Impressionen einer anderen Welt

Eindrücke einer Begegnung mit Russland


Ich empfand die Ungerechtigkeit einer Welt, in der es durch Politik und Grenzbestimmungen völlig unklar ist, ob und wann ich die Menschen wiedersehe, welche mir ans Herz gewachsen sind.

Von Anfang an erschien mir die geplante Reise mit einer Gruppe von Jugendlichen und Erwachsenen der Weimarer Waldorfschule als sehr unwirklich. Als ob wir einen fremden Planeten besuchen würden. Dieses Gefühl von ‹das wird gar nicht stattfinden› hielt bis kurz vorher an. Da es jedoch fünf Tage vor Abfahrt so aussah, als ob wir wirklich fahren würden, musste ich aktiv werden. Was braucht man für eine 40-stündige Fahrt mit anschließendem Aufenthalt auf dem ‹fremden Planeten› namens Russland? Ich kam in Vorbereitungsstress. So begann sich mein persönlicher roter Faden dieser Reise zu spinnen: die kurzen Nächte!

Russland ist kein fremder Planet, Russland ist eine andere Welt. Moskau als größte Stadt Europas mit 20 Millionen Einwohnern ist ebenfalls eine andere Welt. Anders als die Welt, die wir kennen. Die gute Nachricht ist, dass der Weg in diese Welt frei ist! Wir sind die ganze Reise über in keine Schwierigkeiten geraten. Die Menschen in Russland, mit denen wir in Kontakt gekommen sind, waren herzlich und freundlich zu uns. Für die Kinder an der Moskauer Pinskij-Schule (Waldorfschule) waren wir die Außerirdischen: spannend, fremdartig und hochinteressant! Im Unterricht wurden wir von den Lehrenden durchweg als «liebe Freunde aus Deutschland» begrüßt. Die Kinder stellten Fragen: Wie wir heißen, wie alt wir sind, wie viele Geschwister und welche Hobbys wir haben. Selbst auf den Schulfluren suchten neugierige Augen den Kontakt zu uns.

Gewohnt haben wir in den Familien der 10. Klasse, unserer Gastklasse. Das Leben in den Gastfamilien war ein tägliches Gesprächsthema. Von der Länge des Schulwegs über die Art der Unterbringung, darüber, was es zum Frühstück gab, bis hin zur sprachlichen Verständigung und Integration in die Familien. Mein roter Faden machte sich in meiner Gastfamilie so bemerkbar: Abends nach dem Essen saßen wir beieinander, es wurde Tee gekocht und mir wurden die merkwürdigsten Spezialitäten aus Sibirien zum Probieren aufgetischt: Rauchbirnensaft oder Zedernharz zum Kauen. Zur großen Freude meiner Gastmutter schmeckte mir das Meiste.

Für die zweite Woche fuhren wir zusammen mit russischen Schülerinnen und Schülern eine Nacht lang mit einem Großraumschlafwagen hinaus aufs Land. Es war ein lustiger Abend, als wir im Schlafwagen zwischen den schlafenden Russen bis spät in die Nacht auf einem Bett zusammengequetscht möglichst leise lachend und schlürfend aufgegossene Nudelsuppe aßen. Am nächsten Morgen erreichten wir das nördlich von Moskau gelegene Wologda. Im Morgenrot sah ich zum ersten Mal den russischen verschneiten Wald mit seinen hohen schmalen Fichten, Kiefern und Birken.

‹Eine warme Klasse›, so habe ich die 10. Klasse der Pinskij-Schule in Moskau erlebt. Die Wärme entstand durch ein vielfältiges Netz von Freundschaften innerhalb der Schülerschar. Ich als Außenstehende hatte am Anfang den Eindruck: Das Beziehungsgeflecht ist undurchschaubar, aber jeder redet mit jedem. Während der zweiten Woche wurde durch das intensive Zusammenleben mit der Klasse die zweite Wärmequelle erlebbar: Es herrschte eine allgemeine, selbstverständlich wirkende körperliche Nähe zwischen den Moskauer Jugendlichen. Abends beim Unterricht rückten wir auf Fußböden, Sesseln und Sofas zusammen. Köpfe ruhten an Schultern, Rücken lehnten an Knien, Füße und Beine berührten die Nächsten. Während wir zuhörten (manche schliefen schon), wurden wir durch die Berührungen zu einer großen warmen Gemeinschaft. Katja, eine junge Lehrerin, sagte: «Es ist kalt in Russland. Da müssen wir alle ein bisschen zusammenrücken, damit es warm und gemütlich in diesem Land wird.» Zum Abschluss dieser Abendrunden wurde gemeinsam auf Deutsch, Russisch und Englisch gesungen. Wobei der russische Liederanteil den deutschen bei Weitem überstieg. Wir haben gemerkt, die Russen, die können singen! Ich habe meine Geige ausgepackt und die müde gewordenen Sängerinnen und Sänger mit improvisierter zweiter Stimme begleitet. Ebenfalls überraschend: Die Russen lieben ihren Schnee. Einer der Lehrer war fast immer wurfbereit mit einem fertigen Schneeball in der Hand. Schneeballschlachten und gegenseitiges Sich-in-den-Schnee-Werfen waren Teil der Tagesordnung. So hat sich unsere kleine deutsche Minderheit von den vielen russischen Schülern und Schülerinnen mitnehmen lassen von ihrer Wärme, Musik und Schneefreude.

Der Kulturimpuls von deutscher Seite aus war die Arbeit an den Bäumen. Zum einen Apfelbäume zu züchten und zu veredeln und zum anderen in einem Waldstück durch Forstarbeiten Licht und Luft zwischen die Bäume zu bringen. Gemeinsam mit den Händen an einem Stück russischer Erde zu arbeiten, war für die stadtgeprägten Moskauer Jugendlichen neu. Klaus Wäschle formulierte beim letzten gemeinsamen Unterricht den Schlusssatz: «Statt in Nationen zu denken, lasst uns gemeinsam an dieser einen Erde arbeiten.» Ein unschätzbarer Dank geht an ihn. Dafür, dass er an diese Fahrt geglaubt und sie zusammen mit unserem Dolmetscher Magnus Hipp auf den Boden gebracht hat!

Der Abschied fiel schwer und in meinem Fall tränenreich aus. Ich empfand die Ungerechtigkeit einer Welt, in der es durch Politik und Grenzbestimmungen völlig unklar ist, ob und wann ich die Menschen wiedersehe, welche mir ans Herz gewachsen sind. Am Morgen der Abreise wurde ich krank. So kam ich nach all den kurzen Nächten und erlebnisreichen Tagen übermüdet, erschöpft, aber erfüllt in Deutschland an.

Ich hoffe, ich sehe sie wieder. Ich hoffe auf den herzlichen Blick von Katja, das aufmerksame Gesicht von Samson, die liebe Miene von Ira, das Doppelgespann Axenia und Nikita, den verträumten Blick von Kostja, das (vermutlich) glückliche Lächeln von Danja, den schnellen Blick von Sonja, das fröhliche Gesicht von Tanja, die zufriedene Miene von Larrion, Palinitschka mit ihrer Gitarre, Dimitri mit dem Schneeball in der Hand … und wie sie alle heißen.


Zeichnung Dietlind Tober

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