Digital Natives hinterfragen die Onlinewelt

Junge Menschen beginnen zu realisieren, was die digitale Welt mit ihnen macht. Im Rahmen ihres Studiums am Goetheanum unternahm Ariel Turner ein Projekt, um ihre Bildschirmzeit zu reduzieren und zu erforschen, wie sich ihr Innenleben veränderte.


Im Alter von 27 Jahren war ich von den Fluten der Onlineunterhaltung und den sozialen Medien mitgerissen und merkte, dass ich mich immer weiter von der Substanz des Lebens entfernen würde, wenn ich meine technologischen Gewohnheiten beibehielte. Ich dachte immer, dass ich mit zunehmendem Alter aus der Bildschirmnutzung ‹herauswachsen› würde und nicht mehr die Zeit, das Interesse und den Wunsch hätte, an der Onlinewelt und der Realitätsflucht teilzunehmen. Aber auch nachdem ich offiziell erwachsen geworden war, verbrachte ich immer noch viele Stunden im Internet. Ich wollte zwar das stundenlange Scrollen stoppen, dies zu schaffen, war jedoch eine ganz andere Aufgabe, vor allem, wenn man bedenkt, was für eine feste Gewohnheit das in meinen Teenager- und Zwanzigerjahren geworden war. In meinem Projekt ging es nicht nur um die Frage, wie ich mit eingefahrenen Gewohnheiten brechen könnte, sondern auch darum, wie ich lerne, ohne einen wichtigen Bewältigungsmechanismus zu leben, von dem ich spürbar abhängig geworden war. Es war das Bedürfnis, der Stille und Langeweile zu entfliehen und die damit verbundene Leere zu füllen. Zwischen Netflix und Youtube, dem Scrollen auf Instagram und dem Surfen im Internet verbrachte ich meine Zeit. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Bildschirmnutzung und geriet in einen Kreislauf der Scham. Um mein Unbehagen zu lindern, kehrte ich zu dem Gerät zurück, das ihn überhaupt erst verursacht hatte. Wie oft sprechen wir darüber? Und wenn wir anfangen, Fragen ehrlich zu beantworten, haben wir dann den Willen, das zu ändern, was wir für veränderungsbedürftig halten?

Fünf Monate lang verfolgte ich meine Bildschirmzeit und notierte die Qualität meines Seelenlebens und die Auswirkungen meiner Bemühungen. Ich erforschte mein Seelenleben, indem ich die Qualität meines Denkens, Fühlens und Wollens untersuchte und Veränderungen beobachtete.

Denken

Ich habe eine deutliche Veränderung in der Qualität meines Denkens festgestellt. Ich habe verstanden, wie wichtig es ist, Raum zu haben, um die Gedanken schweifen zu lassen und zu staunen. Indem ich die Menge an konsumierten Inhalten aktiv reduziert habe, konnte ich neue Ideen angemessen verdauen und integrieren. Die online verbrachte Zeit blieb in meinem Gedankenleben stunden-, wenn nicht tagelang hängen. Ich ließ mich auf engstirnige Konzepte ein, drehte sie in einer Schleife und dachte nicht tiefer. Diese Gedanken waren vorgefertigt und oberflächlich, was meine Denkkraft schwächte: Ich konnte ein Konzept nicht sehr weit entwickeln und hatte eher assoziative Ideen, als dass ich mein Denken weiterentwickelte. Die Inhalte, die auf Onlineplattformen gut ankommen, lösen eher eine schnelle emotionale Reaktion aus, als dass sie zu einer tieferen, besinnlichen Auseinandersetzung anregen. Es gibt jetzt einen deutlichen Unterschied in der Qualität und Tiefe meines Denkens. Mein Gedankenleben besitzt Stärke und Resilienz und ein tieferes Vertrauen, weil ich das, was ich denke, mitgestalte und es gleichzeitig individueller und universeller mache. Darüber hinaus können die Ideen aus den Onlineressourcen weiter vertieft und verdaut werden, wobei ich mir bewusst bin, dass ich weniger aufnehmen sollte, damit ich das, was kommt, besser verstehen und ausbauen kann. Mein Denken ist auch weniger von Emotionen geprägt, da ich ein größeres Verlangen nach Gedanken habe, und die Unruhe in meinem Gefühlsleben hat sich gelegt.

