Den Kompass der Menschenwürde nicht verlieren

Reaktionen von Lesern und Leserinnen zu Michael Esfelds Artikel ‹Die Rückkehr des Kollektivismus› in ‹Goetheanum› 43/2021 und eine Antwort des Autors.


Vielen herzlichen Dank für die richtungsweisenden Worte! Ein erster Artikel, den ich voller Bejahung auch an Menschen weiterleiten kann, die sich aus der Anthroposophie hoffnungsspendende Perspektiven zur Beurteilung des aktuellen Weltgeschehens erwarten. Wolfgang Schaffer


Gerne möchte ich meinen herzlichen Dank und meine Freude aussprechen über den hervorragenden Artikel von Michael Esfeld. Lesende mögen es verstehen. Es übersteigt die medizinische ‹Aus-ein-ander-Setzung› (buchstäblich gemeint). Jan Diek van Mansvelt


Die Logik des Entweder-oder

[…] Die Behauptung, dass die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie ergriffen wurden, vergleichbar mit einem Schritt in den Kollektivismus vom Ausmaß des Terrors des Zweiten Weltkrieges (Sowjetunion oder Nationalsozialismus) seien, ist eine unglaubliche Verdrehung der Sachverhalte und eine historische Lüge. Der Autor versucht, die Pandemiefolgen mit geringen Prozentzahlen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu verniedlichen. Allein in den USA starben mehr als 750 000 Menschen an den Folgen von Covid-19 und viele leiden noch immer an den Spätfolgen. Diese Schicksale, die Millionen von Menschen betreffen, kann man nicht einfach vom Tisch fegen. Der selbstlose und unermüdliche Einsatz von Ärzten und Pflegepersonal wird in keiner Art und Weise vom Autor in Betracht gezogen. Die Situation in den USA wird von Esfeld völlig verzerrt dargestellt. Der entlarvende Kurzschluss von Esfeld zeigt sich, wenn er argumentiert, dass u. a. ungesundes Essen (und die unter anderem damit verbundene Fettleibigkeit) verantwortliche Todesursachen seien. Fettleibigkeit ist nicht auf eine ungesunde Ernährung zurückzuführen, sondern eine komplexe Krankheit mit genetischen und umweltspezifischen Faktoren, die man heute auch behandeln kann. Die medizinischen Kenntnissse des Herrn Professor sind nicht gerade überzeugend.

Seine Argumentation ist von einer Logik des Entweder-oder getrieben. […] Diese Denkweise wird aber der Realität nicht gerecht. Es gibt eben ganz unterschiedliche und vielfältige Reaktionen im Umgang mit dieser Pandemie. Es ist nicht einfach eine Frage der Technologiegläubigkeit oder des Glaubens an die traditionellen Naturwissenschaften, wie es Esfeld suggeriert. Wer ein erweitertes Verständnis der uns umgebenden Phänomene erstrebt, muss sich von den abstrakten Schemen verabschieden und sich mit Bescheidenheit, Neugier, einem offenen Blick und selbstkritisch den natürlichen und sozialen Phänomenen nähern. […] Alexander Rist


Abwehr des Kollektivismus

Über das Corona-Problem wurde unter medizinischen Aspekten bereits viel geschrieben und diskutiert. Auch gesellschaftliche Aspekte klangen von Anfang an mit. Allerdings sehr oft mit der Schlagseite von Verschwörungserzählungen. Es ist deshalb zu begrüßen, wenn Beiträge wie derjenige von Michael Esfeld einen weiter greifenden sozialen Diskussionsrahmen aufzeigen. Neben den Ideen von Platon, Aristoteles und Popper gibt es allerdings noch ein anderes Konzept, dasjenige der Dreigliederung des sozialen Organismus. Anhand dessen kann ein Sog des Kollektivismus plausibel werden. Außerdem vermag es Wege zu zeigen, welche trotz kollektivistischer Zwänge Raum für das Individuum offenhalten könnten.

