Die Selbstmetamorphose des Forschers

Goethes Naturforschung als Weg zu Selbsterkenntnis 

Selbsterziehung ist ein wiederkehrendes Thema in Goethes Werk. Diese Dimension ist jedoch im Rahmen seiner wissenschaftlichen Forschung weniger bekannt. Iris Hennigfeld teilt hier ihre Forschung auf diesem Gebiet und beleuchtet die Verbindung zwischen Selbsterziehung und Erkenntnisprozess.


Goethe setzt sich in exemplarischer Weise mit der Frage einer Selbstbildung des Menschen auseinander. Das ‹Faust›-Drama, an dem Goethe bis zu seinem Lebensende geschaffen hat, sowie der Roman ‹Wilhelm Meisters Lehrjahre› (1795/96) können als Beispiele genannt werden. In beiden Werken macht sich die Hauptfigur auf ihren individuellen Weg in die Welt hinein und bildet sich in mannigfaltigen Auseinandersetzungen mit ihr geistig und charakterlich aus. Goethes ‹Wilhelm Meister› stellt das Vorbild für zahlreiche nachfolgende Autoren, die in diesem Genre produktiv werden, unter anderem für Novalis, Friedrich Schlegel und Gottfried Keller, aber auch für moderne Autoren wie Hermann Hesse.

Was weniger bekannt und anerkannt ist: Nicht nur in seinem dichterischen, sondern vor allem auch in seinem naturphilosophischen Werk setzt sich Goethe – teilweise implizit, teilweise ausdrücklich – mit der Frage einer Selbstbildung des Menschen auseinander. Die Natur zu erkunden, bedeutet für ihn zugleich, den eigenen Geist zu erforschen. Natur- und Geistesforschung sind in Goethes Naturstudien derart ineinander verschränkt, dass sie gleichsam zwei Seiten einer Medaille bilden. Der Forscher sieht sich im Gebiet der Natur mit den Phänomenen dergestalt konfrontiert, dass er genötigt ist, sich an ihnen um- und auszuformen. Was Goethe angesichts des ‹Typus› im Tierreich fordert, gilt als Programm für seine Naturanschauung überhaupt: «Nun aber müssen wir bei und mit dem Beharrlichen beharren, auch zugleich mit und neben dem Veränderlichen unsere Ansichten zu verändern und Beweglichkeit lernen»1, schreibt Goethe in einem Aufsatz zur Anatomie. Die Aussage beinhaltet ein urphänomenologisches Prinzip: Die jeweilige Herangehensweise hat sich nach dem Wesen der Gegenstände zu richten und nicht umgekehrt, das bedeutet, mit einer Methode in Phänomengebieten zu arbeiten, die ihrem Wesen nach verschieden sind.

Geist und Natur sind eins

Goethe ahnt bereits zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Natur, wie sich die Stimme des Geistigen in der Natur nur im Geiste des Menschen aussprechen kann. In der Mitte einer Natur, wie Goethe sie versteht, steht der Mensch, das heißt für ihn ‹idealiter› der ganze Mensch mit sämtlichen Sinnen und Seelenfähigkeiten sowie mit seinen geistigen Kräften. Goethe ist davon überzeugt, dass alle drei Vermögen des Menschen potenziell entwicklungsfähig seien. «Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen»2, lautet es in emphatischer Sprache in einem Aufsatz ‹Die Natur› von 1782. Er setzt fort: «Gedacht hat sie [die Natur] und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur.»3 Zwei Begriffe der Natur liegen in diesem Rätselspruch verborgen. Sie können jedoch rückblickend aus der Perspektive von Goethes späteren Schriften zur Naturforschung enträtselt werden: Die Rede scheint hier von einer Natur zu sein, die dem Menschen als Sinnenwesen gegenübersteht; zu ihr trete eine andere, gewissermaßen zweite Natur, die den Menschen und die erste Natur umgreife. Dieses Umfassende ist für Goethe vernünftig, doch nennt er das sinnend-denkende Wesen hier nicht Geist, sondern eben Natur. Dieser Geist-Natur beziehungsweise einem Natur-Geist wird Goethe später, 1818, mit Referenz auf den Philosophen Spinoza (1632–1677), auch die Namen ‹Gott in der Natur› beziehungsweise ‹Natur in Gott›4 geben.

