Dass die Arbeit weitergehe

Die Weihnachtstagung setzte Rudolf Steiner im Angesicht und als Antwort eines dramatischen 20. Jahrhunderts. Das ist aus heutiger Warte sichtbar und Auftrag, die damaligen Impulse zu verwirklichen.


Wenn wir hier die Frage nach dem ‹Neuen› nach der Weihnachtstagung – dieser gegenwärtigen – aufwerfen, so gilt, wie ich meine, das johanneische Wort: «Es wird kommen die Zeit und sie ist schon da.» Damit möchte ich sagen, dass es aus meiner Sicht nicht richtig wäre, zu meinen, wir müssten nun, 2024, etwas ganz Neues erfinden. Denn dieser «Welten-Zeitenwende-Anfang», von dem Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung 1923/24 sprach, der hat ja wirklich begonnen – und zwar mit der Arbeitsgestalt der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, der Gesellschaft und der Bewegung, die durch die Weihnachtstagung gestiftet wurde.

Es ist für uns, so meine ich, gar nicht leicht, uns vor die Zeit der Weihnachtstagung zurückzuversetzen. Denn wir sind groß geworden in diesem Gefäß, in dieser Ordnung. Rudolf Steiner hat etwas gestiftet für die Zukunft, nicht für sich. Er hat keine Präsidialordnung errichtet, sondern er hat eine Ordnung sichtbar gemacht, wie Gesellschaft, Hochschule und Bewegung zusammenwirken können und aufeinander bezogen sind. Es wurde ja schon oft gesagt: Vieles ist nicht so geworden, vieles wurde auch nicht verstanden, konnte vielleicht auch damals noch nicht leicht verstanden werden. Denn es fehlte der Abstand – wie wenn man eben zu nah vor einem Gemälde steht oder einem Gebirge, dann sieht man nur Farben oder Steine. Michael Bauer sagte einmal: «Wir können die Größe des Lebenswerkes Rudolf Steiners noch gar nicht beurteilen. Wir stehen zu nahe dabei.» Wir aber sehen nun das genozidale 20. Jahrhundert, das zurückliegt, sehen auch die Gefahren viel deutlicher, als die damaligen Menschen sie gesehen haben. Sie hatten doch das Gefühl, der Weltkrieg liege hinter ihnen, und sie verstanden oft gar nicht, von welchem Abgrund Rudolf Steiner sprach; Margarita Woloschin hat dieses Unverständnis ehrlich beschrieben, andere auch. Und sie verstanden oft auch gar nicht, von welcher Hochschule Steiner eigentlich sprach und was er mit den Sektionen meinte. Für sie war er die Hochschule des Geistes und der Rest war eigentlich noch gar nicht da. Hier am Hügel stand die Brandruine. In Stuttgart gab es eine ökonomisch sehr gefährdete Schule. Die Stuttgarter Klinik wurde 1924 liquidiert. Es gab ein kleines heilpädagogisches Heim in Jena, den ‹Lauenstein›, da gingen die Eltern der Kinder nach dem Tod Rudolf Steiners vom Ende der Einrichtung aus – da doch der Lehrer der jungen Heilpädagogen gestorben war. Man hätte ja annehmen müssen: Es ist oder kommt zu Ende. Und das war ja auch die Auffassung der Gegner, dass es sich eigentlich mit dem Tod Steiners erledigt hat. Und dann? Ja und dann ersteht innerhalb von drei Jahren dieser mächtige, einzigartige Bau. Er ersteht rein aus den Kräften derjenigen Menschen, die im inneren Anschluss an Rudolf Steiner und an dieses Geburtsmysterium der Weihnachtstagung ihre ganze Kraft, ihre Inspiration zusammennahmen, um in seinem Sinne – und das ist nicht persönlich gemeint, sondern im Sinne der geistigen Welt, die in Rudolf Steiner sichtbar geworden ist – für diese Zukunft zu arbeiten. Und aus einer Schule wurden inzwischen mehr als 1000. Ich weiß, es ist nicht unproblematisch, wenn man von anthroposophischer Seite vor allem Erfolgsgeschichten mit Zahlen präsentiert. Denn wir sehen doch die Sorgen dieser Schulen. Und wenn man Kinder hat, weiß man schon, wie schwer es ist, dass eine Waldorfschule mindestens in manchen Ländern wirklich den Namen ausfüllt, den sie trägt. Und dennoch: sie sind da! Herbert Hahn, einer der Stuttgarter Urlehrer, sagte einmal, und ich habe es nie vergessen: «Wenn es uns gelingt, die Waldorfschulen über das Ende des 20. Jahrhunderts hinüberzuretten, dann wird es möglich sein, sie weiterzuführen und zu vertiefen.» Er, Herbert Hahn, hatte ein Bewusstsein, dass es schwierige Zeiten werden und dass es erst einmal darum geht, durch all das hindurchzukommen und den Impuls hindurchzutragen, vielleicht auch in abgeschwächter Form und mit Kompromissen, ehe dann vielleicht durch eine neue, helfende Geistigkeit eine nächste Entwicklungsphase möglich wird.

Peter Selg, Foto: Ariel Turner

Das Goetheanum als ein Herz

Nun komme ich zum Goetheanum und zur Hochschule, verstehe sie aber mit Rudolf Steiner nicht nur als eine esoterische Schule. Rudolf Steiner hat den esoterischen Schulungslehrgang als die Grundlage aller fachlichen Arbeiten verstanden. Die Sektionen sind in diesem Sinne Abteilungen für eine Facharbeit. Und für alle Menschen der Hochschule, die an diesen Arbeiten mitwirken, ist dieser innere Grundlehrgang die Basis, das Fundament, aber nicht das Ziel. Vor Kurzem wurde einmal gesagt: Es ist ein wenig so, wie wenn ein Herzorgan plötzlich sich verselbstständigt. Die Klassenstunden sind ein Herzorgan eines Gesamtwesens; zu dessen Gliedern gehört die Landwirtschaft, gehören die Pädagogik und Heilpädagogik, gehört die Naturwissenschaft, gehört die Medizin, gehört die Astronomie, gehört die Kunst, gehören das soziale und religiöse Leben, gehören alle Disziplinen. Das Herz ist dasjenige, was diese Arbeit wahrnimmt, fördert und ermöglicht. Ich meine tatsächlich: Das Herz all dieser Hochschulbemühungen – also die Bemühung um Forschung, Lehre, Ausbildung und sozialen Zusammenhalt in diesen Feldern – ist die esoterische Schule, mit ihrer ersten Klasse. Und wenn man dann einmal bei einer Fachtagung hier anwesend ist, nehmen wir die Landwirtschaft, inmitten von 700 Landwirten und in diesem Bereich Arbeitenden, die die Früchte ihrer Arbeit, aber auch ihre Fragen ins Goetheanum tragen, ihre Studien und Herausforderungen, dann ist man sehr wohl in einer lebendigen Hochschule. Die Menschen stellen hier im Goetheanum vor, wie es in ihrem Land ist, wie weit sie mit dem Lehrkurs in Koberwitz heute kommen und welche neuen Ideen sie aus dem Kurs oder aus der Begegnung mit ihrer Arbeit gefunden haben. Ich würde wirklich sagen: imaginativ, inspirativ, intuitiv. Das sind ja nicht irgendwie abgehobene Fähigkeiten von ultimativen Meditierenden, sondern tatsächlich Erlebnisse von Menschen, die konkret arbeiten. Rudolf Steiner war ein Arbeiter. Er ist in einem Bahnhof geboren und er ist in einer Holzwerkstatt gestorben. Er wünschte, dass die Anthroposophen und Anthroposophinnen arbeiten für die Welt, für das Werden der Welt. Also es kommen dann die einer Sektion zugehörigen Menschen zurück an dieses Goetheanum und berichten von ihrer Arbeit, von ihren Ergebnissen, man kann auch sagen von ihren Forschungen. Aber man muss es vielleicht nicht immer sagen, das ist ein hoher Begriff. Sie tragen sie hier zusammen – und durch das Goetheanum kommen ihre Arbeitsergebnisse in die Welt und werden vielleicht sogar von den guten Göttern gehört, wohlwollend entgegengenommen. Impulse kommen von hier, von der Anthroposophie, und Ergebnisse, Arbeiten, Erlebnisse kehren zurück. Es konzentriert sich hier und das Wertvollste wird dadurch allen zugänglich. Das ist nur eine Aufgabe der Sektionen, und keinesfalls eine unwichtige. Es hat mit der Sozialgestalt der Hochschule zu tun: Das, was Welt wird – und die Hochschule ist in der Welt –, kommt zu diesem Goetheanum wie zu einem Herz zurück. Keinesfalls an einen beliebigen Ort, sondern hierher, an den Ort des Grundsteins, physisch, seelisch, geistig.

