Sensible Kinder in einer Welt voller Reize

Von der Herausforderung, Kindern eine gute, schöne und wahre Lebenswirklichkeit zu vermitteln und was die von Rudolf Steiner formulierte Loslösung des Ätherherzens damit zu tun hat.


Kinder faszinieren uns oftmals mit ihrer Unbeschwertheit, ihrer Energie und der ihnen eigenen Leichtigkeit, das Leben spielerisch zu nehmen. Wenn alles gut läuft, gehen Kinder davon aus, dass ihre Umwelt ihnen wohlgesonnen ist und dass sie darin geborgen und aufgehoben sind. Doch immer häufiger fehlen jungen Menschen Urvertrauen, Zukunftszuversicht, Kraft und Unbeschwertheit. Karin Michael, Mitglied der Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum, führt das unter anderem auf eine wachsende Sensibilität vieler Kinder zurück, die zugleich immer schwerer zu verarbeitenden Reizen ausgesetzt sind. Aus ihrer Arbeit als Kindergarten- und Schulärztin berichtet sie: «Wir können beobachten, dass es immer mehr Kinder gibt, die sehr wach sind und Symptome von Hochsensibilität zeigen. Auch Autismus-Spektrum-Störungen sind inzwischen in jeder Schulklasse ein Thema.» Körperliche Auswirkungen einer solchen verstärkten Empfindsamkeit zeigten sich oft in allergischen Erkrankungen wie Neurodermitis, Asthma bronchiale oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten sowie in einer wachsenden Zahl von Autoimmunerkrankungen im Kindesalter. Auf psychischer Ebene zeige sich eine Verunsicherung der Kinder und Jugendlichen in Form von Ängsten, Rückzugstendenzen (oft in virtuelle Welten) mit Vereinsamung und Depressionen, die auch zu Identitätskrisen führen können.

Auch Laura Piffaretti, Musiktherapeutin und verantwortlich für die Internationale Koordination Anthroposophischer Kunsttherapien (ICAAT) mit den Fachbereichen Malen&Gestalten, Musik&Gesang, Sprache&Drama beobachtet in ihrer Arbeit, dass gerade junge Menschen immer häufiger, so scheint es, zu empfindsam sind für die Welt, in der wir leben. Sie sieht es als Aufgabe der Kunsttherapien, in den ersten drei Jahrsiebten des Lebens den Grundstein zu legen für die Fähigkeit, die Welt als schön, wahr und gut wahrzunehmen. «Das ist es, was die Welt braucht», sagt Piffaretti, «aber immer mehr Kinder und Jugendliche kommen zu uns in die Therapie und können das nicht in der Form erleben. Sie fragen: ‹Gibt es das überhaupt? Und wie komme ich dahin?›» Dann schaffe die Kunsttherapie einen Raum, in dem diese Erfahrung möglich wird: «Im Selbstausdruck bin ich immer im Hier und Jetzt. Das Erleben ist unmittelbar. Und was unmittelbar ist, ist auch wahr. So versuchen wir, diese drei Qualitäten [Anm. d. Red.: schön, wahr und gut] prozesshaft zum Erlebnis zu bringen.»

Wo ist das Herz?

Doch woran liegt es, dass junge Menschen heute immer seltener aus sich heraus ein unbeschwertes Erleben einer wohlwollenden Welt mitbringen, in der sie ganz selbstverständlich ihren Platz einnehmen? «Was wir versuchen, in der Kunsttherapie zu vermitteln, ist etwas, das ich nur mit dem Herzen erfassen kann», sagt Laura Piffaretti. Das Herz als Symbol alles Rhythmischen in unserem Körper durchläuft allerdings laut Rudolf Steiner im Zeitgeschehen eine Entwicklung, die als Erklärungsmodell für die beobachteten Phänomene dienen kann. Das Ätherherz sei im Begriff, sich nach und nach (laut Steiner bis ins Jahr 2100 hinein) vom physischen Herzen zu lösen. Den Hergang und die Folgen dieses Prozesses beschreibt Rudolf Steiner im 7. Vortrag am 5. April 1919, ‹Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen›, GA 190, S. 120 ff.: «Im Großen und Ganzen ist der Mensch ein physischer Leib, der in einen Ätherleib eingebettet ist; das andere brauchen wir heute nicht zu berücksichtigen. Aber die Innigkeit der Verbindung – ich meine jetzt nicht das räumliche Sich-Decken, aber das Dynamische in der Verbindung –, das ändert sich im Laufe der Erdenentwickelung, und die innigen Beziehungen zwischen dem Ätherkopfe und dem menschlichen physischen Kopf, die bestanden haben zum Beispiel in den Jahrhunderten, von denen man hauptsächlich spricht, wenn man von griechischer Kultur spricht, diese Beziehungen bestehen schon seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert nicht mehr. Seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert ist schon der alte Innigkeitszusammenhang zwischen dem Ätherkopf des Menschen und dem physischen Kopf verloren gegangen. Aber es ist doch immer aufrechterhalten geblieben ein recht inniger Zusammenhang zwischen dem menschlichen physischen Herzen und dem menschlichen Ätherherzen. Aber seit dem Jahre 1721 lockert sich merkwürdigerweise immer mehr und mehr der Zusammenhang zwischen dem menschlichen physischen Herzen und dem Ätherherzen. […] so war das früher mehr ein Ganzes, jetzt kann das Ätherherz geschüttelt werden ätherisch, es ist nicht mehr innerlich so dynamisch verbunden wie früher.» Mit Bezug zum damaligen Christentum führt er aus, dass ein materialistisch orientierter Glaube, der nicht hinterfragt, «gerade seit jener Lostrennung des Ätherherzens vom physischen Herzen außerordentlich gefährlich» sei, da der Bezug zur geistigen Welt dabei vernachlässigt werde (GA 190, S. 123). Dadurch werde es für die Menschen nötig, «etwas, was ihnen früher von selbst kam, durch den natürlichen Zusammenhang zwischen physischem Herzen und Ätherherzen, auf einem anderen Wege zu suchen, auf dem Wege des spirituellen Lebens.» (ebd.)