Aus den wenigen Zitaten wird bereits augenscheinlich, dass die Geist-Natur, die Goethe erlebt und schaut, eine andere ist als die auf Maß und Zahl reduzierte sogenannte ‹objektive Natur› der herkömmlichen, materialistisch orientierten Naturwissenschaften. So sucht er in ihr nicht die abstrakten Gesetze, die ‹hinter› einer geschaffenen Natur, einer ‹natura naturata›, oder ‹hinter› ihrer physischen Erscheinung liegen: nicht «Tiergeripp’ und Totenbein»5, wie Faust an seinem existenziellen Tiefpunkt schmerzlich ausruft. Goethe will vielmehr der schaffenden und wirkenden Natur nachspüren, einer ‹natura naturans›, ihrem lebendigen Inneren und ihrem Geist, der alles Werden in ihr bewirkt.

Foto: Irina Jacob

Was in der frühen prosaischen Hymne von 1782 bereits anklingt, buchstabiert Goethe in den folgenden Jahren auf dem Wege seiner geologischen, botanischen und anatomischen Forschungen wie auch in seiner Farbenlehre ‹contra› Newtons ‹Opticks› (1704) systematisch aus. Goethe ist kein ontologischer Dualist, sein Naturbegriff zielt nicht auf das Andersartige des menschlichen Geistes. Er bezieht vielmehr den Geist, der gewöhnlich der Natur (im herkömmlichen Sinne) oder der Materie entgegengesetzt wird, konsequent in seinen umgreifenden Naturbegriff mit ein. Goethes Ideen der ‹Urpflanze›, der ‹Metamorphose› oder des ‹Typus›, ebenso des ‹Urphänomens› in der ‹Farbenlehre›, gehören zu seinen größten wissenschaftlichen Entdeckungen. Sie können als Inbilder oder Uranschauungen einer Natur verstanden werden, die vom Menschengeist selbst durchleuchtet ist; komplementär handelt es sich bei diesen Ideen um Inbilder eines Menschen-Geistes, der sich in der Natur selbst anschaut. Goethe geht in seiner Naturforschung ‹konkret monistisch› vor. Monistisch ist sein Ansatz deshalb, weil die Ideen über die Natur, die er in seinem Geiste entwickelt, für ihn zugleich wirkende Prinzipien in den Dingen selbst sind. Konkret ist sein Monismus auch deshalb, weil er die Ganzheit einer Natur nicht von ‹oben herab› postuliert, sondern die Mannigfaltigkeit der Phänomene ‹von unten nach oben›, von Anschauung zu Anschauung aufsteigend, aufweist.

Sinnlich-empirisch eintauchen

Eine geisterfüllte Natur nennt Goethe in seinem Aufsatz ‹Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt› (1792) auch die «Erfahrungen der höheren Art»6. Diese ‹höhere Erfahrung› in der Natur kann sich unter bestimmten Bedingungen dem Menschen offenbaren, wenn er seine Bewusstseinskräfte an der Natur schult und entwickelt. In den ‹Betrachtungen im Sinne der Wanderer› (‹Wilhelm Meisters Wanderjahre›, 1829) spricht Goethe ausdrücklich von einer solchen «Steigerung des geistigen Vermögens», die allerdings einer «hochgebildeten Zeit»7 angehöre. Diese Aussicht schien ihm zu jenem Zeitpunkt begründet, denn Goethe war seiner Auffassung nach zuvor tatsächlich mit seiner Entdeckung der Metamorphosegesetze schauend in das Innere der Natur eingedrungen. Immanuel Kant dagegen, der die menschliche Vernunft ‹a priori› auf ihre Diskursivität begrenzt und damit bis heute als philosophischer Gewährsmann für die herkömmlichen Naturwissenschaften gelten kann, wäre ein solches Unterfangen «unbillig und unvernünftig»8 erschienen. Den Lesern und Leserinnen sei an dieser Stelle Goethes Schrift ‹Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären› von 1790 wärmstens ans Herz gelegt.

