Sternstunden

Eines der Erlebnisse mit Wilfried Hammacher, das sich ins Leben einschrieb und dieses begleitet, ereignete sich im zweiten oder dritten Ausbildungsjahr des letzten Kurses der Novalis-Schule für Sprachgestaltung und Dramatische Kunst in Stuttgart.


Faust I und II 1983, Inszenierung von W. Hammacher, z.V. g.

Es war eine der kostbaren Unterrichtsstunden mit Wilfried Hammacher, der in dieser Zeit vor allem seinen intensiven Aufgaben in der Novalis-Bühne nachkam. Die Stunde war der Sprachgehörbildung gewidmet. Am lyrischen Gedicht ‹Das Seelchen› von Conrad Ferdinand Meyer demonstrierte Wilfried Hammacher, wie sich in vollkommener Gestaltung der Sprache durch den Dichter der Gedanke mit dem durch die Laute sich bewegenden Sprachstrom bis in den einzelnen Laut hinein verbindet. Wilfried Hammacher tastete sich leise sprechend durch die Zeilen, Worte und Silben dieses Gedichts. Dabei folgten seine Hände hingegeben den Lautereignissen, in seinen Zügen offenbarte sich erstaunende Leichtigkeit über dieses Wunder der Dichtung:

Ich lag im Gras auf einer Alp,
In sel’ge Bläuen starrt’ ich auf – 
Mir war, als ob auf meiner Brust
Mich etwas sacht betastete.
Ich blickte schräg. Ein Falter saß
Auf meinem grauen Wanderrock.
Mein Seelchen war’s, das flugbereit,
Die Schwingen öffnend, zitterte.
Wie sind die Schwingen ihm gefärbt?
Sie leuchten blank, betupft mit Blut.

Conrad Ferdinand Meyer

Tatsächlich wurde für den Schüler empfindbar, wie das Erlebnis des Dichters in jeder lautlichen Wendung vollkommen in der Sprache aufging. Im lauschenden und sprechenden Folgen dieses Kunstwerks erstand die kleine und tiefe Szenerie unsichtbar, doch in seelischer und geistiger Fülle aus den gesprochenen Worten. Der Wunderraum der Sprache und des Sprechens war eröffnet. Welch Glück, diese Schöpfung chorisch sprechend mit den Kurskameraden wieder und wieder nachzubilden, bis es sich tief eingeprägt hatte.

Gerade im Dialog dieser beiden dramatischen Gestaltungen wurde Wilfried Hammachers darstellerische Fülle eindrucksvoll erlebbar.

Peer Gynt

Ein glänzendes Paar zweier Inszenierungen an der Novalis-Bühne war ‹Faust› und ‹Peer Gynt›, jeweils in einer von Wilfried Hammacher erarbeiteten und durch ihn auf die Bühne gebrachten Adaptation für drei Schauspieler (Wilfried Hammacher, Sieglinde Kurras und Oswald Geyer). ‹Faust›, der ein Kern des Anliegens von Wilfried Hammachers Theaterschaffen war, wurde durch die Jahre des Bestehens der Novalis-Bühne in mehreren Inszenierungen von ihm gestaltet. In der hier erwähnten Kammerfassung kontrastierte die Gestalt des das Wesen des Menschen suchenden Faust mit jener des als Antifaust interpretierten Peer Gynt. Wilfried Hammacher, der nicht nur die Dramaturgie dieses Diptychons besorgt und die geistreiche und fantasievolle Inszenierung verantwortet hatte, wirkte auch selbst als Schauspieler mit. Bei ‹Faust› in der Titelrolle, bei ‹Peer Gynt› in vielen kleinen Rollen, als der Dovre-Alte, als Troll und andere mehr. In beiden Inszenierungen entfaltete sich das Geschehen auf einer schlichten, beinahe dekorationslosen schiefen Ebene. Erstand der Faust in Wilfried Hammachers Darstellung mit ernster und tragischer Tiefe und in deklamatorischer Fülle, so kam in den von ihm gespielten Rollen bei ‹Peer Gynt› das schauspielerische Register des Humors, des Witzes und der treffsicheren, genialen Charaktergestaltung zum Vorschein. Gerade im Dialog dieser beiden dramatischen Gestaltungen wurde Wilfried Hammachers darstellerische Fülle eindrucksvoll erlebbar. Die Doppelinszenierung erhielt den Stuttgarter Theaterpreis.

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