als der einstige Abbruch des 26-Jährigen. In Stuttgart gründet er nun die eigene Ausbildungs- und Wirkensstätte: die Novalis-Bühne und die damit verbundene Schule für Sprachgestaltung und Dramatische Kunst. «Es bot sich mir die Möglichkeit, die Einsichten, die ich in das Wesen der Schauspielkunst gewonnen hatte – wie Rudolf Steiner sie 1924 in seinem Dramatischen Kurs dargestellt hatte –, sowohl in der Schule wie auch in der Bühnenarbeit zu realisieren. Und diese Möglichkeit hat meine Frau und mich dazu veranlasst, die Novalis-Bühne als eine Privatbühne in Stuttgart zu gründen und 25 Jahre zu leiten. Danach musste sie aus rein wirtschaftlichen Gründen wieder geschlossen werden.»5

Mit ‹Faust› beginnt und endet es

Den beiden wichtigsten Motiven seines in Dornach gefundenen Weges konnte er nun in Stuttgart folgen: «Die ersten sieben Jahre von Schule und Bühne waren ganz der Ausarbeitung des dreigliedrigen Weges in der Schulung und in der Inszenierung gewidmet.» Das zweite Motiv war die Überzeugung, dass der Gedanke der Wiederverkörperung in die Bühnenarbeit der heutigen Zeit einziehen müsse. «Befreiend, begeisternd waren für mich in den Mysteriendramen die Metamorphosenwege der Ichheit ohne den unbegreiflichen Stopp von Tod oder Geburt.» Der wahre Wiederverkörperungsgedanke hatte für Hammacher jenseits aller Weltanschauung einen globalen Aspekt in Bezug auf die menschheitlichen Beziehungen. So schreibt er aus innerstem Erleben einer Notwendigkeit das Drama ‹Wiedergeboren›, das 1992 in Stuttgart seine Uraufführung hatte. In der Ankündigung heißt es: «Der Gedanke der Wiederverkörperung wird die globale und menschheitliche Beziehung der Menschheit untereinander aufschließen. Das Stück möchte – neben anderem – dazu ein Beitrag sein und verlangt – aus diesem Grund – keinerlei Voraussetzungen als diejenigen, die der normale, allgemein interessierte Theaterbesucher sowieso mitbringt.»

Links: Ensemble und Mitarbeiter des 4. Mysteriendramas ‹Der Hüter der Schwelle› 1982, z. V. g.

In diese 25 Jahre fällt auch die Gesamtaufführung aller vier Mysteriendramen Rudolf Steiners mit vielen Aufführungen im deutschsprachigen Raum durch acht Jahre. Und dann kommt auch die äußere Anerkennung für seine Arbeit im öffentlichen Kulturleben der Stadt Stuttgart mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Seinen letzten Regieauftrag bekommt er für die Dornacher ‹Faust›-Aufführung 2004, wo er zugleich zum ersten Mal in der Arbeit den ‹dreigliedrigen Weg in der Schulung und in der Inszenierung gehen konnte. «Mit Faust hatte mein Leben mit und im Goetheanum angefangen, mit Faust durfte es enden.» In den letzten 15 Jahren schreibt er Bücher, in denen er die ihm wichtigen und für ihn bis dahin unbeantworteten Fragen ‹in sprachlicher Form› bewegt. Zuletzt erschien, wenige Monate vor seinem Tod: ‹Die Sieben Worte am Kreuz und das Ostermysterium, eine Dichtung von Wilfried Hammacher›.

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Footnotes

  1. W. Hammacher, Auf Wegen des Wortes, Dornach 2011. Wenn nicht anders angegeben, entstammen alle Zitate diesem Buch.
  2. Worte aus dem Bestattungsritual.
  3. Handschriftliche Notiz ca. 2018.
  4.  R. Steiner, Sprachgestaltung und Dramatische Kunst, GA 282, 6.9.1924.
  5. Interview mit W. Hammacher: Der Europäer, Jg. 8, Nr. 12, Oktober 2004.

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