Das Einswerden des Menschen mit dem Inneren der Natur erfüllt für Goethe keinen Selbstzweck. Durch ein ‹[A]malgamieren›9, wie er das geistige Identischwerden mit den Gegenständen auch nennt, könne die Natur selbst auf eine höhere Seinsstufe gehoben und in diesem Sinne ‹reif› werden. Ebenso könne der Menschengeist sein eigenes Wesen erst verstehen und der Mensch zu seiner wahren Bestimmung gelangen, wenn er die entsprechenden Organe hierzu entwickelt habe. Einen ausgezeichneten Weg, diese geistigen Fähigkeiten zu bilden, stellt für Goethe neben dem künstlerischen Schaffen die Naturforschung dar.

Um Zugang zu einer geisterfüllten Natur zu erlangen, genügen Goethe zufolge weder die gewöhnlichen Erfahrungen der physischen fünf Sinne noch abstrakte Operationen des gewöhnlichen wissenschaftlichen Verstandes. Der Mensch habe sich vielmehr zu einem geistig schauenden Bewusstsein hinzuentwickeln, das über sogenannte ‹Geistes-Augen› verfügt. Mit ihnen könne vernommen werden, was mit den physischen Sinnen allein nicht vernehmbar sei: das nicht-sinnliche beziehungsweise über-sinnliche Wesen oder die Idee eines Naturphänomens, das sich im Sinnlichen zeigt. Es bräuchte im Einzelnen, Goethe zufolge, sowohl eine vollkommen neue Qualität von Wahrnehmungssinnen als auch ein höheres geistiges Vermögen. Zum einen haben sich die Sinne und damit die Wahrnehmungen frei zu halten von allen begrifflichen Vorurteilen, die sie korrumpieren könnten. Goethe schlägt deswegen, in Analogie zu Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› (1781/86), eine ‹Kritik der Sinne›10 vor. Zum anderen habe sich der Forschergeist dahingehend zu entwickeln, dass er im Anschauen der Naturphänomene in besonderer Weise seelisch ‹beweglich› und geistig ‹tätig› (produktiv) wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass dies nicht in willkürlicher, sondern völlig gesetzmäßiger, an den Phänomenen orientierter Weise zu geschehen hat. Goethe schlägt vor, sinnlich-empirisch in die Erscheinungswelt einzutauchen, seine seelischen Kräfte an ihr zu schulen und schließlich über weitere intuitive, also geistig anschauende Bewusstseinstätigkeiten seine Ideen über die Natur auszubilden.

Exakte sinnliche Fantasie

In einem Textabschnitt mit der Überschrift ‹Genetische Behandlung› von 1798, in den die Forschungen zur Metamorphose bereits eingeflossen sind, schildert Goethe seine Methode im Kern. In Kürze: Zunächst ist das Werden eines Naturdinges wie beispielsweise einer Pflanze wahrzunehmen und zu beobachten. Ausgehend von der «entstandne[n] Sache»11 werden nun rückblickend die einzelnen Stufen ihrer Entwicklung präzise erinnert. Der Forscher hebt in einem weiteren Schritt aktiv die mannigfaltigen (Erinnerungs-)Vorstellungen in seinem Bewusstsein auf, löscht also dessen Inhalte aus. Die entsprechende innere geistige ‹Tätigkeit› jedoch, die mit dem Beobachten und Erinnern einer Folge von Entwicklungsschritten verbunden war, der ‹Eindruck›12 einer Sache, wie Goethe es nennt, ist im seelischen Erleben aufrechtzuerhalten.

Foto: Franco Antonio Giovanella

Das geschilderte Vorgehen fordert eine erhöhte bewusstseinsmäßige Anstrengung. Diese geistige Arbeit ist jedoch für die potenzielle Bildung eines neuen Geistorgans, eines ‹Geistes-Auges›, unentbehrlich. Goethe ist davon überzeugt, dass der Forscher mit einiger Übung zu etwas befähigt werden könne, was für den gewöhnlichen Verstand unmöglich scheint: Das sukzessive Werden einer Pflanze oder eines anderen lebendigen Wesens, das in der Zeit verläuft, auf diesem Wege gleichsam simultan in einem Augenblick «als ein Ganzes anzuschauen»13. Die unmittelbare Anschauung eines Ganzen ist jedoch notwendig, um das Wesen eines Organismus zu verstehen und dessen Teile aus dem Ganzen ableiten zu können. Erst nach nahezu einem halben Jahrhundert naturforschender Praxis (!) wird Goethe für seine bildsame und bewegliche Methode einen geeigneten Namen finden: Er prägt hierfür in einem Aufsatz von 1824 den Begriff «exakte sinnliche Phantasie»14. Auf dem beschriebenen Weg kann sich der Beobachter in der Anschauung einer lebendigen Natur und ihrer stetigen Wandlungen selbst metamorphosieren. Die Selbstmetamorphose des Forschers ist jedoch unabdingbar, um das Geheimnis des Lebendigen zu entschleiern.

