Die höhere Führung suchen

Die Lage in Israel und Gaza einzufangen, ist in diesen Tagen schwierig. Die Situation ist nicht ein- oder zweidimensional zu beschreiben. In der letzten Woche erreichte die Redaktion dieser persönliche Brief von dem Ehepaar Ephrat Angress-Ewald und Axel Ewald aus Harduf, ein Kibbuz und einer der ältesten Gemeinschaftsorte für anthroposophische Initiativen in Israel.


Es sind Zeiten der Spaltung und widersprüchlicher Willensäußerungen. Man hat starke Gefühle und ist dennoch nicht in der Lage, entsprechend zu handeln. Die Trauer und das Chaos sind enorm, in Israel wie in Gaza. Tausende trauern um ihre Angehörigen – Zivilisten und Zivilistinnen ebenso wie die Kämpfenden. Hunderttausende wurden aus ihren Häusern (oder Ruinen) evakuiert. Vor dem Beginn der israelischen Bodenoffensive ging es in Israel vor allem darum, die 240 Geiseln zu befreien, die von den Kämpfern der Hamas und des Islamischen Dschihad in den Gazastreifen entführt wurden (unter ihnen befinden sich Kinder, Säuglinge, Frauen, Verwundete und Menschen in vorgerücktem Alter).

Doch anstatt alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, eine friedliche Einigung zur Freilassung aller Geiseln zu erzielen – um welchen Preis auch immer – haben Rachegefühle und ‹kriegstaktische› Überlegungen die Oberhand gewonnen. Anstatt den überlebenden Geiseln bei der Rückkehr nach Hause zu helfen, begraben nun immer mehr Familien ihre Lieben, seien es zivile Opfer oder gefallene Kämpfer.

Jetzt, fast sechs Wochen nach den schrecklichen Ereignissen vom 7. Oktober, werden die große Sorge um das unbekannte Schicksal der Geiseln und die Frustration über das Vorgehen der rechtsradikalen Regierung immer spürbarer. Neben den unzähligen Beerdigungen, der Atmosphäre tiefer Trauer und einer allgemeinen Depression kehren die Demonstrationen gegen die israelische Regierung, die vor dem Krieg acht Monate lang den Alltag bestimmt hatten, wieder zurück. Kritik an den israelischen Militärangriffen in Gaza, ja sogar der Ausdruck von Mitgefühl mit den leidenden Menschen von Gaza sind allerdings immer noch kontrovers.

Viele Menschen in Israel hoffen auf ein baldiges Ende des Krieges und verfolgen mit Entsetzen die Zerstörung in den Siedlungen im Süden Israels und in Gaza, die Eskalation an der Nordgrenze sowie die Angriffe der Hisbollah, die zur Evakuierung Tausender weiterer Menschen und zu mehr Tod und Zerstörung geführt haben.

Wir glauben, dass die wirklichen Konfliktparteien nicht palästinensische und jüdische Menschen sind, sondern dass die wahre Auseinandersetzung stattfindet zwischen denen, die glauben, dass sie es verdienen, alles zu haben und dafür kämpfen, und denen, die an das Recht aller auf ein menschenwürdiges Dasein glauben und dafür kämpfen.

Am Anfang war es sehr schwer, die durch den Schock und die Flut an schrecklichen Nachrichten verursachte Lähmung zu überwinden. Allerdings gelang es uns vor allem durch die Hilfestellung an andere Menschen etwas Positives der Dunkelheit entgegenzustellen. Viele Menschen in Israel engagierten sich in unzähligen freiwilligen Hilfsaktionen, die sich um das Wohlergehen der Soldaten und um die Opfer des Angriffs vom 7. Oktober, unabhängig von deren Religionszughörigkeit, kümmerten.

Der brutale Anschlag des 7. Oktobers hat nicht zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung unterschieden. Arabische Menschen waren unter den Opfern und auch unter jenen, die ihr Leben zur Rettung anderer riskierten. Seither sind viele Ausdrucksformen der Solidarität und Zusammenarbeit innerhalb Israels sichtbar geworden. So organisierten in Städten mit gemischter Bevölkerung jüdische und arabische Bürger und Bürgerinnen gemeinsame Patrouillen, um drohender Gewalt vorzubeugen. Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann liegt er in diesen Solidaritätsbekundungen.