Allerdings werden seine Glieder allzu oft getrennt und nicht in ihrem Zusammenwirken betrachtet. […] Dass im Geistesleben Freiheit herrschen soll, leuchtet ganz besonders ein. Jede(r) von uns beansprucht Freiheit. In Bezug auf das Rechtsleben bleibt man oft nur sehr vage. Dieses soll für die Einhaltung der Menschenrechte sorgen, heißt es etwa. Außerdem scheint es ein Gefühl zu geben, nach Einführung der Dreigliederung würden sich bestehende Probleme von selbst lösen. Dreigliederung stellt jedoch lediglich Strukturen und Prozesse bereit, die Problemlösungen am jeweils richtigen Ort erleichtern. Ganz besonders vernachlässigt werden in der Dreigliederungsdiskussion diejenigen gesellschaftlichen Einrichtungen und Prozesse, die sich in den Zwischenbereichen befinden, beispielsweise da, wo Rechtsleben und Geistesleben aufeinanderstoßen und ineinandergreifen. Gerade ein solches Ineinandergreifen ist in ‹Corona-Situationen› der Fall.

Schmerzhaft deutlich wurde dies mit der Zertifikatspflicht und mit der Überwälzung der Testkosten auf jeden Einzelnen. Wer sich nicht impfen lassen will, kann sich nicht mehr ohne Weiteres z. B. für eine Besprechung mit jemand anderem in einem Café treffen. Das ist ein unerhörter Eingriff in die Freiheit des Einzelnen. Dem gegenüber stehen die Vertreter einer Mehrheitsgesellschaft, welche Nicht-Impfer als unsolidarisch anprangern, weil sie nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die der Mitmenschen aufs Spiel setzten. Für sie ist klar, dass Nicht-Impfer per Mehrheitsbeschluss gezwungen werden sollen (und dürfen), sich ebenfalls impfen zu lassen. Dass Nicht-Impferinnen von diversen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen werden, sei – Äußerungen von Rechtsprofessoren nach zu schließen – keine Diskriminierung, denn sie könnten sich ja impfen lassen. Mit solchen Haltungen landen wir tatsächlich im Kollektivismus. Von Jürgen Habermas wird dieser in die möglicherweise rhetorisch gemeinte Frage gekleidet, ob es sich der Staat überhaupt leisten könne, Maßnahmen zu unterlassen, die möglicherweise Menschenleben erhalten könnten. Würde der Staat im Sinne dieser Frage konsequent jedes Lebensrisiko aus dem Handeln der Individuen ausschließen wollen, müsste er beispielsweise auch Bergsteigen oder Schwimmen verbieten.

[…] In den verschiedensten Dreigliederungsdiskussionen während der vergangenen 100 Jahre wurde immer wieder festgestellt, wo der Staat sich herauszuhalten hat, zum Beispiel aus der Erziehung, der Wirtschaft etc. Man ließ ihm meist Aufgaben in der Überwachung der Menschenrechte. Dies ist nicht falsch. Nur müsste man, wenn man konkret mit diesen Fragen umgehen will, zu einer operationaleren Formulierung finden – etwa wie: ‹Es ist die Aufgabe des Staates, den physischen, seelischen und geistigen Entwicklungsraum zu schützen.› Dass wohl niemand anderes als der Staat mit geeigneten Maßnahmen den Schutz vor Naturgewalten mehr oder weniger gut gewährleisten kann und soll, wurde jüngst aus Anlass von Hochwasser oder Vulkankatastrophen deutlich. Wer dem Staat jede Legitimation und Aufgabe abspricht, macht es sich sehr einfach. (Demokratischer) Staat bedeutet Mehrheit – und damit ist die Frage erneut: Wie kann vermieden werden, dass der Staat als Mehrheitsvertreter Minderheiten brutal ignoriert?

Minderheiten sind durch Demokratie nicht per se schon geschützt. Für Minderheiten liegen Lösungen auch in einer dreigliedrigen Gesellschaft nicht einfach auf der Hand, sondern müssen erarbeitet werden. Lösungen sind da unproblematisch, wo die Konsequenzen des Handelns einer Minderheit kaum Auswirkungen auf die Mehrheit haben (Beispiel freie Schulwahl). Unter den Bedingungen einer Epidemie oder eines Krieges sind Lösungen weniger einfach zu finden.