Erkenntnis ist immer anthropomorphisch

Goethes Methode zeigt eine weitere Besonderheit: Er ist überzeugt, dass die entsprechenden Auffassungs- und Erkenntnisorgane ‹für› die Phänomene erst ‹an› den Phänomenen entwickelt werden müssen. So notiert er in Italien: «Ich muß erst mein Auge bilden, mich zu sehen gewöhnen.»15 Brieflich berichtet Goethe an Schiller über die Arbeit an seiner Farbenlehre und bekennt, dass er «kein Organ zur Behandlung der Sache mitbrachte», sondern sich dieses «immer in und zu der Erfahrung bilden mußte»16. Wenn erst an und mit den Phänomenen ein neues «Organ» des Auffassens entsteht, kann die Methode schließlich den ganzen Menschen verwandeln. Dieser selbst wird zu einem neuen, gleichsam umfassenden Organ der Erkenntnis.

Wer sich mit Goethes Naturforschung auseinandersetzt, stößt auf eine scheinbare Paradoxie: Einerseits bekräftigt Goethe ein anschauungsgeleitetes sowie phänomengegründetes – in seinen Worten auch ‹gegenständliches›17– Verfahren, in dem sich alles «Factische» selbst schon als «Theorie»18 zu erweisen habe. Andererseits steht für Goethe doch der Mensch im Mittelpunkt seiner Forschung, und zwar sowohl als Akteur als auch als Sujet beziehungsweise ‹Gegenstand›. Beispielhaft hierfür ist das Kapitel über die physiologischen bzw. subjektiven Farben in Goethes ‹Farbenlehre›. Den menschlichen Sinnen trägt Goethe in diesem Abschnitt dadurch Rechnung, dass er deren konstituierenden Beitrag zum Erscheinen der Phänomene ausdrücklich bedenkt und wissenschaftlich rechtfertigt. Nicht nur das Sehen von Farben, sondern das Wesen der Erkenntnis überhaupt sei für ihn «anthropomorphisch»19: Sie ereigne sich nur im Menschen und stifte nur in ihm Sinn. Demgegenüber erschiene es Goethe widersinnig, von der Existenz einer Natur ‹an sich› ohne den Menschen zu reden, die dann jedoch in einer Art ‹salto mortale› vom Menschen nachträglich zu rekonstruieren und über die physikalisch zu theoretisieren wäre.

Goethe entlarvt in einem Tagebucheintrag von 1817 den fatalen Irrtum der Physik (und ihrer Hilfswissenschaft, der Mathematik), der sich in dieser naiven, objektivistischen Sichtweise auf die Dinge manifestiert. Deren «Hypothesen und Analogien sind versteckte Anthropomorphismen, Gleichnisreden und dergleichen»20, heißt es. Die Physik glaube, «das Phänomen auszusprechen, anstatt daß sie sich um die Bedingungen bekümmern sollten, unter welchen es erscheint»21. Die wichtigsten Bedingungen jedoch, unter denen sämtliche Phänomene einschließlich der entsprechenden Theorien über sie überhaupt zutage treten können, liegen für Goethe im Menschen selbst, in dessen Sinnen und Bewusstseinsfähigkeiten.

