Der Krieg und die Auferstehung Europas

Der Krieg in der Ukraine wütet jetzt seit über einem Jahr, mit unvorstellbarem Leid. Es besteht auch die Gefahr, dass der Krieg sich in unabsehbaren Dimensionen ausdehnt. Wenn man diese Tragödie anschaut, kann ein Gefühl von Ohnmacht überhandnehmen. Heute wollen wir die Situation noch einmal mit Gerald Häfner besprechen. Insbesondere wollen wir die Rolle Europas in den Blick nehmen und untersuchen, ob sich Perspektiven öffnen können. Das Interview führte Louis Defèche.


Wir sehen das Licht am Ende des Tunnels nicht. Denken wir falsch? Sollen wir etwas in unserem Denken über die Situation ändern?

Gerald Häfner Wir brauchen dringend ein Licht am Ende des Tunnels! Zurzeit sind wir in Europa wie umnachtet. Wir sind wieder in diese archaische Kriegslogik gefallen. Das gilt für den furchtbaren Krieg in der Ukraine, wo jeden Tag gekämpft wird und unzählige unschuldige Menschen sterben. Das gilt aber auch für die öffentliche Debatte, die immer kriegerischer wird, für das Denken und Empfinden der Menschen. Wir sind auf ein Gleis geraten, das scheinbar nur noch auf eine Logik zusteuert: den Sieg auf dem Schlachtfeld. Das ist schrecklich – es ist in gewisser Weise das Ende europäischen pazifistischen Denkens, ja das Ende der europäischen Ideale. Es gibt derzeit viele Aktivitäten, die darauf zielen, den Krieg zu verlängern, aber keine ernst zu nehmenden Aktivitäten in Europa, endlich ein Ende des Blutvergießens herbeizuführen.

Kannst du das erklären?

Ich fürchte, ja. Allerdings sind die Dinge komplex. Es gibt nie nur eine Wahrheit, nur eine Erklärung. Das lineare Ursache-Wirkungs-Denken, wie es die meisten Mitmenschen lieben, ist im Sozialen und Politischen unzureichend. Man muss in verschiedenen Schichten denken. Das ist schwer. Spricht man nur von einer, provoziert das den Vorwurf, man würde die anderen nicht sehen. Meist kommt man gar nicht darüber hinaus, weil sich sofort feste Fronten bilden. Das Sprechen erlaubt leider nicht, alles zugleich zu sagen. Und oft fehlt, wie auch hier, genug Zeit und Raum. Also kann ich nur weniges anreißen, wissend, dass das nicht vollständig ist. Eine erste Schicht: Die unmittelbare Verantwortung für diesen Krieg trägt Russland und seine Führung. Putin könnte und muss diesen Krieg jederzeit beenden. Die Ukraine ist keine Sowjetrepublik mehr. Sie ist ein freies Land. Zu meinen, dass man in Europa heute noch Grenzen mit Waffengewalt verändern kann, ist empörend und inakzeptabel. Diese Zeit ist vorbei. Panzer sind kein Argument. Ein selbständiges Land anzugreifen, ein panrussisches Großreich mit militärischer Macht herbeizubomben, dem muss man sich mit aller Macht entgegenstellen.

Den meisten genügt das. Für sie ist klar: Putin muss sich bewegen, wir nicht. Wir sind ohne Verantwortung, ohne Schuld. Blicken wir aber in weitere, tiefere Schichten, so zeigt sich: Auch die Ukraine, Europa, der Westen und die USA sind keineswegs unschuldig an dieser furchtbaren Entwicklung. Sie haben Versprechen gebrochen und dazu beigetragen, Russland in die Enge zu treiben. Wir haben zugesehen, wie den russischen Minderheiten im Osten der Ukraine das Autonomiestatut, der Gebrauch der eigenen Sprache und eigene Wahlen verwehrt wurden. Das hat mit zur Eskalation beigetragen.

Gerald Häfner

Es fällt mir schwer, das zu sagen. Aber es gab nach dem russischen Einmarsch schon am 28. Februar, dann am 3., 7. und 10. März die ersten Gespräche zwischen der russischen und der ukrainischen Seite. Gesprochen wurde über einen Waffenstillstand und mögliche Bedingungen dauerhaften Friedens. Diese wertvollen Gespräche wurden dann Mitte April abrupt beendet, wie u. a. der damalige israelische Premierminister Bennett beklagte. Auf westlicher Seite wurde plötzlich die Strategie vertreten, den Krieg nicht zu früh zu beenden. Erst müsse man Russland, diese rivalisierende Großmacht, sich in diesem Krieg aufreiben und ‹ausbluten› lassen. Das verbessere auch die Ausgangsbedingungen für die große geostrategische Auseinandersetzung mit China.

