Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und ihre Pädagogische Sektion

Auf der Weltlehrertagung fand eine Veranstaltung zur Aufgabenstellung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, zu ihrer Konzeption durch Rudolf Steiner und zur Bedeutung der Fachsektionen, insbesondere der Pädagogischen Sektion, statt. Diese hatte Rudolf Steiner, wie auch die Allgemeine Anthroposophische Sektion, persönlich geleitet.


Thematisiert wurde des Weiteren der pädagogische Kurs, den Rudolf Steiner vor 100 Jahren in der Dornacher Schreinerei als erste Fachfortbildung nach der Zerstörung des Baus hielt (‹Lehrerkurs am Goetheanum›, 15. – 22.4.1923, GA 306).

Die Gesellschaft für Anthroposophie, die Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Weg zu bringen versuchte, vertrat ein neues Bild des Menschen, ein Bild, von dessen Bedeutung für die Zukunft der Zivilisation, ja der ganzen Menschheit Steiner zutiefst überzeugt war. Auch von der Bedeutung dieses Menschenverständnisses für die Pädagogik war er durchdrungen – seinen Vortrag über die ‹Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft›, den er ab 1906 in verschiedenen Städten hielt, schrieb er nieder und ließ ihn publizieren. Als Steiner 1911 den Gedanken einer ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft› als «notwendige Konsequenz» des michaelischen Zeitalters beschrieb – im Sinne eines Ortes, der die neuen geistigen Einsichten lehrbar und lernbar macht, sie ausgestaltet und in die Lebenspraxis überführt –, hatte er bereits verschiedene Fakultäten einer Hochschule im Auge, darunter sehr wahrscheinlich eine pädagogische; auch Steiners Ansprachen bei der Grundsteinlegung des Johannesbaus im September 1913 hatten mit den Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Menschen im Zeitalter des technologischen Materialismus zu tun – und sprachen von einer notwendigen Initiative, einem dringend notwendigen Neuanfang.

Im Umkreis des ersten Baus

Steiner war froh, dass sich Basler Lehrer und Lehrerinnen in der näheren Umgebung des Baus bald nach Eröffnung der Stuttgarter Freien Waldorfschule für deren Arbeit zu interessieren begannen; Ende November 1919 wurde er vom Basler Erziehungsdepartement zu einem ersten Vortrag über ‹Geisteswissenschaft und Pädagogik› eingeladen, dessen Resonanz so gut war, dass ein Folgekurs über 14 Tage vor 60 Pädagogen im April 1920 in einem Basler Gymnasium stattfand (‹Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft›). Wiederum erzielte Steiner großen Erfolg; der danksagende Lehrer für die Gruppe der Pädagogen wollte ihm die Leitung eines Schweizer Lehrerseminars anvertrauen. Auch bei der Eröffnung des Goetheanum als ‹Freier Hochschule für Geisteswissenschaft› spielte die Pädagogik eine hervorragende Rolle, durch die Vorträge verschiedener Waldorflehrer zu einzelnen Fachgebieten und durch die pädagogischen Darstellungen Caroline von Heydebrands, die Steiner sehr schätzte und die bald darauf in Buchform erschienen. Im Winter 1920/21 fand dann die erste internationale Fachfortbildung am Goetheanum wiederum im Bereich der Erziehungskunst statt. Über 100 interessierte Lehrerinnen und Lehrer reisten aus Großbritannien, Skandinavien, den Niederlanden und Deutschland an die neue Hochschule; der Kurs, der in deutscher und englischer Sprache gehalten wurde, erzielte Resonanz und freute Rudolf Steiner, wie die gesamte Initiative. Die Pädagogikprofessorin Millicent Mackenzie aus Wales (Universität Cardiff), auf deren Bertreiben die Veranstaltung mit zustande gekommen war, sorgte dafür, dass Steiner 1922 in Großbritannien zwei große, weit beachtete pädagogische Kurse gab, in Stratford-upon-Avon und an der Universität von Oxford (‹Spiritual Values in Education and Social Life›). Das Teilnehmer- und Medienecho, insbesondere der hochkarätigen Oxforder Veranstaltung im Manchester College (mit über 200 Hörern, darunter zahlreichen Universitätsprofessoren und pädagogischen Seminarleiterinnen) war überaus positiv1 – und stand in radikalem Kontrast zu der medialen Diffamierung Steiners und der Anthroposophie zu diesem Zeitpunkt in Deutschland. Durch die pädagogischen Lehrkurse wurde eine erste ‹Fakultät› der Dornacher Hochschule in exemplarischer Weise international ansichtig – forschend, lehrend und in einer Modellinstitution (der Stuttgarter Waldorfschule) praktizierend.