Bewusstes Vergessen

Doch im Menschen und seinen Fehl- und Vorurteilen über die Dinge und über sich selbst lauern für Goethe zugleich die größten Gefahren für die Erkenntnis. Daher ist der Weg einer Selbstbildung für ihn stets verbunden mit dem Pfad der Selbsterkenntnis. Mögliche Gefahren für die Erkenntnis durchdenkt Goethe in nahezu jedem seiner naturwissenschaftlichen oder autobiografischen Werke. Ein erster wichtiger Schritt in einer Praxis der Selbsterkenntnis besteht für ihn darin, den Phänomenen möglichst vorurteilslos und voraussetzungsfrei zu begegnen. Dies bedeutet nicht, zu einem (hypothetischen) Nullpunkt und zu dem Bewusstseinszustand einer (ebenso hypothetischen) ‹tabula rasa› zurückzukehren. Es besagt, auf jedem Schritt der Forschung in das Urteilen nur das einzubeziehen, was sich in der ursprünglichen Anschauung der Dinge erfüllt hat und mit einem Evidenzerlebnis verbunden ist, nicht aber das, was von einem Bewusstsein bloß ‹vermeint› und für etwas gehalten wird. Beides schrittweise unterscheiden zu lernen, ist ein wesentlicher Teil der Naturforschung in Goethes Sinne. Es braucht, vereinfacht gesagt, die geistige Offenheit dafür, dass die Dinge stets neue Facetten zeigen oder sich als etwas ganz anderes erweisen, als sie es bisher getan haben.

Dies stellt vor große geistige und existenzielle Herausforderungen. Goethes Reise nach Italien (1786–1788) ist für dieses Vorgehen beispielhaft. Seine Tagebücher bezeugen, wie der aufmerksame Beobachter bestrebt ist, dasjenige zurückzuhalten, was er – gewissermaßen der natürlichen Einstellung und der naiven, unreflektierten Tendenz des Erfahrens folgend – in der Begegnung mit den Dingen immer schon mitbringt und an sie heranträgt. Hierzu gehören für Goethe sämtliche Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen, die nicht aus der ursprünglichen Anschauung der Phänomene selbst geschöpft sind. Es geht ihm ausdrücklich nicht darum, theoretisch Gewusstes zu erinnern und vergangene Erfahrungen unmittelbar an die Dinge heranzutragen, sondern zunächst das übernommene Wissen gleichsam zu vergessen. Aus diesem Grund wolle er prüfen, «wie weit und ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen und gedrückt haben, wieder auszutilgen sind».22

Insofern Goethe das Vergessen als eine besondere Methode der Urteilsenthaltung reflektiert und praktiziert, handelt es sich um ein vermeintliches Paradoxon: ein Vergessen, das nicht einfach geschieht, sondern bewusst herbeigeführt wird. Goethe bezeichnet eine aktive und produktive Form des Vergessens vergangener Erfahrungen ausdrücklich auch als ein ‹Verlernen›. So berichtet er von seiner ‹Wiedergeburt› in Italien und gesteht: «[D]aß ich aber so weit in die Schule zurückgehn, daß ich so viel verlernen müßte dacht ich nicht.»23 In den Tätigkeiten des Vergessens und Verlernens werden nicht nur diejenigen Vorannahmen zurückgehalten, die sich auf das Vorstellungsleben und die Denkgewohnheiten der eigenen Lebenspraxis beziehen; zurückgehalten werden weiterhin nicht nur die Lehrmeinungen und Vorurteile, die von den herkömmlichen Wissenschaften übernommen sind. Vielmehr sind ebenso die natürliche Färbung und das Gestimmtsein der eigenen ‹Seele›, die Tendenzen von Sympathie und Antipathie im Hinblick auf die Dinge einer Reinigung zu unterziehen.

Eine Aufzeichnung aus Italien deutet auf diese Praxis, sich der eigenen, noch nicht umgebildeten, noch nicht geläuterten Seelenneigungen zu enthalten: «Ich lebe sehr diät und halte mich ruhig damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen.»24 ‹Diät› zu leben heißt, so kann man Goethe verstehen, vor allem die subjektiven Belange und das selbstbezogene Interesse an der Welt und den Dingen zurückzuhalten. Erst dieser befreite Blick ermöglicht es, dass die Phänomene in ihrem Selbstgegebensein hervorleuchten können.

Sich selbst streng beobachten

Weiteren Gefahren für die Erkenntnis widmet er sich in wissenschaftstheoretischer Sprache in seinem Essay ‹Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt› (1792). Seinen inneren Feinden ist der Mensch in dem Moment ausgeliefert, wenn er seine Erfahrungen deuten und in der wissenschaftlichen Praxis von den Wahrnehmungen zum Urteil übergehen will. Goethe warnt vor dem Moment, in dem «wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit, und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag»25. Mögliche Quellen des Irrtums liegen für Goethe vor allem in der eigenen Persönlichkeit, im eigenen Charakter des Forschers.