Auf der einen Seite kann man also folgern, dass der Mensch heute auf der Suche nach einer stimmigen Beziehung zur geistigen Welt ist und für seine Kraft und Gesundheit eines lebendigen Rhythmus und inneren Gleichgewichts bedarf. Auf der anderen Seite herrschen oft regelrecht chaotische Lebens- und Umweltbedingungen, die selbst Erwachsene herausfordern und sich auf ätherischer Ebene immer häufiger in Form von Erschöpfung bis hin zum Burn-out niederschlagen. Was früher womöglich ein materialistisch orientierter christlicher Glaube war, kann heute laut Karin Michael im verbreiteten Glauben an eine virtuell erweiterte Welt und Transhumanismus sowie einen allgemeingültigen Materialismus beobachtet werden.

Was wir in der Kunsttherapie vermitteln, kann ich nur mit dem Herzen erfassen.

Schutzhülle ersetzen

Karin Michael nennt in diesem Zusammenhang die sich immer weiter ausbreitende Virtualität unserer Lebensräume, mehr Lärm und künstliches Licht, die als Stressfaktoren unter anderem nachweislich dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Pubertät bei jungen Menschen immer früher eintritt. Der Rhythmus als Grundlage all unserer Organfunktionen und Lebenskräfte werde immer weniger geachtet und von äußeren Einflüssen gestört, beispielsweise durch eine oftmals bis ins Privatleben hineinragende Arbeitsbelastung, unregelmäßige Essens- oder Schlafenszeiten. Deshalb, sagt Karin Michael, bedürften insbesondere Kinder einer angemessenen Begleitung: «Kinder brauchen eine Stärkung des Lebendigen, aber ebenso Hülle und Schutz. Dazu gehört ein Schutz vor Reizüberflutung, zum Beispiel im Sinne eines elterlich begleiteten oder begrenzten Medienkonsums. Aber auch ungeteilte Aufmerksamkeit, die für Kinder in unserer digitalisierten Welt immer seltener zur Verfügung steht. Und nicht zuletzt ein gesunder Rhythmus, den wir ihnen vorleben und durch Rituale bestärken.» Berührung in Form von Einreibungen mit einem duftenden Öl vor dem Einschlafen könnten die Hülle sensibler Kinder stärken und dabei helfen, beruhigt einzuschlafen, selbst wenn das Kind «die Sorgen der ganzen Welt» während des Tages in sich aufgenommen habe. Die Kinderärztin empfiehlt außerdem, dass Kinder sich austoben und viel Zeit draußen verbringen sollten. «Laufen, klettern, bauen und schnitzen in der Natur sind gute Selbstwirksamkeitserfahrungen, Gelegenheit für Sinneserfahrungen und schulen die Selbstregulation», sagt Karin Michael. Ebenso seien eine achtsam gestaltete, wohlige Umgebung sowie gesunde menschliche Beziehungen die Grundlage dafür, dass wir uns selbst und somit auch unsere Kinder sich aufgehoben und sicher in der Welt fühlen könnten.

Auch die anthroposophischen Kunsttherapien sind laut Laura Piffaretti eine Möglichkeit, einen Umgang mit der besonderen Empfindsamkeit zu finden: «Es geht ja darum, dass diese jungen Menschen trotzdem leben können. Und dafür möchten wir mit ihnen erarbeiten, was es braucht, um diese Empfindsamkeit angemessen zu lenken und in einer positiven Weise zu nutzen.» Besonders sensible oder hochsensible Kinder bringen eine Durchlässigkeit mit, die sie oftmals zu einem sehr feinen sozialen Empfinden befähigt, sagt Karin Michael: «Sie können ihre sensiblen Antennen so einsetzen, dass sie besonders tragfähige soziale Beziehungen und echte salutogenetische Stärke entwickeln» – sofern wir ihnen, ebenso wie uns selbst, ein angemessenes Umfeld dafür ermöglichen.


Veranstaltungen

Das erwachende Ätherherz im Zusammenhang mit der Entwicklung junger Menschen in den ersten drei Jahrsiebten des Lebens war Inhalt der Arbeitstage der Kunsttherapeutinnen und -therapeuten am Goetheanum im Januar 2024. 2025 und 2026 wird es damit in Bezug auf die anderen Jahrsiebte der menschlichen Biografie weitergehen.

Unter dem Titel ‹Das Herz wacht auf› sind auch Online-Liveveranstaltungen der Kunsttherapeutinnen und -therapeuten geplant, jeweils am 27. April und 25. Mai 2024.

Um das Thema ‹Lebenskräfte erschließen in einer Welt der Erschöpfung› wird es beim diesjährigen internationalen Kongress ‹Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit› vom 29. Mai bis 1. Juni 2024 am Goetheanum gehen.


Foto Anna Hecker

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare