Gerhard Kienle (1923–1983), Begründer des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke und der Universität Witten/Herdecke, war in Politik und Kultur ebenso engagiert wie in der Anthroposophischen Gesellschaft. Das war ein Spagat, der nach Kienle keiner sein sollte und auch heute ein scharfes Licht auf den Selbstbezug in der Anthroposophischen Gesellschaft wirft.1
In einem Brief schrieb Kienle im Juli 1954 über seine Arbeit in der Tübinger Universitätsnervenklinik (unter Prof. Ernst Kretschmer): «Es wissen alle, dass ich Anthroposoph bin, ich mache keinen Hehl daraus, aber alle respektieren es in positiver Weise.»2 In einem Rundbrief an seinen Freundeskreis, der ein erstes anthroposophisches Gemeinschaftskrankenhaus vorbereitete, hatte er drei Jahre zuvor, im August 1951, formuliert: «Aber nur eine neue Klinik zu bauen, damit zu den vielen anderen noch eine weitere dazu kommt, kann man ja nicht für berechtigt halten. Jede neue Institution ist nur berechtigt, wenn sie Ausdruck eines neuen Impulses ist, wenn menschlich ein Schritt vorangegangen worden ist. […] Dafür, dass man eine andere Medizin machen will als die anderen, kann man noch eine gewisse mitleidige Toleranz erwarten, ebenfalls, wenn man eine Klinik für Menschen macht, die die Bedürfnisse nach Anthroposophischer Medizin vonseiten bestimmter Kreise befriedigen soll – man kann aber keine andere Toleranz erwarten, als man sie Indianern gegenüber in ihren Reservaten hat. Eine solche Toleranz hat immer einen sentimentalen Charakter. In dem Augenblick [dagegen] wird dies anders, in dem man sich in die Probleme irgendeines Gebietes hineinstellt und gewillt ist, auf alle persönlichen Gemütsbedürfnisse zu verzichten und sich ganz für die Lösung der Probleme einsetzt, aber nicht indem man in Lösungen missioniert, sondern indem man die Konsequenzen aus den Fragen zieht. Ein solcher Idealismus wird überall sofort verstanden und respektiert. Dann wird auch durchaus respektiert, dass man in Konsequenz anthroposophische Ideen vertritt, selbst wenn sie den anderen unverständlich sind. Sobald man sein Schwergewicht auf die Fragen legt und die anthroposophischen Ideen nicht als dogmatische Voraussetzungen, sondern als Konsequenzen vertritt, wird man menschlich verstanden und akzeptiert! […] Das ist eine durchgehende Erfahrung von mir: Man kann die spirituellsten Dinge hinstellen, sie brauchen gar nicht verständlich zu sein, sie müssen aber im sachlichen Idealismus grundsätzlich gerechtfertigt sein, dann werden sie auch von Menschen, die anderer Meinung sind, grundsätzlich anerkannt.»3 In genau dieser Weise, wenn auch auf seine Art, war Rudolf Steiner vorgegangen – er hatte sich den konkreten ‹Problemen› von Lebensgebieten (von der Medizin bis zur Landwirtschaft und Ökonomie) gestellt und ‹Konsequenzen› aus den Fragen gezogen; er hatte nicht ‹in Lösungen missioniert›, sondern einen ‹sachlichen Idealismus› praktiziert – wie sich in seinem Lebenswerk umfänglich und detailliert aufzeigen lässt, wenn man sich wirklich die Mühe macht, es zu studieren.4
Unbewusste Anthroposophie