Die Menschen kommen mit Liebe und Erwartung, ja auch mit viel Hoffnung hierher, oft von sehr weit, mit großem Einsatz. Und sie erhoffen, sich hier nicht nur treffen und voneinander hören zu können, sondern dies in Gegenwart des Geistes dieses Ortes zu tun. Sie erhoffen sich auch, neue Gesichtspunkte für ihre Arbeit hier zu finden. Sie hoffen nicht irgendwie eine dogmatische Lehrmeinung zu hören, sondern dem guten Geist des Goetheanum zu begegnen. Der ist natürlich sehr wohl in der Welt, ist unterwegs, auf Wanderschaft im Hegel’schen oder Hölderlin’schen Sinne; aber er ist auch hier. Es ist eindrucksvoll, mit Menschen zu sprechen, die weit entfernt leben, mit welcher Liebe sie auf das Goetheanum blicken. Und es ist interessant, zu hören, was sie hier erleben, an den Gebäuden, bei den Vorträgen, in den Arbeitsgruppen, in Gesprächen oder bei den esoterischen Klassenstunden. Zu hören, was für neue Gesichtspunkte sie hier fanden, auch bei künstlerischen Aufführungen hier im Bau. Zu hören, was sich ihnen hier zuspricht, was zu ihnen spricht, an diesem Schicksalsort. Und natürlich hoffen sie, die Gekommenen, auch auf die Menschen, die hier arbeiten, die an so einem Ort besondere Möglichkeiten des Arbeitens haben, auch dadurch, dass das eben eine vorgearbeitete Stätte für eine zukünftige Geistigkeit ist, um den Begriff der Mysterien nicht immer zu benutzen, dessen allzu häufiger Gebrauch nicht ratsam ist. Es gibt auch verborgene Schatzkammern hier – darunter ein Rudolf-Steiner-Archiv. Das klingt scheinbar sehr historisch und vergangen, aber es ist ein unglaublicher Ort der Erschließung eines geisteswissenschaftlichen Werkes für kommende Kulturepochen.

Foto: Ariel Turner

«Wir alle sind gestanden»

So kommen die Menschen also hierher, weil sie sich erhoffen, dass sie von hier, von den Sektionen und Mitarbeitenden, etwas aus der Tiefe dieser Geisteswissenschaft erschlossen bekommen, das ihnen so nicht zugänglich war. Weil man an anderen Orten in anderen Nöten lebt. Es ist ein Ort der gegenseitigen Hilfeleistung und Unterstützung. Ich nannte die Landwirtschaft, aber man könnte auch die Medizin oder die pädagogische Bewegung nennen. Wir werden bald eine große heilpädagogische und sozialtherapeutische Tagung hier haben. All die Sektionen könnten genannt werden. Dann ist die Hochschule auf dieser Ebene sehr, sehr real – und das alles war 1924 nur im Keim da, kaum sichtbar, fast nur im Bereich der reinen Intention, der geisteswissenschaftlichen Ideenbildung und der einzelnen ersten Gründungen. Natürlich muss man sagen, wir wollen doch noch deutlich weiterkommen in der Spiritualisierung der Medizin, der Landwirtschaft, der Kunst, der Naturwissenschaft. Ich meine, der «Welten-Zeitenwende-Anfang», er hat doch begonnen. Und ich glaube, wenn dieses Geschehen weiter an Intensität gewinnt und das Bild der Hochschule als Ganzes wieder aufleuchtet, auch durch die Vertiefung des esoterischen Schulungslehrgangs, in seiner fortwährenden Erschließung und in seiner Verbindung mit den Aufgaben der Menschheit, dann wird das deutlich: dass mit der Weihnachtstagung etwas Großes begonnen hat, neu begonnen hat. Auch in diesen 19 Stunden der ersten Klasse sind Kulturepochen der Zukunft enthalten. Das ist ein unergründlich tiefes, substanzielles Material. Das ist ein Weg. Wir haben bisher nur eine Spur zu fassen bekommen und müssen das weiter intensivieren. Und wir wollen die Beziehungen zwischen diesem geistigen Herzensweg und der Arbeit in den Gliedmaßen ans Licht stellen – in der Landwirtschaft und der Pädagogik, der Medizin und überall.