Nach dem Brand

Nach der Zerstörung des Goetheanum war der ‹Lehrerkurs› vom April 1923 in der Schreinerei, der «großen Baracke neben dem leergebrannten Betonsockel», erneut der erste Fachkurs, der auf dem Dornacher Hügel stattfinden konnte – mit ca. 30 ausländischen Teilnehmenden und 50 Eltern, insgesamt immerhin 160 Menschen. Er stand im Kontext von Schweizer Bemühungen zur Gründung einer ersten Waldorfschule im eidgenössischen Land, im Zusammenhang eines ‹Vereins für freies Erziehungs- und Unterrichtswesen›. Rudolf Steiner setzte sich zu dieser Zeit mit aller Kraft dafür ein, den Neubau des Goetheanum zu ermöglichen – in der Auseinandersetzung mit den lokalen Behörden und der Versicherung, aber auch mit den Verantwortlichen und Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, von denen er ein weitaus größeres Engagement, mehr Welt- und Aufgabenbewusstsein, mehr Verantwortlichkeit und mehr gemeinsamen Willenseinsatz erwartete.2 In der Karwoche, Ende März 1923, kurz vor dem ‹Lehrerkurs am Goetheanum›, hatte Steiner noch an einer öffentlichen ‹künstlerisch-pädagogischen Tagung› der Stuttgarter Waldorfschule teilgenommen. Er hatte sich in der anschließenden Stuttgarter Lehrerkonferenz sehr zufrieden mit den Beiträgen gezeigt, jedoch das «spezifisch Anthroposophische» in ihnen vermisst. Was Steiner darunter verstand, ist möglicherweise an seiner eigenen Vortragstätigkeit zu dieser Zeit ablesbar. In der zweiten Märzwoche 1923 hatte er in der Schreinerei mit seinen Darstellungen über die Beziehungen der dritten Hierarchie zum Menschenwesen begonnen; am Karsamstag sprach er, drei Monate nach dem Bau, erstmals über die «Atmung der Erde» und den geistigen Jahreslauf. Steiner schritt, trotz oder wegen aller Widerstände, geistig offensiv voran. Am 5. April 1923 hielt er den öffentlichen Vortrag ‹Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?› im Berner Rathaus, kurz darauf sprach er darüber in Basel, Zürich, Winterthur und St. Gallen. Auch den ‹Lehrerkurs› in der Schreinerei – mit seinen Morgenvorträgen und mit Beiträgen der Stuttgarter Fachlehrer, mit Arbeitsgruppen, Eurythmie-Übungen, Malen etc. – ergänzte Rudolf Steiner mit fünf Vorträgen (am Vorabend des Kurses und an vier Kursabenden) zu den Grundlagen der anthroposophischen Geisteswissenschaft und ihrer Erkenntnismethodik. Er zeigte hier, was ihm in Stuttgart zuletzt gefehlt hatte – und was für ihn zur Freien Hochschule für Geisteswissenschaft als «allgemeine Anthroposophie» unbedingt gehörte. In einer Fragenbeantwortung am Ende des ‹Lehrerkurses› gab er im Übrigen seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Waldorfpädagogik als «reine Pädagogik» in allen Ländern der Erde praktizierbar und allen äußeren Bedingungen anzupassen sei, in allen Schulen, ja «morgen in der ganzen Welt in alle Schulen» eingeführt werden könnte. Erneut wurde die Möglichkeit eines ‹Weltschulvereins› bewegt. Steiner hatte eine kosmopolitisch tätige Freie Hochschule für Geisteswissenschaft vor Augen, eine öffentlich wirksame Einrichtung, deren Aktivität weit über anthroposophische Kreise hinausgehen und alle Schichten der Bevölkerung erreichen sollte, unabhängig von Weltanschauung und Konfession, ökonomischem und gesellschaftlichem Status, Ethnie und Nation.

Der Sinn des Menschen und der Menschlichkeit

Ita Wegman, die am ‹Lehrerkurs› im April 1923 teilnahm und begeistert von ihm war, sprach in seinem Nachgang in ihren Briefen von der Notwendigkeit des neuen Baues. Ende 1923 gründete Rudolf Steiner mit ihrer aktiven Unterstützung die Anthroposophische Gesellschaft und Hochschule neu. «Die Anthroposophische Gesellschaft betrachtet die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach als ein Zentrum ihrer Tätigkeit […]» Die Hochschule, die neue Gesellschaft und der kommende Bau sollten Orte der Hoffnung, des Lichts, der Befähigkeit und des Zukunftsvertrauens werden, im pfingstlichen Sinne, in der Erfahrung wahrer Geist-Gemeinschaft – Orte der Bildung und Ausbildung, für den Sinn des Menschen und der Menschlichkeit, Orte einer neuen Gesellschaft im Sinne Gustav Landauers.3


Bild Blick vom Schulgarten auf die erste Waldorfschule in Stuttgart 1923/24

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Footnotes

  1. Vgl. «Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst»
  2. Vgl. Peter Selg, Die Weltgesellschaft und ihre Hochschule. Dornach 2023.
  3. Vgl Vortrag über Gustav Landauer von Peter Selg und Constanza Kaliks.

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