Gerhard Kienle orientierte sich daran in seinem Fach und in seinem öffentlichen Einsatz unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts. Er suchte und fand nicht wenige Menschen, die «kein bewusstes Verhältnis zur Anthroposophie» hatten, «obwohl sie mit einer Seite ihres Wesens den fortschreitenden Kräften dienen»5; er bezog sie mit ein und hatte für seine Initiativen immer wieder bemerkenswerte Mitarbeiter nicht-anthroposophischer Provenienz. Eines der vielen Beispiele war der philosophisch gebildete und humanistisch motivierte evangelische Theologe Udo Fiebig (1935–2022), der als Pfarrer einer Bergarbeitergemeinde im Ruhrgebiet und als Krankenhausseelsorger tätig war, ehe er 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages und zuletzt Obmann der spd-Fraktion in Fragen der Gesundheitspolitik wurde. Fiebig, der der Anthroposophie fernstand, verinnerlichte das ethisch-soziale Anliegen Kienles mit dynamischer Entschlossenheit, hervorragendem Intellekt und Redekraft. Er wurde in Bonn geradezu Kienles parlamentarische ‹Flanke› – mit ihm besprach und plante Gerhard Kienle die jeweils nächsten Aktionen. 1985, zwei Jahre nach Kienles Tod, publizierte der spd-Mann selbst beim Verlag Urachhaus: ‹Freiheit für Patient und Arzt. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Postulat der Menschenwürde›. «Was die Welt von uns erwartet, ist, dass wir ihre Probleme ernst nehmen und wirklich mit Anstrengung und Einsatz etwas beitragen. Dann sind wir ein Partner, dann brauchen wir nicht zu missionieren.» (Kienle6)
Gerhard Kienle wusste, wovon er sprach – als in der Vorbereitung eines neuen bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes mit obligatem Doppelblindversuch in klinischen Studien die Empörung in vielen ‹komplementärmedizinisch› ausgerichteten Bevölkerungskreisen große Wellen schlug, da das Ende der Homöopathie, der Naturheilverfahren und der Anthroposophischen Medizin Anfang der 1970er-Jahre in Sicht schien mit dem drohenden Gesamtverbot ihrer ‹unwirksamen› Medikamente, war Kienle einer der wenigen, die die Herausforderungen mit wissenschaftlichen Mitteln angingen. Er arbeitete sich so weit in die wissenschaftlichen Grundlagen der Pharmakologie, der medizinischen Statistik und der klinischen Studien ein, dass er sich in Bonn nicht nur Respekt verschaffte und den Gesetzesentwurf inhaltlich kippen konnte, weil er den Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Medizin nicht entsprach (und nicht nur die nicht-allopathischen Medikamente bedrohte, sondern die Medizin selbst). Darüber hinaus stellte Kienle brauchbare Alternativen, ja Lösungswege dar, die aufgegriffen wurden7.
Die Unterstützung der Anthroposophischen Gesellschaft
Er hatte das Format, aber auch den Willen und die Selbstlosigkeit, die zu einem solchen Vorgehen notwendig sind. «Wir dürfen nicht hingehen und sagen, lest die Dreigliederung, da steht das drinnen. Wer nicht selber in der Lage ist, Finanzminister sein zu können, der sollte nicht reden. Er sollte erst fleißig arbeiten, bis er das kann. Wir dürfen diese Seite nicht unterschätzen. Wir müssen selber auch Fleiß anwenden, um uns die Dinge zu erarbeiten.»8 Es gehe für Anthroposophen nicht darum, bloß Forderungen zu erheben und fundamentale Gegenpositionen zu vertreten, sondern Mitverantwortung in der Öffentlichkeit zu übernehmen. Gerhard Kienle sprach darüber am 11. April 1976 auf der Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach, vor nahezu einem halben Jahrhundert9. Die Anthroposophische Gesellschaft war ihm wichtig – als eine Gruppe von Menschen, die sich im Sinn der Karmavorträge schicksalsmäßig verabredet hatte, dem michaelischen Impuls den Einzug in die Zivilisation zu verschaffen. Kienle setzte sich intensiv für die Anthroposophische Gesellschaft ein, war trotz großer ärztlicher Arbeitsbelastung über Jahre im deutschen Landesvorstand tätig – dem damaligen ‹Arbeitskollegium› –, sandte Kopien seiner wichtigsten Korrespondenzen in den Auseinandersetzungen um das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, das bundesdeutsche Arzneimittelgesetz und die Universität Witten/Herdecke nach Dornach, war mit den Vorstandsmitgliedern im Gespräch und wäre auch bereit gewesen, in die Leitung der Medizinischen Sektion einzutreten. Er hatte tief verstanden und verinnerlicht, welche Form einer ‹arbeitsfähigen› Anthroposophischen Gesellschaft und was für eine Gestalt der Hochschule Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung 1923/24 veranlagt hatte. Kienle schätzte die Anthroposophische Gesellschaft trotz ihrer Schwachpunkte, und er brauchte sie auch für seinen exponierten, schwierigen Einsatz; er brauchte eine michaelisch gesinnte Gesellschaft, die den Einzelnen in seiner Arbeit erkennt und fördert, ihn unterstützt, bejaht und mitträgt. Kienle wusste um die vielen destruktiven Vorgänge innerhalb der Gesellschaftsgeschichte – und war der unbedingten Auffassung, dass, angesichts der Zeitlage, nunmehr anderes nottat, und dies mit Dringlichkeit. 1975 sagte er auf der Generalversammlung in Dornach, es gehe inneranthroposophisch darum, sich des gemeinsamen Bodens bewusst zu sein: «Wer verantwortlich arbeiten will, muss einen gewissen Rückhalt und eine gewisse Ruhe haben, sonst kann er das nicht […]. Die Mitgliedschaft muss sich hinter diejenigen, die solche Arbeit machen, schützend stellen. Sonst kommen wir nicht durch, sonst wird es wirklich lebensgefährlich.»10
Falsch verstandene Esoterik
Kienle wurde nicht nur von aggressiven Schulmedizinern, sondern auch von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft attackiert – warum er sich denn überhaupt auf die Bonner Parlamentarier und Gesundheitsbehörden einlasse, auf das ‹ahrimanische› Gesetzesvorhaben, die Strukturen und Mächte? Ihm wurde der Status eines ‹Anthroposophen› von vielen gänzlich abgesprochen, jegliches spirituelle und esoterische Profil. «Es ist sehr verletzend, wenn es so heißt: Das eigentlich Anthroposophische ist das ja nicht, das ist ja so äußerlich-politisch […]»11 Kienle wusste, auf welchem Gebiet er sich mit seinem Einsatz in Medizin und Gesellschaft bewegte, was dabei auf dem Spiel stand und welche Kräfte in dieser geistigen Auseinandersetzung wirkten. In seinem letzten Dornacher Vortrag über ‹Das Zusammenwirken von Raphael, Michael und Buddha in der Medizin› am 5. Oktober 1981 führte er dies in umfassender Weise aus12; aber bereits auf der Generalversammlung 1976 sagte er: «Das, was jetzt weltweit über uns herübergekommen ist als Strömung, als Stand der Wissenschaft, ist ein Gedankengebilde, das nicht individuell gedacht wird. Das überfällt die Menschen wie eine Epidemie. Es hat keiner ein individuelles Urteil dabei. Es wird beherrscht von den abnormen Geistern der Persönlichkeit, die eigentlich Geister der Form sind, die Gegenspieler zum Zeitgeist. Wir verstehen unsere Aufgabe glaube ich richtig, wenn wir so arbeiten, dass wir versuchen, dieses Gedankenelement zu durchdringen und zu entreißen dem unrechtmäßigen Zeitgeist und anknüpfen an den regelrechten Zeitgeist, für den es gilt, er wirkt in der Außenwelt und regt die Gedanken leise an. Es muss dieses Gedankenelement der richtigen Hierarchie entgegengebracht werden und wenn wir das mit vollem Bewusstsein tun, können wir bis ins Äußere herein wirken.»13 Gerhard Kienle aber fand dafür in der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung nur bedingt Verständnis; das «Bewusstsein des gemeinsamen Bodens» sah er in der Gesellschaft, trotz der Karmavorträge und allen anderen Bemühungen Steiners (bis hin zu den wegweisenden ‹Leitsätzen›), nur schwach ausgebildet und von einer «gegenseitigen menschlichen Anerkennung» entfernte man sich mehr und mehr. Hervorragende Arbeiten und Leistungen wurden kaum wahrgenommen, weil das Interesse und die Anteilnahme fehlten – nicht selten aufgrund des mangelhaften Weltbezuges, eines fehlenden existenziellen Interesses, wie dies Rudolf Steiner bereits 1923 sehr genau beschrieben hatte und dies nicht nur im Hinblick auf die missachtete Lilly Kolisko14. Im Januar 1979 schrieb Kienle an den Vorstand der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte: «Wenn wir die zu bewältigenden Aufgaben aus dem Auge verlieren und stattdessen in den – in der Gesellschaft früher so beliebten – persönlichen Kleinkrieg eintreten […] muss unsere Gemeinschaft zerfallen.»15 Es stelle sich die Frage, so Kienle 1982 in einer Mitgliederversammlung der deutschen Landesgesellschaft, ob man zu den «grundsätzlichen Fragen» der gegenwärtigen Lage «verstummen» müsse. Statt den Einzelnen aus den Kräften der erkenntnisringenden Gemeinschaft zu unterstützen, schwäche man ihn. «Wir haben im Augenblick die äußerst wirksame Arbeitsteilung, dass die einen die Arbeit machen müssen und die anderen die Bedenken haben, vor allem grundsätzliche, anthroposophische […]. Es liegt hier ein ganz ernsthaftes Problem des Selbstverständnisses von uns selbst vor. Wie behandeln wir Menschen, die für uns bestimmte Arbeit leisten? Werden sich in Zukunft überhaupt noch Mitarbeiter für diese lebenswichtigen Aufgaben finden?»16
Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, 1970 und 2023
Vom Spiel mit Zinnsoldaten
Nur wenn die Anthroposophische Gesellschaft positiven Anteil an den Auseinandersetzungen nehme, werde es möglich sein, mit den ahrimanischen Zerstörungskräften fertigzuwerden, die mehr und mehr Einhalt in die Zivilisation halten. «Wir müssen die Fragen des freien Geisteslebens lösen; die Antworten müssen wahr sein. Es muss unter uns die andere Individualität, den Willen des anderen zu akzeptieren, Gestalt und soziale Wirklichkeit werden. Nur dann, wenn wir die Fragen wahrhaft ernst nehmen, haben wir die Chance, diese Kräfte, die jetzt über die Gesundheitspolitik und im Sozialen zerstörend auf uns zukommen und die Menschen geistig und seelisch vernichten wollen, aufzufangen, auf dass Mitteleuropa nicht total zerstört werde. Es ist notwendig, dass etwas in uns an innerer Gestaltungskraft entsteht, das die Zerstörung ins Gleichgewicht mit Zukunftskräften bringt.»17 An Weihnachten 1982, nur zwei Monate vor seiner akuten Krankheit, die ihn auf die Intensivstation brachte und in den Tod führte, entwickelte Gerhard Kienle in seinem Positionspapier ‹Die Bedeutung der Anthroposophie für die Neugestaltung des Universitätslebens› abschließende Gedanken zu Rudolf Steiners Warnung an die Anthroposophische Gesellschaft, in die «Sektiererei» abzugleiten und «gewissermaßen mit Scheuklappen gegenüber den so großen wichtigen Ereignissen der Gegenwart einfach ohne rechts und links zu sehen», ihren Weg zu gehen. Kienle stellte infrage, ob dies nach der Weihnachtstagung in den Reihen der Gesellschaft wirklich anders geworden sei und schrieb: «Es ist verhältnismäßig einfach, anthroposophiebedürftige Menschen zu finden. Hierin liegt zugleich die