Für Goethe wohnt dem Erkennen und der Wissenschaft immer auch eine moralische Komponente inne. Die Feinde der Erkenntnis können jedoch potenziell unschädlich gemacht werden. Hierzu bedarf es einer stetigen und kritischen Selbstreflexion des naturforschenden Geistes. Diese Selbstkritik stellt für Goethe die wichtigste Tätigkeit dar, die sämtliche weiteren experimentellen Praktiken begleiten muss. Er fordert vom Forscher, stets «sein eigner strengster Beobachter» und «immer gegen sich selbst mißtrauisch»26 zu sein. Naturstudien verlangten für ihn daher eine «Durcharbeitung seines armen Ichs»27, wie er 1794 gegenüber seinem Freund Friedrich Heinrich Jacobi äußert. Der Sinn dieser Selbstkritik ist unter anderem, den subjektiven Beitrag zu dem, wie einem Beobachter etwas erscheint, von dem zu sondern, was der Gegenstand von sich selbst her mitbringt. Dies zu unterscheiden, sei, insofern Wissenschaft nicht nur auf eine nützliche Erklärung, sondern auf die Wahrheit ausgerichtet ist, unabdinglich.

Notwendigkeit einer Forschergemeinschaft

Goethe bekennt in einem Aphorismus: «Kenne ich mein Verhältniß zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß’ ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»28 Der Spruch ist offen für vielfältige Lesarten, eine mögliche ist folgende: Der Mensch erkennt sich selbst, indem er seine eigene Wesenheit anschaut. Wer seine eigene Wesenheit kennt, steht gleichsam inmitten seiner eigenen ‹Wahrheit›. Der Mensch kann an seinem eigenen Idealbild schaffen, das an dieser Wahrheit orientiert ist, und sich selbst in diesem Sinne ‹bilden›. Die eigene ‹Wahrheit› scheint für Goethe an das Individuum gebunden zu sein. Sie liegt jenseits der logischen Kategorien von ‹richtig› und ‹falsch›, sondern ist in einem moralisch produktiven und, wie Goethe sagen würde, ‹fruchtbaren› Sinn zu verstehen.

Iris Hennigfeld

Die eigene ‹Wahrheit› darf jedoch nicht beliebig, nicht willkürlich sein. Nur wer seinen geistigen Ort in der Welt kennt und sich dessen gewiss ist, aus welcher Perspektive er oder sie auf eine umfassendere Wahrheit blickt, bildet diese eigene ‹Wahrheit› aus. Sie steht dann im Verhältnis zu einer umfassenderen, ganzheitlichen Wahrheit, die sich erst aus den mannigfaltigen Perspektiven einer Vielzahl von Menschen, die auf «einen Punkt gerichtet» und in dem Sinne ‹gebildet› sind, ergeben würde. Diese Art Forscher- oder, besser gesagt, Geistgemeinschaft ist ein Ideal für die Zukunft. Goethe hat für dieses Ziel einen Anfang gesetzt.


Titelbild Irina Jacob

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Footnotes

  1. MA 12:127. Zitiert wird unter Angabe des Bandes und gegebenenfalls des Teilbandes sowie der Seitenzahl nach: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe (MA), hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, München 1985 ff.
  2. MA 2.2:477.
  3. MA 2.2:477.
  4. MA 12:100.
  5. MA 6.1:546.
  6. MA 4.2:331.
  7. MA 17:823.
  8. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 333.
  9. MA 6.2:821.
  10. MA 17:805.
  11. MA 4.2:191.
  12. Ebda.
  13. Ebda.
  14. MA 12:356.
  15. MA 3.1:65.
  16. MA 8.1:501.
  17. MA 12:306 f.
  18. MA 17:824.
  19. MA 17:203.
  20. Johann Wolfgang Goethe, Tagebücher, Band VI,1 (1817–1818), München 2014.
  21. Johann Wolfgang Goethe, Tagebücher, Band vi,1 (1817–1818), München 2014.
  22. MA 3.1:39.
  23. Brief Goethes aus Italien an Charlotte von Stein vom 20. Dezember 1786. In: Johann Wolfgang Goethe, Briefe. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Band 2:1786–1805. Hg. von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe, Hamburg 2013, S. 33.
  24. MA 3.1:80.
  25. MA 4.2:326.
  26. MA 4.2:323.
  27. Goethe, Briefe. Band 2. S. 192.
  28. MA 17:198.

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