Und dazu muss man auch sagen, dass nicht nur Russland ausblutet, sondern natürlich auch die Ukraine. Ich muss an die Schlachten des Ersten Weltkrieges denken, wo die Soldaten keine Wahl hatten. Sie mussten weiterkämpfen, weil irgendwo entschieden wurde, dass es weitergehen muss.

Ja, es bluten natürlich beide Seiten ganz furchtbar. Mehr als 100 000 sind auf jeder Seite schon gestorben. Das geht jeden Tag weiter. Und die Ukraine, das Opfer in diesem Angriffskrieg, wird weiter zerstört. Tun wir daher alles für sofortigen Frieden? Nein. Sodaten und Soldatinnen, die glauben, es ginge nur um ihr Land, müssen erkennen: In Wahrheit spielen andere strategische Ziele mit eine Rolle. Und Europa? Schickt Waffen und taucht ansonsten ab. Es hat nicht den Mut, sich radikal für die vom Tode bedrohten Menschen, für den Frieden, für eine Lösung auszusprechen. Europa agiert in dieser polarisierten Situation nicht als freies, unabhängiges, vermittelndes Element. Europa macht es sich einfach, sieht alles nur durch eine Brille und fällt als Vermittler aus.

Wie könnte man einen Prozess wieder in Gang bringen, was könnte das Thema heutiger Verhandlungen sein?

Diplomatie geht nur über Abwägung, Vermittlung, Verbindung. Doch derzeit hat sich eine schreckliche Logik breitgemacht. Nicht nur hier, sondern auf vielen Gebieten. Eine ausschließende Logik: eins oder null, schwarz oder weiß, richtig oder falsch, Ost oder West. Im Großen wurde die Ukraine Spielball einer gewaltigen Auseinandersetzung: Kriegen wir sie ins westliche oder ins östliche Lager? Das überstrahlt ein Stück weit die zweite, noch weit komplexere Ebene. Denn die Ukraine, die, das möchte ich mit Nachdruck betonen, ein eigenständiger, unabhängiger Staat ist und nicht russischer oder NATO-Vorposten werden sollte, ist, wie ganz Europa, vielgestaltig und übergänglich. So leben in der Ukraine über acht Millionen Russinnen und Russen. Besonders im Osten. In den Regionen Donezk und Luhansk ist – nach ukrainischer Volkszählung – die russische Bevölkerung klar in der Mehrheit. Das gilt auch für die Krim, die bis 1954 russisches Territorium war, bevor Chruschtschow sie der Ukraine geschenkt hat. Eine befremdende Figur: Kann ein Staats- und Parteichef ein so riesiges Gebiet, mit all seinen Pflanzen, Tieren und Menschen, ungefragt ‹verschenken›?

Dorothea Templeton, ‹Noli me Tangere›, 2016, Mixtechnik auf Leinwand, 60 × 80 cm

Besonders um diese Gebiete wird heute gekämpft. Aber würde ein Sieg – egal welcher Seite – das Problem eigentlich lösen? Nein! Weder ein Sieg Russlands noch der Ukraine könnte den seit Jahren schwelenden Streit befrieden. Immer bliebe ein erheblicher Teil der Bevölkerung unterlegen und unzufrieden. Die Frage: ‹Gehören diese Gebiete zu diesem oder jenem Staat?› löst die Spannungen nicht. Im Übrigen können über diese Frage doch nicht die Waffen entscheiden, sondern das Völkerrecht und vor allem die betroffenen Menschen selbst – in friedlichen, gut vorbereiteten, international garantierten demokratischen Entscheidungen. Das ist schon der erste Teil eines Lösungsvorschlages.

Der zweite müsste noch tiefer gehen: Eine angemessene, dauerhaft tragfähige Lösung kann gar nicht auf der Ebene gefunden werden, auf der sie heute gesucht wird. Es darf bei einer solchen Entscheidung also nicht nur um die Frage gehen, ob das Zentrum der Macht künftig in Moskau oder Kiew liegt.