ständige Versuchung begründet, sich selbst darzustellen, ohne an den großen Aufgaben der Menschheit gemessen zu werden. Es ist unsere Pflicht, die führenden, gestaltungsfähigen Persönlichkeiten zu finden und so zu fördern, dass sie ihre Aufgabe in den großen Auseinandersetzungen verwirklichen können. Das heutige öffentliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben ist verarmt an Persönlichkeiten, die in der Lage wären, die gegenwärtigen Verhältnisse aus Wurzeln neu zu gestalten.»18 Mit Blick auf Kritiker innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft hieß es weiter: «Wer gewohnt ist, in Binnenbereichen der anthroposophischen Bewegung zu reden, ohne je in den esoterischen Kreis der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Vertretung eigener Positionen eingedrungen zu sein, kann sich in der Regel keine Vorstellungen davon machen, was solche Anforderungen und Auseinandersetzungen menschlich und intellektuell bedeuten. Es ist nur im Binnenraum möglich, bedeutsame Darstellungen zu geben mit dem Hinweis, dass dieses auf der Grundlage der Geisteswissenschaft geschehe. Die Welt sieht aber völlig anders aus, wenn man mit dem konsequenten Wissenschaftsanspruch anthroposophischer Positionen in den Streit der Meinungen selbst eintritt. Das Spiel mit Zinnsoldaten ist eben nicht der wirkliche Krieg.»19
Wenn Kienle vom «esoterischen Kreis der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen» sprach, so tat er dies nicht in ironischer Weise, sondern im Sinne der Ausführungen des polnischen Mikrobiologen, Wissenschaftssoziologen und Auschwitz-Überlebenden Ludwig Fleck (1896–1961)20 – und im Sinne Rudolf Steiners, der Ende Januar 1924, vier Wochen nach der Weihnachtstagung, in einem Vortrag gesagt hatte: «Das Leben ist ja ganz esoterisch. Und Sie glauben ja gar nicht, wie viel Esoterik in einem Universitätslaboratorium lebt, nur dass die Professoren und die Adjunkten nichts davon wissen, aber sie lebt trotzdem da. Das Esoterische besteht ja nicht darinnen, dass man irgendetwas verachtet, um nun dasjenige zu pflegen, was einem gerade gefällt, sondern das Esoterische besteht darinnen, dass man gerade sich in der energischsten Weise mit dem Leben und seinen Tiefen auseinandersetzt.»21
In Kienles Sinne
Wie Gerhard Kienle die Entwicklungen in der anthroposophischen Bewegung, der Anthroposophischen Gesellschaft und ihrer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft seit 1983, dem Zeitpunkt seines Todes, beurteilt hätte, vermag ich nicht zu sagen – geschweige die in der allgemeinen Zivilisation, in den Wissenschaften, der Gesellschaft, Ökonomie und Politik. Sehr vieles auf der Welt ist nach 1983 noch weitaus schwieriger und abgründiger geworden – und Rudolf Steiners Voraussage vom Juli 1924, dass sich die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts am «Grabe aller Zivilisation» wiederfinden könnte, gewann nicht nur an Plausibilität, sondern an erfahrbarer Realität, an Gegenwart und Brisanz. Es könnte, so Steiner im selben Zusammenhang, aber auch der «Anfang» desjenigen Zeitalters erreicht werden, «wo in den Seelen der Menschen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität verbinden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael-Impulses ausgefochten wird»22. Möglicherweise ist ja auch beides möglich, wofür einiges zu sprechen scheint – das Wirksamwerden des «Michael-Impulses» in spiritueller Herzensintelligenz am «Grabe aller Zivilisation» oder in dessen Nähe.