Es hat aber solche immer wieder gegeben: Kriegsdienstverweigerer sind oder waren in den Augen der Mehrheitsgesellschaft zwar unsolidarische Bürger, die sich den Pflichten des Schutzes der Heimat entzogen. Sie wurden oft als Drückeberger gebrandmarkt. Irgendwann ließen sich diese Urteile oder Verurteilungen nicht mehr halten, die Ablehnung des Militärdienstes nicht mehr mit einem Strafrecht unterdrücken. Es mussten Lösungen gesucht werden, welche auch der individuellen Entscheidung der Betroffenen gerecht wurden. Weil der Staat aufgrund von Mehrheitsentscheidungen weiterhin eine Armee unterhalten muss, sorgte er mit mehr oder weniger hohen Hürden dafür, dass nicht allzu viele den Weg der Verweigerung gehen. So wurde mit dem Zivildienst ein Weg gefunden, wie Mehrheitsansprüche und im Geistesleben fußende individuelle Entscheidungen verträglich neben- oder miteinander existieren können. […]

Ich beobachte bei Nicht-Impfern die Haltung, es sei ihr gutes Recht, sich der Impfforderung zu widersetzen. Das ist nicht falsch. Einen rechtlichen Impfzwang gibt es nicht. Und doch hilft die Beanspruchung eines Rechts gegenüber der gesellschaftlichen Forderung der Impfung wenig. Ein sozialer Aushandlungsprozess könnte zum Ergebnis haben, dass die Impfaufforderung (oder gar das Impfaufgebot) an alle Einwohner und Einwohnerinnen des Landes geht, aber wie bei der Kriegsdienstverweigerung die Möglichkeit offen gelassen wird, zu erklären, dass man sich nicht impfen lassen will. Ob diese Möglichkeit mit irgendwelchen Hürden verknüpft wird, ist Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse.

Die gegenwärtigen Diskussionen in den Medien und den sozialen Netzwerken offenbaren eine erschreckende Geringschätzung der individuellen Souveränität. Ein faktischer Impfzwang wird mehrheitlich als ganz normal empfunden. Nur ein ernsthaftes Eingehen auf den jeweils anderen Standpunkt führt weiter. In diesem Sinn müssen Lösungen gefunden werden, die sowohl Mehrheits- wie individuelle Standpunkte bewusst und explizit einbeziehen. Sonst kommt es tatsächlich mehr und mehr zu einer Rückkehr des Kollektivismus, wie dies Michael Esfeld sieht. Matthias Wiesmann


Entwicklungsfähigkeit

Ich habe drei Einwände gegen Herrn Esfelds Sicht:

1. Die Herleitung der gegenwärtigen Situation aus der Geschichte (Platon, Aristoteles …) in die Gegenwart beeindruckt zunächst, ist aber sehr einseitig/linear und lässt außer acht, dass die politische Entwicklung in unserem Land noch (!) wandlungsfähig ist – zu bemerken auch an der Änderung der Parteienlandschaft, am letzten Wahlergebnis und an den außerparlamentarischen Aktivitäten, die nicht nur auf der Straße stattfinden, sondern in vielen gesellschaftlichen Bereichen von ‹unten› her. Bitte also nicht mit ‹Totschlagbegriffen› wie Kollektivismus und Totalitarismus arbeiten, die zudem Zustände in unserer älteren Geschichte und anderen Ländern bagatellisieren!

Über Impfpflicht und Pandemiewirklichkeit kann man verschiedener Meinung sein, aber man sollte berücksichtigen, dass die Regierungen sich dieser Situation unvorbereitet gegenübersahen und in manchem in einer Art reagiert haben, die man hinterher durchaus kritisieren kann. Aber sie lernen dazu! […]

2. […] Ich vermisse die Berücksichtigung der Situationen z. B. von Pflegern, Kassiererinnen, Schlachthofarbeitern, Erntehelferinnen, Menschen im Niedriglohnbereich überhaupt. Diese kommen mit vielen Menschen in Kontakt, können oder wollen sich nicht im Mainstream oder anderen Medien ständig informieren, höchstens untereinander oder in Social-Media-Blasen. Die haben ganz andere Probleme als die Furcht vor Totalitarismus, vor allem zu wenig Zeit und zu viel Stress (von wegen Immunsystem stärken, entspannen, meditieren). Zudem wird selten erwähnt, dass es darum geht, nicht nur sich selbst (nicht) zu schützen, sondern auch seine Mitmenschen. Man sollte deutlich unterscheiden zwischen Gesinnungsethik, bei der man nur für sich selbst verantwortlich ist, und Verantwortungsethik, bei der man eben Verantwortung für andere hat – hier also die Politiker und Politikerinnen gegenüber der Bevölkerung, Chefs gegenüber Angestellten, jede/r für andere.