Vielmehr brauchen die genannten Gebiete Gestaltungsräume, um sich als eigenständige Gebiete ihren Eigenarten gemäß entwickeln zu können. Diese Räume gewährte ihnen die Ukraine nicht ausreichend, was Unzufriedenheit und Ablehnung schürte. Sie von Russland zu erwarten, wäre naiv. Vielmehr stehen wir vor der über die genannten Regionen hinaus zentralen Frage: Können wir Autonomie, Selbstbestimmung sowie vielfältige und unterschiedliche Formen von Zugehörigkeit und Zusammenarbeit gewähren? Das könnte heißen, dass man rechtlich-politisch dem einen Staatswesen angehört, aber geistig-kulturell mit einem anderen verbunden ist, während man wirtschaftlich wieder mit ganz anderen Gebieten und Räumen kooperiert. Wer sagt denn, dass das alles einheitlich sein muss und dass da, wo die Grenzen eines Landes enden, auch die Grenze der Sprache, der Kultur, der Wirtschaft enden muss? Das ist doch altes Denken! Es braucht neue Gedanken zur Gestaltung der Zukunft, um nicht immer in die jahrhundertealten Fallen zu stürzen. Wir müssen in Europa fähig werden, Grenzen aufzuheben, sie durchlässig zu machen, nicht neue Grenzen zu ziehen. Nicht durch Eroberung, sondern durch freie Vertragsgestaltung. Solche sinnvollen, gangbaren und langfristig befriedenden Vorschläge gilt es in diese Verhandlungen einzubringen. Also beispielsweise: einen Vertrag über eine langfristige Autonomie der betroffenen Gebiete, mit einer Perspektive für differenzierte Zusammenarbeit und dauerhaften Frieden. Es erschreckt mich, dass wir in dem, wie gegenwärtig öffentlich geschrieben und diskutiert wird, so weit unter unseren denkerischen und politischen Möglichkeiten bleiben.

Hängt das nicht mit der Idee der Nation zusammen? Die Idee der Nation, die überall noch sehr prägend ist, fördert diese Einheit, diese festen Grenzen und Zugehörigkeiten. Ist ‹Nation› nicht genau das, was überwunden werden sollte?

Das ist die Katastrophe Europas, dass es, von Vielfalt und Übergänglichkeit geprägt, so stark in dieses nationale Denken gefallen ist. Ich sehe den Nationalstaat nicht als Endziel der Geschichte, sondern als ein Durchgangsstadium hin zur Selbstbestimmung der Menschen im Politischen. Er verstellt den Blick auf das Gemeinsame, Verbindende, das grenzüberschreitend zu gestalten heute unsere Aufgabe wäre. Denken wir nur gut 100 Jahre zurück, wie Menschen andere Menschen erschossen, die neben der eigenen Landesgrenze aufgewachsen waren, Winzer und Bauern wie sie. Weil die einen Deutsche und die anderen Franzosen waren, waren sie Feinde und mussten sterben. Absurd! Aus dieser Urkatastrophe Europas im Ersten Weltkrieg haben wir leider nie ausreichend die Konsequenzen gezogen. Immer wieder hatte Europa die Chance, eine neue, wirkliche Friedensordnung zu entwickeln, nach dem Dreißigjährigen Krieg, den Kriegen Napoleons, dem Ersten wie dem Zweiten Weltkrieg. Doch immer sind wir dabei wieder ein Stück zurückgefallen. Unsere letzte und größte Chance kam 1989, als Mauer und Stacheldraht, die furchtbare Teilung Europas, überwunden werden konnten – nicht wie früher durch Militär oder Kriege, sondern durch eine friedliche Revolution. Michail Gorbatschow, der Parteichef der KPdSU, der Erfinder von Glasnost und Perestroika, war der Held dieses friedlichen Rückzugs. Er streckte die Hand weit Richtung Westen aus und sagte: Lasst uns das ‹Gemeinsame Haus Europa› bauen. Nicht gegen –, sondern miteinander. Für einen Moment hielt die Geschichte den Atem an. Was wäre möglich gewesen, wenn auch wir da unser altes Denken überwunden hätten? Wenn wir das starre Denken in einheitsstaatlichen Kategorien zugunsten von Regionalisierung, Differenzierung und Kooperation über Staats- und Blockgrenzen hinweg überwunden hätten?

