Die Genschere in der Hand

Im September erhielten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna den Nobelpreis für die Entwicklung der sogenannten Genschere. Ein Gespräch dazu mit dem Biologen und Genetiker Johannes Wirz von der Naturwissenschaftlichen Sektion. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Was hat es mit dem Nobelpreis für Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna auf sich?

Ende der 1980er-Jahre wurde in Bakterien ein komplexer Vorgang entdeckt, wie Viren ausgeschaltet werden. Die Bakterien sind nicht nur fähig, die Viren zu erkennen und ihre DNA zu zerstören, sondern sie bauen auch Genschnipsel aus dem Virusgenom in regelmäßigen Abständen in das eigene Genom ein. Die Orte des Einbaus bestehen aus kurzen Sequenzen, die vorwärts und rückwärts gelesen gleich lauten, es sind also Palindrome wie zum Beispiel «Anna» oder «Reittier». Sie wurden deshalb Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats oder CRISPR genannt. Wenn ein solcher Repeat mit einem Stück angehängter Virus-DNA in RNA übersetzt wird, bildet die palindromische Sequenz eine doppelsträngige Struktur, die in der Lage ist, an das Eiweiß Cas9 anzudocken. Der ‹RNA-Schwanz›, die sogenannte ‹guiding RNA›, bringt den Eiweiß-RNA-Komplex exakt zum Genort eines Virus. Hier schneidet er die Virus-DNA entzwei. Die Bakterien entwickeln damit eine erworbene Abwehr gegen Viren, die sie nach der Zellteilung auch den Tochterzellen weitervererben.

Mit diesen Erkenntnissen fing Charpentier an, mit CRISPR-Cas9 zu experimentieren. Sie entdeckte, dass die zerschnittenen DNA-Stränge in Bakterien wieder zusammenfügt werden können. Dabei gehen manchmal DNA-Bausteine verloren, manchmal werden aber auch zusätzliche eingebaut. Auf diese Weise können mit CRISPR-Cas9 zielgenau genetische Veränderungen vorgenommen werden.

Welche Rolle spielen nun die beiden Preisträgerinnen?

Die Geschichte tönt wie ein Märchen. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna haben sich per Zufall auf einer Konferenz kennengelernt. Jene hat sich für die Funktionen von CRISPR-Cas9 interessiert, diese als Kristallografin für die molekulare Form des Eiweiß-RNA-Komplexes. Anstatt sich gegenseitig als Konkurrentinnen zu sehen, was normalerweise oft geschieht, haben sie beschlossen, zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie die Methode zur Praxisreife und stellten die Genschere für Grundlagenforschung gebührenfrei zur Verfügung. Gleichwohl haben beide Frauen den Mechanismus patentieren lassen. In Harvard entwickelten Forscher CRISPR-Cas für die gerichtete gentechnische Veränderung von eukaryotischen Zellen weiter. Über die leidige Frage, wem die Urheberrechte gehören, wird nun von Patentanwälten vor Gericht gestritten.

Wie wird CRISPR-Cas angewendet?

Gegenüber der klassischen Gentechnik gibt es viele Vorteile. Erstens können mit CRISPR-Cas mehrere Genorte, bis zu 40, auf einmal verändert werden. Mit der klassischen Gentechnik, bei der immer nur eine Mutation auf einmal eingeführt werden kann, wären dafür zum Beispiel in der Maus 30 bis 50 Generationen notwendig.

Der zweite Vorteil ist vielleicht noch weitreichender. CRISPR-Cas ist eine billige Methode und kann bei allen Lebewesen, von der Schnecke bis zum Elefanten und von einer Wildpflanze bis zum Getreide, angewendet werden. Die Zeit der Modellorganismen wie der Fruchtfliege, der Maus oder des Zebrafischs ist vorbei.

Illustration: Adrien Jutard, Vektorzeichnung, 2020

Gibt es ethische Bedenken?