Fühlen

Als ich in der Onlinewelt feststeckte, war ich in keiner guten Verfassung. Diese Erkenntnis war überhaupt einer der Auslöser, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Nach fünf Monaten Arbeit erlebte ich deutliche Veränderungen in meinem Gefühlsleben, insbesondere in Bezug auf meine allgemeine Gesundheit und mein Wohlbefinden. Vorher war mein Gefühlsleben chaotisch. Es fiel mir schwer zu unterscheiden, was ich tatsächlich erlebte und was ich aus der Onlinewelt mitbrachte. Ich fühlte mich gereizter und wurde schneller ärgerlich über andere. Ich definierte mich über das, was ich an den Dingen mochte und nicht mochte, anstatt zu versuchen, meine besonderen Sympathien und Antipathien zu verstehen. Ich rang mit meinem Selbstwertgefühl, weil ich den Kreislauf, in dem ich mich befand, nicht mochte. Ich schämte mich auch für meine Unfähigkeit, mich zu kontrollieren. Ich hatte das Gefühl, nicht Teil dieser Welt zu sein, sondern nur zuzusehen, wie sie sich entfaltet. Wann immer ein schwer zu ertragendes Gefühl aufkam, ging ich sofort in die Onlinewelt, um mich zu distanzieren und nicht fühlen zu müssen. In diesem Muster sammelten sich viele Jahre lang unverarbeitete Emotionen an, die durch die Arbeit an diesem Projekt angesprochen und empfunden werden konnten. Heute bin ich anderen gegenüber viel offener, so als ob es Platz für Herausforderungen und neue Gefühle gäbe. Ich kann mein Gefühlsleben mit mehr Anstand bewältigen, und ich werde weniger von anderen getriggert. Ich kann einen ausgewogenen Umgang pflegen, muss nicht so viele Hochs und Tiefs durchstehen. Ich erfahre mehr Zufriedenheit und fühle mich gesünder eingebunden in meinem Leben. Die Angst hat sich erheblich verringert durch eine reduzierte Informationsflut und weniger Zeit im Internet. Ich habe Stärke aufgebaut, um mein Gefühlsleben zu ertragen, ohne nach Befriedung zu suchen. Ich erlebe auch nicht mehr diese abgekapselte Gefühllosigkeit. Ich erlebe, wie mein Gefühlsleben aktiv an der Welt teilnehmen will, um sie zu verstehen, anstatt nur zu urteilen oder alles, was Schwierigkeiten bereitet, wegzustoßen.

Wollen

Bevor ich mit dem Projekt begann, hatte ich am meisten mit meinem Willen zu kämpfen. Weil mein Wille nicht stark genug war, konnte ich nicht offline gehen oder tun, was ich tun wollte. Ich konnte mich nicht konzentrieren oder meinen Willen lenken, und nach ein paar Stunden im Internet verlor ich jegliche Motivation, etwas anderes zu tun, als Inhalte zu konsumieren. Ich fühlte mich entmachtet. Ich entschied mich immer für die einfache Alternative und vergeudete Stunden im Internet, indem ich mich vor der Beschäftigung mit den wesentlichen Dingen drückte. Es fühlte sich an, als sei mir der Wille fremd. Was wir tun, bestärkt uns in unseren Vorstellungen von dem, was wir sind. Wir entwickeln daran unseren inneren Ruf und zeigen, was für ein Mensch wir sind. Dass ich nicht in der Lage war, meinen Wünschen nachzukommen, bedeutete nicht nur Untätigkeit und Zeitverschwendung, sondern beeinflusste auch die Möglichkeit, mich selbst auf neue Weise kennenzulernen. Die Bildschirmzeit zehrte an meinen Willenskräften. Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie das geschieht. Alles auf Onlineplattformen Erzeugte wird auf den Bedarf zugeschnitten und konsumfertig gemacht. Es erfordert keine Willenskraft und gibt wenig Gelegenheit, den Willen zu aktivieren. Der Großteil der Aktivitäten findet durch Denken und Fühlen statt. Der Wille ist mit der körperlichen Bewegung verwoben – beim Konsum sozialer Medien verliert man die Verbindung zu beiden. Einfach nur die Bildschirmzeit zu reduzieren, reichte nicht aus, um meinen Willen in das zu lenken, was ich tun wollte. Ich war zwar weniger abgelenkt, aber fühlte mich immer noch schläfrig und schwach, als ob mein Wille ein Gespenst wäre. Ich konnte meine Aufgaben im Leben erfüllen, aber mir fehlte der Wille, mich selbst in Freiheit zu steuern und nicht nur auf Bedürfnisse und Notwendigkeiten zu reagieren. Schließlich verstand ich, dass es bei der Stärkung meines Willens nicht nur darum ging, vom Bildschirm wegzukommen, sondern auch darum, Aktivitäten zu unternehmen, die die Bildschirmzeit ersetzen, um meinen selbstgesteuerten Willen kennenzulernen. Die Arbeit mit verschiedenen Sprachübungen über drei Monate hinweg half mir, meinen Willenskräften zu begegnen und tiefer in meinen Körper hineinzukommen. Indem ich begann, diese Verbindung mit meinem Willen aufzubauen, verstand ich, dass er weder schwach noch stark ist, sondern dass er ständig geweckt und zum Einsatz gebracht werden muss.

Wiedereingliederung

Wenn ich die Technologie selbstbestimmt einsetze, kann sie ein hilfreiches Instrument zur Unterstützung des täglichen Lebens sein. Ich erkenne, dass es in meiner Verantwortung liegt, mit der Onlinewelt auf gesunde und ethische Weise zu arbeiten, nicht nur für mich selbst, sondern für die Gemeinschaft. Eine der wichtigsten Gaben der Bildschirme ist, dass sie uns erlauben, unserer niederen Natur zu begegnen und sie zu verstehen. Wenn wir bereit und willens sind, können wir unseren Doppelgänger im Spiegel des Bildschirms erblicken. Dies scheint mir ein neuer Einweihungspunkt in unserer Zeit. Solang wir nicht stark genug sind, werden wir uns diese Schwelle zur Verwandlung immer wieder entgehen lassen. Die Technologie entfaltet sich manchmal schneller, als wir mithalten können, aber ich will und muss mich immer ernsthaft bemühen, die Kräfte, die im Spiel sind, zu halten und zu lenken.


Dieser Text wurde für die deutsche Ausgabe gekürzt, den ungekürzten Artikel finden Sie in der English Edition: The Effects of Screen Time on the Soul Life

Übersetzung aus dem Englischen von Christian von Arnim
Bild Ariel Turner bei der Vorstellung ihres Projekts am Goetheanum, Foto: Nicole Asis

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