Dorothea Templeton, ‹Begleitet›, 2011, Mixtechnik auf Leinwand, 60 × 80 cm

Einige haben begonnen, an diesem gemeinsamen Haus zu bauen. Können wir die Blöcke überwinden? Einen Korridor des Friedens mitten durch Europa schaffen? Sicherheit in Europa gemeinsam schützen? Neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln? Es gab weitreichende Rüstungskontrollverträge, die NATO-Russland-Akte, die Partnerschaft für den Frieden, den Helsinki-Prozess, die OSZE. All das ist in den letzten zwei Jahrzehnten Schritt für Schritt zurückgedreht worden. Stattdessen wurde versucht, dieses abgrenzende, feindselige, in Polaritäten gefangene Denken wieder zu propagieren. 2008 dann wollten die USA, nach der Aufnahme von bereits 14 neuen Ländern, auch noch die Ukraine in die NATO holen. Da haben Deutschland und Frankreich noch ein Veto eingelegt. Auch in den USA gab es hochrangige Politikerinnen und Politiker, die erklärten, dass dies ein großer Fehler wäre und die fragile Friedensordnung in Europa endgültig zerstören würde. Russland müsse sich dadurch ähnlich bedroht fühlen wie seinerzeit die USA von den Atomraketen auf Kuba. Erinnern wir uns: Damals wäre fast der dritte Weltkrieg ausgebrochen! Ein ähnliches Spiel mit dem Feuer gab es jetzt wieder. So finden wir uns nach einem kurzen politischen Frühling wieder im eisigen Winter der Blockkonfrontation. Europa, besonders Mitteleuropa, hat seine gewaltige geschichtliche Chance für dauerhaften Frieden, Freiheit und Kooperation verschlafen, zunichte gemacht.

Wo könnte eine Veränderung stattfinden, um diesen Trend umzukehren?

In der Europäischen Union findet gerade ein ziemlich spannender Prozess statt: die ‹Konferenz über die Zukunft Europas›. Das geht zurück auf eine Initiative von mir in früheren Jahren. ‹Europa – nicht ohne die Bürger!› und ‹Democratic Europe Now› nannten wir unsere Kampagne für einen europäischen Konvent unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Auch das Parlament hat sich inzwischen für den Konvent ausgesprochen. Alles kam, wie wir vorschlugen, nur leider: unverbindlich. An der Konferenz zur Zukunft Europas werden Bürgerinnen und Bürger nach dem Zufallsprinzip beteiligt. Von diesen kommen durchaus interessante Ideen. Doch der Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, blockiert vorerst alles, was auf substanzielle Veränderungen hinauslaufen könnte. Vor allem blockiert er unsere Idee eines echten Konvents, obwohl das die Empfehlung der Zukunftskonferenz war. Ein Konvent berät verbindlich: Was für ein Europa wollen wir? Wie soll es aufgebaut sein? Was soll in Europa geregelt werden und was in den Staaten, den Regionen, den einzelnen Gebieten und Gemeinden? Europa braucht eine Neubesinnung. Aber die Staats- und Regierungschefs verhindern sie.

Wie können Sie aus dieser Sackgasse herauskommen? Das Parlament hat in der Tat wenig Macht.

Das ist richtig, aber es ändert sich mit der Zeit. In den 70er-Jahren war das Europäische Parlament ein reines Als-ob-Organ. Aber es hat seitdem für die Ausweitung seiner demokratischen Rechte gekämpft. Heute ist es Mitgesetzgeber – auf gleicher Augenhöhe wie Rat und Kommission. Zwar kann das Europäische Parlament Gesetze beschließen, aber sie kommen nur zustande, wenn auch der Rat und die Kommission zustimmen. Daher kann das Europäische Parlament viel beschließen. Aber bei Gesetzen, die substanziell etwas ändern würden, legt der Rat sein Veto ein. So bleibt alles beim Alten. Wir brauchen eine Art europäische Bürgerbewegung. Europa muss von unten her, von den Bürgerinnen und Bürgern her neu gestaltet werden. Wir dürfen es nicht mehr allein den Regierungen überlassen.