Ich denke mir, dass Gerhard Kienle im Hinblick auf die anthroposophische Bewegung, die Anthroposophische Gesellschaft und ihre Freie Hochschule für Geisteswissenschaft manches positiv sehen würde, sofern ich seine Lebens- und Arbeitsgeschichte richtig verstehe. Zumindest in kosmopolitischer Perspektive hat die Anthroposophie und haben die anthroposophische Bewegung, trotz der weiter anwachsenden Macht des «Fürsten dieser Welt», an Verbreitung gewonnen. Alljährlich erscheinen neue Übersetzungen des anthroposophischen Grundlagenwerkes in allen Weltsprachen – und die Methoden der anthroposophischen Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin breiten sich, gegen erhebliche Widerstände, weiter aus. Und dies keinesfalls auf Kosten ihrer Spiritualität, wie an großen Fachtagungen am Goetheanum immer wieder erlebbar wird, zuletzt am Beispiel der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, mit nahezu 1000 Menschen aus aller Welt. Ich nehme auch an, dass Gerhard Kienle einige Entwicklungen in der Anthroposophischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten sehr begrüßt hätte, darunter ihre Schritte zum Werden einer realen Weltgesellschaft sowie die Bemühungen zahlreicher Landesgesellschaften und der Dornacher Leitung, als Gesellschaft den anthroposophischen Initiativträgern und Institutionen beizustehen, sie zu fördern und zu unterstützen. Auch die vielen Selbstgestaltungsprozesse in den Landesgesellschaften hätte Kienle, so denke ich mir, positiv gesehen, die kreative Kraft der Mitgestaltung so vieler Mitglieder – sowie den Willen, bei übergeordneten Ereignissen, die die weltweite Gesellschaft betreffen, von weit her und mit großen Mühen ans Goetheanum zu reisen, so zu den Ereignissen der 100-jährigen Wiederkehr der Zerstörung des ersten Baus, zur Weltkonferenz an Michaeli 2023 und zur Weihnachtstagung 2023/24, mit einem jeweils voll besetzten Goetheanum. Gerhard Kienle versuchte zu seinen Lebzeiten, bei solchen Zusammenkünften im Sinne einer gemeinsamen Schicksalsbesinnung anwesend zu sein.
Ich denke, er würde auch viele Entwicklungen innerhalb der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft als erfreulich ansehen, dabei in erster Linie die seit Jahren erfolgte Neubesinnung auf das Hochschulverständnis der Weihnachtstagung. Die von Rudolf Steiner dort entworfene und mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf den Weg gebrachte Hochschule war und ist auf einem spirituellen Schulungsweg basiert, der sich in den Fachgebieten (Sektionen) weiter spezialisiert; sie ist eine Institution für Forschung, Lehre und Ausbildung in der allgemeinen Anthroposophie und in den Lebensgebieten, ein Ort, von dem Veränderungsimpulse für die Medizin und Pädagogik, für das soziale Leben, die Ökonomie, die Wissenschaften, die Kunst und die Religion ausgehen sollen. Sie tun dies auch, im Sinne einer weltverbundenen Esoterik, die sich keinesfalls in abgeschlossenen Zirkeln vollzieht, sondern in der Durchdringung und Verwandlung der genannten Gebiete, der Lebenswelt des Menschen. Unter dem Begriff der Forschung verstand Steiner keinesfalls nur die methodische Einsicht in die geistige Welt, sondern sehr wohl auch eine geistgemäße Erkenntnisarbeit in sämtlichen Lebens- und Wissenschaftsgebieten unter Anwendung einer Vielzahl von fachgebietsimmanenten Verfahren. Ich nehme an, dass Gerhard Kienle das wachsende Verständnis dieser Hochschulkonzeption23 eine Freude gewesen wäre – auch die über 500 neuen Hochschulmitglieder jährlich, von denen viele um Aufnahme suchen, um ihre berufliche Arbeit in der Welt besser leisten, ja in dieser Arbeit mit anderen spirituell bestehen zu können.