Klar kommen jetzt große Fragen auf den Tisch, die mit jeder neuen Technik verbunden sind. Die Anwendung bei Pflanzen und Tieren sehen Charpentier und Doudna unkritisch, doch bei der Anwendung am Menschen sind sie zurückhaltend und betonen, dass vor einer Anwendung viele ethische Diskussionen nötig seien.

Worin besteht jetzt der eigentliche Reiz der Genschere?

Ich fasse die Vorteile nochmals zusammen: Die Veränderung einer Gensequenz erfolgt gerichtet und nicht zufällig wie bei der klassischen Gentechnik. Sie kann bei praktisch allen Lebewesen angewendet werden. Sie macht es möglich, mit einem Schlag eine ganze Reihe von Gensequenzen zu verändern, und es geht vor allem viel schneller.

In der klassischen Pflanzen-Gentechnik hat man eine Gensequenz mit einer sogenannten Genkanone eingeschossen oder mit einem Virus eingebracht. Das Fremdgen wurde an einer beliebigen, nicht im Voraus bestimmbaren Stelle eingebaut, ob andere Veränderungen damit induziert werden und welche das sind, konnte nicht vorausgesagt werden.

Hatte das auch eure Studie zu gentechnisch veränderten Kartoffeln gezeigt?

Richtig, wir sahen bei Kartoffeln, Tomaten und Weizen, dass der Einbau einer einzigen Gensequenz die ganze Pflanze und praktisch alle Organe betrifft. Unsere Voraussage, die wir auf dem Hintergrund der Goethe’schen Typusidee gemacht hatten, bestätigte sich in unseren Versuchen vollkommen.

Wir sahen bei Versuchen mit Kartoffeln, Tomaten und Weizen, dass der Einbau einer einzigen Gensequenz die ganze Pflanze betrifft. Unsere Voraussage, die wir auf dem Hintergrund der Goethe’schen Typusidee gemacht hatten, bestätigte sich in unseren Versuchen vollkommen.

Ist da CRISPR-Cas genauer?

Im Prinzip ja, die sogenannte ‹guiding RNA› setzt ja die Genschere dort an, wo eine identische DNA-Sequenz vorliegt. Diese RNA ist 17 bis 21 Bausteine lang, und die Wahrscheinlichkeit, dass es im Genom ein zweites Mal die gleiche Bausteinfolge gibt, ist praktisch gleich null. In der Praxis ist die Genauigkeit jedoch viel geringer. Oft werden mehrere Veränderungen entdeckt, die es rein theoretisch nicht hätte geben dürfen. So sind bei Tieren und auch bei menschlichen Zellen Fälle bekannt, wo nicht nur das Zielgen verändert wurde, sondern Dutzende Veränderungen an vielen anderen Orten im Genom aufgetreten sind. Niemand weiß genau weshalb. Es zeigt sich, dass Lebensprozesse nie vollständig kontrolliert werden können.

Jetzt arbeiten Forschungsteams auf der ganzen Welt daran, diese Fehlerquote mit längeren ‹guiding RNAs› herunterzuschrauben. Dahinter steht – offen ausgesprochen – das Ziel, auch im Menschen, und zwar in der Keimbahn, also beim Embryo, diese Technik anzuwenden mit der Hoffnung, dadurch angeborene Erbkrankheiten heilen zu können. Der Genforscher He Jiankui hatte mit seinem Team in Szenzhen nach eigenen Angaben bei Zwillingen die Methode angewendet, um sie vor einer Ansteckung der mit HIV infizierten Mutter zu schützen. Er wurde letztendlich zu drei Jahren Haft verurteilt. Doch für die wissenschaftliche Gemeinde war klar, dass die Methode auch am menschlichen Embryo funktioniert!

Wie denkst du darüber?

CRISPR-Cas ist eine wunderbare Geschichte darüber, was Grundlagenforschung leisten und was aus Kooperation entstehen kann. Doch es ist wie mit jeder neuen Technik eine gewaltige Herausforderung an die Forschungsethik. Was darf man tun, was sollte unterlassen und was verboten werden?

Das erinnert an die Zusammenarbeit von Lise Meitner mit Otto Hahn. Zusammen entdeckten sie in der Grundlagenforschung die Kernspaltung und fünf Jahre später wird daraus das Manhatten-Projekt, die Entwicklung der Atombombe.

Nach Otto Hahn wussten damals ca. 50 Wissenschaftler, dass ihre Erkenntnisse als Erstes zu einer Bombe führen würden. Heute sind es Tausende Forscherinnen und Forscher, die begonnen haben, Pflanzen, Tiere und auch den Menschen zielgerichtet genetisch zu verändern.

Die Grenzen des Machbaren werden nicht mehr von den Göttern gesetzt, sondern müssen vom Menschen selbst gesteckt werden.

Bereitet dir diese Entwicklung Sorgen?

Wie bei der klassischen Gentechnik gilt es auch hier, die verschiedenen Anwendungsbereiche zu unterscheiden. Bei der Veränderung von Pflanzen und Tieren in der Lebensmittelproduktion finde ich die Arbeit der NGOs sehr wichtig, die dafür kämpfen, dass CRISPR-Cas als gentechnische Methode gekennzeichnet und Produkte deshalb als gentechnisch verändert deklariert werden müssen. Ich bin sicher, dass das Verfahren in der Humanmedizin in der somatischen Gentherapie, also der Veränderung von Stammzellen von verschiedenen Organen, einen wichtigen Platz einnehmen wird. Aber ich hoffe und wünsche mir, dass Eingriffe am menschlichen Embryo ohne Einschränkungen verboten werden. Obwohl heute argumentiert wird, dass die Methode helfen kann, Erbkrankheiten zu heilen, ist der Schritt zu einem genetischen ‹enhancement› klein. Die Träume, den Menschen klüger, stärker und gesünder zu machen, gab es schon immer, und jetzt ist mit CRISPR-Cas auch die Methode da, diese Träume zu erfüllen.

Gibt es weitere Bedenken?

Die Genschere ist wie alle anderen biotechnischen Methoden auch ein weiterer Schritt zur Biologisierung des Menschen und damit eine Befestigung unserer heutigen materialistischen Naturwissenschaft. Ich verfolge die wissenschaftliche Entwicklung ja schon länger: Solange Phänomene biologisch beschrieben werden, gibt es wenig Interesse. Sobald sie jedoch molekular interpretiert werden können, geschieht ein Dammbruch. Ein Paradebeispiel ist die Idee der Weitergabe erworbener Eigenschaften, die von Rudolf Steiner 1900 als unabdingbar für eine monistische Entwicklungslehre bezeichnet wurde. Diese Vererbungsart wurde damals als ‹teleologisch› verschrien. Seit sie jedoch molekulargenetisch als epigenetische Modifikationen interpretiert werden kann, ist ein richtiger Hype entstanden. Gleichzeitig ist dabei der zentrale Gedanke verloren gegangen, dass Lebewesen ihre Erbsubstanz aktiv verändern können, also nicht nur Opfer einer vererbten Konstitution, sondern deren Gestalter sind!

Im 20. Jahrhundert haben wir gelernt, die Stoffe zu beherrschen, im 21. die Techniken des Lebendigen zu ergreifen – kann man das sagen?

Ja, so kann man es sagen. Werner Arber, der im Biozentrum in Basel arbeitete, wo ich studiert habe, erhielt 1979 den Nobelpreis für die Entdeckung der Restriktionsenzyme. Wie CRISPR-Cas dienen diese Eiweiße Bakterien dazu, fremde DNA von Viren zu zerschneiden und diese unschädlich zu machen. Gentechnik wäre ohne diese Enzyme nicht möglich. Praktisch in jedem Jahr wurden seither Nobelpreise für neue Entdeckungen in der Molekulargenetik vergeben. Diese Forschungsarbeiten könnten Ehrfrucht vor der Weisheit des Lebendigen hervorrufen, haben jedoch stets die Entwicklung neuer Techniken angestoßen. Nicht zuletzt deshalb wird nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit und in Schullehrbüchern ein Bild zementiert, in dem Lebewesen komplizierte physikalisch-chemische Apparate und Zellen chemische Fabriken sind. Nicht von ungefähr wurde der Nobelpreis für die Entdeckung von CRISPR-Cas nicht in Physiologie, sondern in Chemie verliehen.