Dorothea Templeton, ‹Lazarus›, 2012, Mixtechnik auf Leinwand, 100 × 120 cm

Für meinen Vorschlag zur Überwindung des strikten Nationalstaatsprinzips vielleicht ein Bild: Nehmen wir die Waldorfschulen. Es gibt sie in fast allen Ländern Europas. Doch Bildungspolitik ist heute Sache der Nationalstaaten bzw. in einigen Staaten Sache der Länder. So müssen die Schulen in jedem Land andere Vorgaben erfüllen. Diese schmälern die Freiheit der Schulen und verwässern oftmals ihren Ansatz. Könnten wir nicht sagen: Es gibt in Europa eine Reihe länderübergreifender Schulsysteme? Diese sorgen für ein hohes Maß an Qualität in Selbstverwaltung. Als Bürger kann ich frei entscheiden, in welchen dieser Schultypen ich mein Kind schicken möchte. Qualität und Pädagogik der Waldorfschulen würden dann nicht von irgendeinem Staat (der das gar nicht kann), sondern von den Europäischen Waldorfschulen garantiert. Wähle ich Waldorf, bekomme ich die bestmögliche Realisierung dieser Pädagogik. Notwendig wären zum Beispiel auch europaweit anerkannte Waldorfabschlüsse, ganz aus der Pädagogik und nicht aus dem bürokratischen Denken staatlicher Beamter abgeleitet. Wenn man das weiterdenkt, kann man sich Europa als ein sich durchdringendes und überlappendes Netzwerk von frei bestimmbaren Zugehörigkeiten denken. Gestaltet von Organen der Selbstverwaltung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Das Recht setzt dann den notwendigen Rahmen dafür. So wächst die Möglichkeit, aus innerster Überzeugung Initiative zu ergreifen und in Freiheit zum Wohle aller fruchtbar zusammenzuarbeiten.

Es handelt sich also um eine Emanzipation des kulturellen Lebens. Auch das Wirtschaftsleben wird oft in einem nationalen Rahmen gedacht. Dies führt zu Konkurrenz und Konflikten innerhalb Europas.

Ja. Das, was ich jetzt für den Bereich der Kultur gesagt habe, kann in gleicher Weise für den Bereich der Wirtschaft gelten. Wirtschaft braucht ohnehin Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg. Doch auch hier drehen wir sinnvolle Entwicklungen zurück und sind massiv dabei, Wirtschaft wieder zu nationalisieren und zu politisieren. Dazu trägt die gegenwärtige Sanktionspolitik bei. Sie hat beispielsweise unzählige Firmen gezwungen, ihre Mitarbeiterinnen in Russland zu entlassen und ihre Werke dort stillzulegen. Eine gigantische Bestrafung von Menschen und Wertvernichtung! Wirtschaft sollte weniger der politischen Macht unterworfen sein. Ihr Ziel ist: füreinander tätig sein zum gegenseitigen Nutzen. Man könnte sich Europa als ein Geflecht assoziativer wirtschaftlicher Gebilde denken, wo Unternehmen mit anderen Unternehmen zusammenarbeiten und ihre Zusammenarbeit nicht mehr als Konkurrenz, sondern als Kooperation verstehen. Hier gibt es großartige Ansätze, aber noch stehen sie im Widerspruch zu den geltenden rechtlichen, nationalen und politischen Logiken. Ändern wir das, kann ein besseres Europa entstehen.

Du hast es jetzt für die Kultur und die Wirtschaft skizziert: Wie sieht es in der Politik aus?

Das Politische müsste sich auf das Gebiet des Rechtlich-Politischen selbst konzentrieren. Es sollte nicht mehr nationale Wirtschaftspolitik betreiben oder versuchen, mit politischen Vorgaben Kunst, Kultur, Wissenschaft oder Medien zu beeinflussen. Stattdessen sollte es den rechtlichen Rahmen schaffen, in dem Menschen sich in Kultur wie Wirtschaft frei, verbindlich und sozial verantwortlich betätigen können. Zugleich müssen die Machtstrukturen überwunden werden, die heute noch die Politik bestimmen. Souverän war früher der Monarch. Souverän ist heute der einzelne Mensch. Institutionen werden zu Dienstleistern der Bürgerinnen und Bürger – und diese mehr und mehr zu Gestaltenden ihres Lebens und damit auch zu Mitgestaltenden der Rechtsordnung, in der sie leben. Das verlangt neue Formen von Demokratie, in denen sich die Bürgerinnen und Bürger als die eigentlichen Gesetzgeber fühlen, nicht mehr als Unterworfene unter den Willen eines Herrschers.