Die zunehmende, ebenfalls weltweite Kollegialität in den Sektionen wäre Gerhard Kienle, so wie ich ihn retrospektiv in seiner Vita kennenlernen konnte, ebenfalls eine Freude gewesen; wichtige, an einem Ort geleistete Arbeiten werden durch die Fachabteilungen des Goetheanum mittlerweile international in vielen Sprachen bekannt gemacht. Die Fachtagungen am Goetheanum leben wesentlich mit von dieser Wahrnehmung der erzielten Leistungen; die Hochschule ist, in Forschung, Lehre, Ausbildung und Initiative, weltweit aktiv. «Das zweite ist, dass dieses Goetheanum den Nebentitel hat ‹Freie Hochschule für Geisteswissenschaft› und dass die Prätention hervorgerufen worden ist, wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen. Die Gegnerschaft mag noch so groß sein, aber die Leute dürfen nicht Recht haben. Es ist unmöglich, gegen diese Gegnerschaft mit dem Bau eines Goetheanum, dieser Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, aufzukommen, wenn darauf hingewiesen werden kann, dass wissenschaftlich nichts geleistet wird.» (Steiner24)
Die Macht der Verfremdung
Bei einigen Punkten bin ich mir dagegen sicher, dass Gerhard Kienle sie kritisch gesehen hätte. Dies betrifft das nach wie vor bestehende Ausmaß destruktiver Kritik an Menschen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft, der Hochschule und der anthroposophischen Bewegung Verantwortung übernommen haben, oft mit nahezu totaler Verkennung des Aufgaben- und Anforderungsprofils, denen sich diese Personen gegenübergestellt sehen. Kienle wäre meines Erachtens auch betroffen davon, wie wenig Anteilnahme an der fachlichen Arbeit der Sektionen noch immer in manchen Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft lebt, welche Selbstüberschätzung und Verkennung des anderen und der anderen, welche Nicht-Wahrnehmung wichtiger, weltverbundener Tätigkeiten – bei fortgeführter Beanspruchung der engagierten Personen durch Kritik aller Art und Rekurse auf Zitate Rudolf Steiners. Dabei hatte Steiner so deutlich gemacht, was er sich von den Gesellschaftsmitgliedern selbst originär erhoffte und erwartete25– von der fundierten Richtigstellung medialer Diffamierungen der Anthroposophie bis zum aktiven, mitverantwortlichen Einsatz für anthroposophische Initiativen und Institutionen in der Welt. Die Binnenzentrierung der Anthroposophischen Gesellschaft, ihr endloser interner Sozialprozess machte Gerhard Kienle zu Lebzeiten zu schaffen – und er würde es sehr wahrscheinlich weiter tun. Unlängst war in einer mehrsprachig verbreiteten Broschüre von Gesellschaftsmitgliedern (Arbeitskreis ‹Zukunft der Kultur der Anthroposophischen Gesellschaft im Rahmen der Mitgliederforen am Goetheanum›) u. a. davon die Rede, dass eine ‹Hochschule für Geistesforschung› am Goetheanum und an anderen Orten gegründet werden solle, die von der bestehenden ‹Hochschule für Geisteswissenschaft (Erste Klasse)› zu unterscheiden sei. Der Begriff der ‹Hochschule› werde am Goetheanum missverständlich verwendet, nennenswerte Arbeit werde in Forschung, Lehre und Ausbildung nicht geleistet; vielmehr werde der Aufbau einer «tatsächlichen Hochschule für Geistesforschung», die auf übersinnlichen Erfahrungen basiere, durch die bestehende Einrichtung blockiert, die sich darüber hinaus, an der Mitgliedschaft vorbei, personell selbst reproduziere.