Das Humangenomprojekt zeigte, dass der Mensch nur wenig mehr als 20 000 Gene besitzt, die nahezu identisch sind mit denen der Fruchtfliege. Sie machen nur 2 Prozent des gesamten menschlichen Genoms aus. Heute wissen wir, dass die 98 Prozent ‹Rest› regulatorische Aufgaben haben. Es ist die Zahl dieser regulatorischen Sequenzen, die uns von den anderen Lebewesen unterscheidet.

Unser Bild vom Genom mit Blaupausen von Genen und ihren Merkmalen hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert, oder?

Dramatisch. Das Humangenomprojekt zeigte Anfang unseres Jahrhunderts zur großen Überraschung, dass der Mensch nur wenig mehr als 20 000 Gene besitzt, die nahezu identisch sind mit denen der Fruchtfliege und der Maus. Sie machen nur 2 Prozent des gesamten menschlichen Genoms aus. Der Rest wurde abschätzig als Schrott bezeichnet. Heute wissen wir, dass diese 98 Prozent regulatorische Aufgaben haben. Es ist die Zahl dieser regulatorischen Sequenzen, die uns von den anderen Lebewesen unterscheidet. Die Höherentwicklung in der Evolutionsreihe liegt also nicht in der Zahl der Bauplangene, sondern im Feintuning ihres Zusammenwirkens. Ich muss dabei an Goethe denken. Zu seiner Zeit wurde behauptet, der Mensch habe im Gegensatz zu den Säugetieren keinen Zwischenkieferknochen. Goethe fand diese Idee abstrus und hat den Zwischenkieferknochen im menschlichen Schädel entdeckt. Er war überzeugt, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in einzelnen Knochen oder Organen besteht, sondern in der unterschiedlichen Weise, diese in Beziehung zu setzen.

Gilt die Universalität des Menschen also auch genetisch?

Genau. Aber eben nicht in den Bauplangenen, sondern in der Vielfalt ihrer Regulierung.

Du hast dich ein Leben lang mit dem Lebendigen beschäftigt. Wie ‹antwortet› es wohl auf diesen technologischen Zugriff? Ist das Leben so gütig, dass es diese Manipulationen mit sich geschehen lässt?

Als ich meine Dissertation schrieb, konnten zwar Tabak und Petunien gentechnisch verändert werden, nicht aber Getreidepflanzen wie Weizen und Mais. Etwas naiv glaubte ich, dass der ‹liebe Gott› hier eine Schranke gesetzt hatte. Heute wachsen auch gentechnisch veränderte Getreide auf den Äckern. Die Grenzen des Machbaren werden nicht mehr von den Göttern gesetzt, sondern müssen vom Menschen selbst gesteckt werden. Was Hans Jonas angesichts der Gräuel in den Konzentrationslagern der Nazis in seiner Rede ‹Der Gottesbegriff nach Auschwitz› ausgeführt hat, gilt heute unverändert. Für die Freiheit des Menschen hat Gott auf seine Allmacht verzichtet. Das ist Geschenk, Aufgabe und große Herausforderung zugleich.

Wir sahen bei Versuchen mit Kartoffeln, Tomaten und Weizen, dass der Einbau einer einzigen Gensequenz die ganze Pflanze betrifft. Unsere Voraussage, die wir auf dem Hintergrund der Goethe’schen Typusidee gemacht hatten, bestätigte sich in unseren Versuchen vollkommen.

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