Das war auch Rudolf Steiners Hoffnung am Lebensende: dass diese Arbeit weitergeht. Ich war ja mit vielen Tagungsteilnehmenden in seinem Atelier und wir haben uns diese Situation am Lebensende vergegenwärtigt. Man kann jetzt nach 100 Jahren schon sagen: Oh ja, es wurde in drei Jahren nach seinem Tod nicht nur dieser Bau aufgerichtet, sondern heute verbindet man einen Begriff mit einer Sektion für Landwirtschaft. Das ist nun eine Realität für viele Tausend Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. In diesem Sinne meine ich, dass man sehen darf, dass da etwas sehr Wichtiges gelungen ist – im vollen Bewusstsein des Unvollkommenen. Und ich glaube, man darf sich auch unterstützt wissen von Rudolf Steiner in diesem Wahrnehmen und Ernstnehmen des Anfangs – und im Fortführen des Anfangs. Wir wissen zugleich, wie gefährdet alles ist. Es war ein Erlebnis, das Goetheanum in Corona-Zeiten zu erleben, den Riesenbau, fast ohne Menschen, völlig sinnlos im Grunde. Und wenn es nicht so gekommen wäre, dass wir wieder hätten reisen dürfen, was wäre das für eine Weihnachtstagung hier geworden? Wir sind gefährdet, in jeder Hinsicht. Aber das ist eben das 21. Jahrhundert. Und dennoch und gerade deswegen werden wir uns weiter bemühen. Und wenn wir die Arbeit fortsetzen, dann kann sich etwas aufrichten. Und dann können wir vertrauen auf den Zuspruch, auf die Treue der «Götterseelen», so sagte Rudolf Steiner. Sie erinnern sich vielleicht daran, wie Rudolf Steiner vor genau 100 Jahren, am 31. Dezember 1923, im Saal der Schreinerei empfangen wurde, zum Abendvortrag. Die Menschen standen, als er hereinkam, weil es eben der Jahrestag des Brandes war, und sie wussten, wie schwer dieser Tag für ihn war, die Erinnerung und Vergegenwärtigung der Zerstörung ein Jahr zuvor. Dann folgte ein unglaublicher Vortrag und am Ende sagte er: Sie haben mich stehend empfangen – und er bittet die Menschen, erneut aufzustehen. Und dann erfolgte eine Art Versprechen oder ein Gelöbnis – dass die Menschen dem Geist des Goetheanum die Treue halten wollen in die Zukunft hinein. Ich fragte einmal die hochbetagte Eurythmistin Maria Jenny, die als Jugendliche Eurythmie auf der Weihnachtstagung gemacht hatte und beim Abendvortrag vom 31. Dezember 1923 dabei war: Wie war es denn? Und sie sagte: «Ganz schlicht. Aber wir sind alle da gestanden.»

So stehen sie auch heute noch, meine ich, diese schützenden Geister, die jetzt alle im Reich der Himmel sind, und sie hoffen, dass wir dem Ort die Treue halten und ihn weiterführen. In die offene Zukunft hinein – dass wir tun, was uns möglich ist und dass wir das, was auf uns zukommt, schöpferisch bewältigen. Das ist ja das Geheimnis der Zukunft: dass manches auf uns zukommt, was wir nicht voraussehen können.

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