Dorothea Templeton, ‹Karfreitag›, 2008, Mixtechnik auf Leinwand, 100 × 120 cm

Wenn man in diese Richtung denkt, merkt man, dass es auch Angst gibt, also einen Mangel an Vertrauen in den Menschen.

Ja, Angst ist sowieso der schlimmste Feind jeder Entwicklung, jeder positiven Veränderung. Die Angst vor der Zukunft ist groß, fatalerweise besonders bei jungen Menschen. Es gibt heute kaum noch positive Bilder der Zukunft, wie wir sie etwa in diesem Gespräch zu entwickeln versucht haben. Wo keine positiven Zukunftsbilder mehr leben, werden die Menschen ängstlich. Und wenn die Menschen ängstlich sind, feiert die Politik der Angst leichte Siege. Das erleben wir zurzeit. Eine Angst löst die andere ab. Nehmen wir die Pandemie. Das waren zwei Jahre Angst pur. Es wurde Angst gemacht, permanent, sie rechtfertigte sogar massive Eingriffe in Grundrechte. Kaum war die Pandemie vorbei, kam der Krieg. Und mit ihm neue Ängste. Bürgerinnen und Bürger sollten sich entängstigen, sich nicht so leicht einschüchtern lassen, sondern sagen: Wir verstehen die Ängste unserer Mitmenschen und werden damit angemessen, rücksichtsvoll und selbstbewusst umgehen. Wir wollen Schutz vor Ansteckung mit sinnvollem Leben, Kräftigung des Immunsystems und Achtsamkeit füreinander ausbalancieren. Wir brauchen dafür viel Information, Gespräch und Selbstwirksamkeit, keinen Staat, der gegen ein Virus in den ‹Krieg› zieht.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger zu dieser Entängstigung fähig werden, verliert der Staat ein wichtiges Machtinstrument. Das gilt auch für all die anderen Kräfte, die ihre Macht auf unsere Angst stützen. Je weniger ängstlich wir werden, je mehr wir Selbstwirksamkeit erfahren und Selbstgestaltung üben, desto weniger vermag Macht, Verdummung und Unterdrückung zu erreichen. Sie wird dann zunehmend machtlos. Wir brauchen daher vor allem Ermutigung.

Können wir jetzt auf die ukrainische Situation mit dieser europäischen Perspektive zurückkommen? Wie hätte es passieren sollen? Könnten wir die Geschichte neu schreiben?

Als die Mauer gefallen war, der Eiserne Vorhang durchtrennt, gab es diese große Hoffnung eines gemeinsamen, freien und friedlichen Europas. Aber dann hat die alte Logik über die neue wieder obsiegt. Wir haben Gorbatschow in Russland schrecklich allein gelassen. Wir gaben ihm keinerlei Hilfe bei seinem verzweifelten Versuch, einen abgewirtschafteten, korrupten und totalitären Staat in ein modernes, freies und prosperierendes Gemeinwesen umzubauen. Man hat ihn verhungern lassen und damit auch dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein Verlierer, der das Erbe der Sowjetunion verspielt und alle Größe und Macht aus den Händen gegeben habe, ohne dafür etwas zu erhalten. Man konnte diese Herzlosigkeit, diese Undankbarkeit zuletzt bei der Beerdigung Gorbatschows erleben, als kein namhafter westlicher oder mitteleuropäischer Regierungsvertreter es für nötig hielt, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Es gibt keinen Staatsmann, dem wir in den vergangenen Jahrzehnten so viel zu verdanken haben, wie Gorbatschow. Aber dieser Dank wurde ihm nicht gewährt.

Wirtschaftlich am Boden, allein gelassen von Europa und vom Westen, zunehmend eingekreist durch die Ausweitung der NATO nach Osten, bedroht durch die vielen Manöver, die der russischen Grenze immer näher kamen, wurde der Schmerz über das verlorene Sowjetreich in Russland durch nationalistisches und militaristisches Großmachtdenken betäubt. Der Hinweis auf geschichtliche Entwicklungen nimmt der russischen Führung nichts von ihrer Verantwortung. Noch weniger wäre es richtig, das Recht der Staaten Mittel- und Osteuropas zu bestreiten, sich aus den Ketten des früheren Sowjetimperiums zu befreien und ihren künftigen Weg selbst zu bestimmen. Auch jetzt hat nicht Russland zu bestimmen, welchen Weg etwa Moldau, Weißrussland oder die Ukraine gehen. Das tun die selbst. Aber es gibt bestimmte Schritte, von denen man wissen musste, dass sie in eine furchtbare Konfrontation führen würden, wenn sie ohne Verhandlungen mit und ohne ausreichende Sicherheitsgarantien für die andere Seite getan werden – ähnlich wie damals die Stationierung russischer Raketen auf Kuba, die die USA auch nicht hingenommen haben und die uns damals auch an den Rand des Krieges geführt hat. Ebenso hätte man auch hier Verständnis haben und viel früher Gespräche führen und Garantien anbieten müssen. Und man hätte, was Donezk und Luhansk betrifft, mit aller Kraft dafür eintreten müssen, dass Autonomie, Selbstbestimmung, freie Wahlen möglich werden. So stand es sogar im Minsker Abkommen von 2015. Aber es wurde nie umgesetzt. Wir waren Signatarmacht. Wir hätten Gespräche organisieren und dafür eintreten müssen, dass die Menschen selbst entscheiden, wie sie leben und welchen Regeln sie folgen wollen. Wenn man redet, gewinnt vielleicht am Ende gar nicht zu 100 Prozent die eine oder zu 100 Prozent die andere Seite, sondern am Ende ist es eher etwas dazwischen oder jenseits davon. Auch für die Krim gab es sinnvolle Vorschläge und gibt es sie immer noch – etwa unter Wahrung der völkerrechtlichen Zugehörigkeit zur Ukraine einen Weg zu ebnen, der eine eigenständige, differenzierte Entwicklung erlaubt und am Ende, sagen wir nach fünf Jahren freier Debatte unter UNO-Mandat, eine völkerrechtlich anerkannte, von den Vereinten Nationen und der Gemeinschaft der Staaten überwachte Volksabstimmung über den eigenen zukünftigen Status ermöglicht.

Vielleicht müsste man das als mögliche Verhandlung anbieten: Wahlen so zu organisieren, dass sie international anerkannt werden und der tatsächliche Wille der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck kommen kann.

Dieser Wille wäre für mich das Entscheidende. Und er sollte am Ende auch das Maßgebliche sein. Das wäre dann auch wahrhaft europäisch – im Sinne europäischer Werte –, das Anhören aller Seiten wie die Selbstverwaltung. Erinnern wir uns an Südtirol. Es wurde von Italien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unter Missachtung des gerade damals viel postulierten Selbstbestimmungsrechts annektiert. So lebt eine überwiegend deutschsprachige Bevölkerung (62 Prozent) unter der Hoheit Italiens. Solange deren Selbstbestimmung, Kultur und Sprache unterdrückt wurde, gab es auch dort einen unendlichen Kampf mit Anschlägen auf Eisenbahnlinien, Stromleitungen usw. Seit der ‹Beendigung der Südtirol-Frage› durch ein reformiertes Autonomiestatut 1992 und entsprechende Verfassungsänderungen 2001, wonach die Region umfassende Selbstgestaltungsrechte genießt, ist die Gewalt vorbei. Anstelle von Kampf und Hass wurde ein Weg von Freiheit, Verständigung und Demokratie gefunden, der für die Menschen dieser umkämpften Region angemessen und gangbar ist. Wir werden uns in Europa lossagen müssen von der Idee, dass ein Land auch kulturell eine gleichförmige Einheit darstellt. Es gibt überall Menschen, die darunter leiden, dass sie ihre eigene Kultur nicht ausreichend leben können. Das können wir doch nicht durch Kriege austragen, sondern nur durch friedliche Gespräche und das Finden angemessener Lösungen. Eine solche friedliche Lösung wäre eine europäische Kulturtat. Sie könnte zugleich ein Modell sein für ganz viele Konflikte auf dieser Welt.

Am Ende ist die Frage: Welche Vorstellung vom Frieden haben wir? Frieden heißt doch nicht, dass man so lange kämpft, bis eine Seite am Ende ist und nicht mehr kann. Besser wäre doch ein Frieden früher und anders, durch sinnvolle Gespräche und Verhandlungen. Dafür möchte ich eintreten.

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