3. Die Gefahr des Kollektivismus und der Entmündigung jedenfalls auf die Frage ‹Impfpflicht ja oder nein› zu konzentrieren, sehe ich als viel zu eng gefasst. Ernst Simon


Im Übrigen herzlichen Glückwunsch zur Gestaltung der Zeitschrift in schwierigen Zeiten! Man kann nicht mit allen Meinungen mitgehen (z. B. reduziert Esfeld Plato und Aristoteles etwas sehr stark). Aber zum einen beleben Kontroversen den Austausch, zum anderen sieht man das Bemühen der Redaktion um eine neutrale Vielfalt. Karl-Reinhard Kummer


Antwort von Michael Esfeld

Ich danke für die Leserbriefe. In dieser Antwort möchte ich noch einmal betonen, dass es mir in dem Artikel darum ging, eine gefährliche Tendenz zu einem neuen Kollektivismus hin offenzulegen. Ich kann das nur als Philosoph tun mit allen Mängeln einer recht abstrakten und abgehobenen Argumentation. Das Ziel ist, auf ein Reaktionsmuster in einer Krise aufmerksam zu machen, das in der Vergangenheit zu noch viel größeren gesellschaftlichen Schäden geführt hat als der eigentliche Anlass der Krise. Man braucht für ein eklatantes Beispiel nur 100 Jahre zurückzuschauen. Damals war die Eugenik Konsens in der Wissenschaft: ‹Es gibt Menschen mit minderwertigen Genen. Wenn diese sich ungehindert fortpflanzen, steht der Untergang der zivilisierten Menschheit bevor. Deshalb ist es wissenschaftlich erwiesen, dass man gegen die Fortpflanzung dieser Menschen vorgehen muss im Hinblick auf das moralische Gut des Überlebens der zivilisierten Menschheit.› Wir wissen alle, wohin diese zunächst durch Wissenschaft geleitete Politik geführt hat.

Natürlich kann man das, was jetzt geschieht, nicht mit den Verbrechen des Nationalsozialismus oder des Kommunismus gleichsetzen. Aber das Handlungsmuster ist dasselbe wie das in früheren Totalitarismen, was schließlich zu furchtbaren Verbrechen geführt hat: Wissenschaft nimmt eine Rolle ein, in der mit ihr politische Vorgaben zur Steuerung der Gesellschaft begründet werden, und zwar so, dass diese Wissenschaft über Menschenwürde und Menschenrechten steht. Wenn das gewünschte Resultat nicht eintritt – heute das Ende der Pandemie trotz weitgehender Durchimpfung der Bevölkerung –, dann sucht man Sündenböcke, gegen die man mit Gewalt – heute bisher bloß mit verbaler Gewalt – vorgeht, und zwar gegen alle wissenschaftliche Evidenz. Denn wir wissen inzwischen, dass Geimpfte das Virus ebenso wie Ungeimpfte verbreiten können. Kurz, die Impfung mag Selbstschutz gewähren (das muss letztlich jeder selbst einschätzen), aber keinen statistisch signifikanten Fremdschutz, der Druck und Ausgrenzung wissenschaftlich oder moralisch rechtfertigen könnte.

Mir erscheint deshalb zweierlei wichtig: 1. Bescheidenheit: Unser bestes Wissen besteht immer nur in Hypothesen, die sich ständig weiterentwickeln; Wissenschaft liefert keine definitiven Wahrheiten, die man zur Steuerung der Gesellschaft verwenden kann. 2. Wir dürfen in keinem Fall den Kompass von Menschenwürde und Menschenrechten im sozialen und politischen Handeln verlieren, auch nicht in der Situation einer Krise. Niemand hat das Wissen um eine Wahrheit, die man anderen aufzwingen darf, sich dabei über deren Freiheit, Würde und Rechte hinwegsetzend.

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