Eine solche Missachtung der gesamten Hochschulkonzeption Rudolf Steiners (‹Hochschule für Geisteswissenschaft (Erste Klasse)›) und Nicht-Wahrnehmung vieler positiver, zukunftsermöglichender Entwicklungen, im Schulungslehrgang der Ersten Klasse und innerhalb der Fachsektionen, ist aus meiner Sicht ebenso gravierend wie gefährlich. Sofern Rudolf Steiner wirklich an ‹hellsichtigen› Sektionsleitern und -mitarbeitern gelegen gewesen wäre, hätte er sämtliche Positionen falsch besetzt. Weder Ita Wegman noch Marie Steiner, Elisabeth Vreede, Guenther Wachsmuth und Albert Steffen reklamierten solche Fähigkeiten für sich, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht über imaginative, inspirative und intuitive Erfahrens- und Handlungsmöglichkeiten verfügten, wie viele damalige und heutige Mitarbeiter der Anthroposophie Rudolf Steiners. «Was die Welt von uns erwartet ist, dass wir ihre Probleme ernst nehmen und wirklich mit Anstrengung und Einsatz etwas beitragen. Dann sind wir ein Partner, dann brauchen wir nicht zu missionieren […]»
Footnotes
- Vgl. Peter Selg: ‹Gerhard Kienle 100 Jahre› Das Goetheanum, Heft 46/2023, S. 22–25. Damals war ein Fortsetzungsessay über Kienles Beziehung zur Anthroposophischen Gesellschaft angekündigt, was jetzt geschieht.
- Zit. n. Peter Selg, Gerhard Kienle. Leben und Werk. 1. Band. Dornach 2003, S. 222.
- Ebd., S. 193 f.
- Vgl. u. a. Peter Selg, Rudolf Steiner. 1861–1925. Lebens- und Werkgeschichte. Sieben Bände. Arlesheim 2017.
- G. Kienle an R. Grosse, 17.10.1979. Zit. n. Peter Selg, Gerhard Kienle. In: Anfänge anthroposophischer Heilkunst. Dornach 2000, S. 345.
- G. Kienle, Ansprache auf der Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft. Dornach, 11.4.1976. Ebd., S. 335.
- Vgl. Peter Selg, Gerhard Kienle. Leben und Werk. 1. Band.
- Zit. n. Peter Selg, Gerhard Kienle: In: Anfänge anthroposophischer Heilkunst, S. 335.
- Ebd.
- Ebd., S. 337.
- G. Kienle, Ansprache auf der Generalversammlung der Anthrop. Ges. Dornach, 11.4.1976. Ebd.
- In: Peter Selg, Gerhard Kienle. Leben und Werk. 2. Band, S. 247–282 (Eröffnungsvortrag der Tagung ‹Die Spiritualisierung der Heilkunst in der Gegenwart›, auf der u. a. auch Madeleine van Deventer, Herbert Sieweke, Bernard Lievegoed, Rita Leroi und Gisbert Husemann sprachen).
- In: Peter Selg, Anfänge anthroposophischer Heilkunst. S. 338.
- Vgl. zuletzt Peter Selg, Das Ringen um die Anthroposophische Gesellschaft der Zukunft. In: Die anthroposophische Weltgesellschaft und ihre Hochschule. Dornach 2023, S. 17–39.
- In: Peter Selg, Anfänge anthroposophischer Heilkunst, S. 343.
- Ebd., S. 349 f.
- Ebd. S. 355.
- Ebd., S. 501.
- Ebd.
- Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M. 1980, S. 144.
- Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum (1924–1925). GA 260a. Dornach 1987, S. 125.
- Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Sechster Band. GA 240. Dornach 1992, S. 183.
- Vgl. u. a. die Darstellung derselben in: Peter Selg, Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die Michael-Schule. Arlesheim 2014.
- Rudolf Steiner, Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft. Vom Goetheanumbrand zur Weihnachtstagung. GA 259. Dornach 1991, S. 254.
- Vgl. zuletzt Peter Selg: Das Ringen um die Anthroposophische Gesellschaft der Zukunft. In: Die anthroposophische Weltgesellschaft und ihre Hochschule. Dornach 2023, S. 17–39.