Es gibt jedoch auch andere, weniger positive Phänomene. Während die öffentliche Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Gaza gerichtet ist, beschleunigen fanatisch-nationalistische jüdische Siedler im Westjordanland ihre ethnische Säuberung kleiner Hirtengemeinschaften. Seit vielen Jahren kommt es zu häufigen Angriffen auf Häuser und Tiere, zum Abbrennen von Weideflächen, Fällen von Obstbäumen oder dem Diebstahl der Ernte. Doch seit Kriegsausbruch nahmen die Siedlerangriffe auf die Hirtenfamilien sprunghaft zu – mit Unterstützung ihrer Vertreter in der Regierung, die zum Teil wichtige Ministerämter innehaben. Zu diesen repressiven Maßnahmen gehört es, den Familien den Zugang zu dringend benötigtem Trinkwasser zu verweigern und ihnen mit Gewalt zu drohen, wenn sie nicht innerhalb weniger Stunden ihre Behausungen verlassen. Viele Familien – Hunderte von Menschen – wurden bereits ethnisch von ihrem rechtmäßigen Land gesäubert.

Wir sind kürzlich der ‹Jordan Valley Shepherds Watch›-Organisation beigetreten, einer Gruppe engagierter Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen, die diese bescheidenen, warmherzigen Familien, die in bitterster Armut und unter ständiger existenzieller Bedrohung leben, begleiten und beschützen. Unsere bloße Anwesenheit (rund um die Uhr) schafft einen menschlichen Schutzschild.

Da ihre Kinder seit Kriegsausbruch nicht mehr zur Schule gehen konnten, übernahmen einige von uns ihren Unterricht. Wir arbeiten künstlerisch mit den Kindern: Modellieren mit örtlichem Lehm, Gestalten von Mandalas mit Naturobjekten, Bewegungsspiele, Anlegen eines kleinen Kräutergartens usw. Da es allen Spaß macht, gelingt es uns, der herausfordernden Situation für eine kostbare Zeit lang zu entfliehen.

Unsere eigene Gemeinschaft, das Kibbuz Harduf, liegt einige Dutzend Kilometer von der Grenze entfernt. Dennoch wirkt sich der Schrecken des Krieges auch auf uns aus. Mitglieder der Gemeinschaft haben Verwandte verloren und viele junge Männer wurden zum Militärdienst eingezogen. Einige von ihnen wurden in die Hölle von Gaza geschickt. Ein junger Soldat, der Schüler unserer örtlichen Waldorfschule gewesen war, wurde getötet. Ein anderer wurde schwer verletzt.

Gemeinsam mit anderen organisieren wir Zusammenkünfte mit meditativen und kreativen Aktivitäten: Singen, Eurythmie, Baumpflanzen und andere gemeinschaftliche Veranstaltungen. Wir wurden auch gebeten, aus unseren Erfahrungsgebieten in Kunst, Geschichtenerzählen und Therapie beizutragen. Solche Aktivitäten schaffen Momente innerer Sammlung und Seelenruhe und fördern eine helfende Verbindung mit Kräften und Wesen, die größer sind als wir.

Vielleicht sind das aktuelle Chaos, das Leid und die Zerstörung alter Ordnungen die ersten Geburtswehen einer neuen, menschlicheren, spirituelleren Epoche, auch wenn dies erst lange nach dem Ende unseres jetzigen Lebens zur Verwirklichung kommen wird. Wir brauchen dringend größere Perspektiven, die uns die Kraft geben, die Hoffnungslosigkeit der Gegenwart zu überstehen und Samen für die Zukunft zu säen. In einem wunderbaren Buch, das wir gerade lesen (Iris Paxino: ‹Brücken zwischen Leben und Tod›), beschreibt die Autorin, wie die verstorbenen Seelen das Geschehen auf der Erde begleiten und neue hilfreiche Impulse für die zukünftige Entwicklung der Menschheit geben auf diesem gefährdeten Planeten. Es ist ermutigend zu wissen, dass wir nicht allein sind.

Einen solchen Brief gemeinsam zu schreiben, war ein ziemlich herausforderndes Unterfangen, aber gleichzeitig auch eine hervorragende Übung in gewaltfreier Kommunikation!


Bild Blick von Harduf in Richtung Haifa, Foto: Franka Henn

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare