Über Individualität und Identität

Was ist der Unterschied zwischen Individualität und Identität? Und wie sind sie ineinander verschachtelt? Beide sind Voraussetzungen für Engagement im sozialen Lauf unserer Zeit.


Anthroposophie als einen Weg der Erforschung des In-der-Welt-Seins und des Dienstes an der Welt zu verstehen, heißt dann auch, soziale Fundamente zu formen, die sich aus dem Interesse an der materiellen Welt und an den Wesen der geistigen Welt speisen. Es braucht dafür ein lebendiges Bewusstsein der Gesetzmäßigkeiten der geistigen Welt, die sich von der materiellen Welt unterscheiden. Dieser Unterschied ist kompliziert. Ich habe versucht, ihre Verbindung zu verstehen, um zu erkennen, wie man sich in einigen der schwierigen sozialen Fragen unserer Zeit zurechtfinden kann.

Aus anthroposophischer Sicht ist jeder Mensch die Verkörperung einer einzigartigen Individualität, die sich über mehrere Inkarnationen hinweg entwickelt. In diesem Leben bilden wir durch diese Verkörperung eine Identität, die vorgeburtliche Absichten mit den Umständen einer bestimmten Inkarnation verbindet. Der Unterschied zwischen einem anthroposophischen Verständnis von Individualität, welches Reinkarnation und Karma einschließt, und unserem heutigen Verständnis von Identität stiftet Verwirrung, Konflikte und Missverständnisse. Individualität und Identität sind miteinander verbunden, aber sie sind nicht dasselbe, und die Werkzeuge, um sie zu verstehen und zu erarbeiten, erfordern unterschiedliche Fähigkeiten.

Integration

Wenn mir jemand sagt, er leide unter etwas, was ich gesagt oder geschrieben habe, oder fühle sich dadurch beleidigt, möchte ich zunächst die Verantwortung für die Handlung übernehmen. Habe ich diese Reaktion verursacht? Haben meine Worte sie verursacht? Oder ist es etwas in der Erfahrung dieses Menschen oder seines Hintergrunds, das sie ausgelöst hat? Gibt es Grenzen meiner Verantwortung? Wie kann jeder und jede von uns an dem Austausch wachsen? Wie können wir uns gegenseitig wirklich sehen und hören? Die Verantwortung zu leugnen oder sie einfach dem anderen Menschen zuzuschieben, ist in der Regel kontraproduktiv. Ich kann die volle Verantwortung für meine eigenen Handlungen übernehmen, aber nicht für die Reaktion eines anderen. Ich kann nur seine Reaktion erkennen, nachempfinden und daraus lernen. Aus der durch Empathie erwärmten Wechselbeziehung kann ich meinerseits reflektieren, was Teil meines Wegs der Selbsterkenntnis ist, was meine Schwächen oder Unzulänglichkeiten sind, und was im wertvollen Bereich der Geschichten und Wege des anderen verbleibt.

Ich bin der Einzige, der die Individualität, die in mir wohnt, kennen kann – das, was sozusagen mein Wesenskern ist. Die Identität hingegen, die im Kontext ererbter und gewählter Gemeinschaften angesiedelt ist, wird sowohl durch äußere als auch durch innere Einflüsse geformt. Die Fähigkeit, Identitätsbildung zu verstehen, entsteht aus einem Interesse an anderen und ihren Geschichten und an einer echten Erforschung der eigenen Biografie. Der Weg zur geistigen Freiheit – sofern dies beabsichtigt ist – hängt davon ab, dass man sein Geistselbst, seine Individualität, im Rahmen der intrinsischen und extrinsischen Identitätsbildung kennt. Und das Streben nach geistiger Freiheit, unterstützt durch eine meditative Fähigkeit und Disziplin auf diesem Weg, liegt allein in meiner Verantwortung. Ein Teil der Entfaltung des individuellen Karmas ergibt sich aus der Orientierung zwischen Individualität und Identität und der Fähigkeit, beide durchzuarbeiten und zu integrieren.

Foto: Milada Vigerova

Schichten der Konditionierung

Wir bringen einiges an ‹Wissen› oder Eigenschaften aus früheren Inkarnationen mit – Dinge, die wir erkennen und aus Freiheit vielleicht beschließen durchzuarbeiten. Gleichzeitig werden wir in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in bestimmten sozialen Verhältnissen geboren. Unsere Verhaltens- und Charaktermuster entstehen an dem Punkt, an dem diese inneren Impulse auf äußere Kräfte treffen. Der Weg der Selbsterkenntnis ist sowohl ein Schöpfer der inneren Freiheit als auch ein Ergebnis davon. Das heißt, je mehr wir uns selbst mit dem Willen zur Wahrheit und zur Selbstveränderung wahrhaftig beobachten können, desto klarer sehen wir unsere Identität in Bezug auf unser Empfinden für unsere Individualität und deren Absicht in dieser konkreten Inkarnation. Die Erforschung unserer Identität kann sichtbar machen, was wir von unserem kulturellen Milieu in unserer Frühentwicklung, von unseren Familien über Generationen hinweg, von unserer Erziehung und von Altersgenossen sowie von unserer natürlichen Umgebung geerbt haben. Im Freilegen der Schichten unserer Konditionierung kommt ein neues Bewusstsein zum Vorschein. Es wird möglich, Ja oder Nein zu sagen, wenn es darum geht, Aspekte dieser Konditionierung fortzuführen. Bedeutsam ist, dass wir auf dem Weg dorthin vielleicht anfangen, einen Schimmer unserer Individualität zu sehen. Wir erhaschen Funken von dem, was da ist, wenn alles, was unsere Identität geprägt hat, weggeschält wird. Solche Selbstreflexion führt uns in die Komplexität unserer Annahmen über die Welt, sodass wir sie erkennen, verantworten und so handhaben können, dass sie unseren Blick auf die Individualität nicht trüben und keine Hindernisse für Beziehungen schaffen. Dies ist eine mühsame Arbeit, die Zeit braucht, um ihre Kraft zu entfalten. Sie verträgt keine Sentimentalität, keine Anmaßung und keinen Mangel an Willen.

Foto: Resource Database

Freiheit und Vereinbarungen

Die ‹westliche› Kultur feiert die Vorstellungen von Ego, Selbst und Identität. Dass man behaupten kann, ein Selfmademan zu sein, ist ein sinnbildliches Beispiel dafür. Wir können den Ursprung der ‹Ich-Generation› auf die Renaissance, und das Aufkommen eines anthropozentrischen Weltbildes zurückführen. In dieser prägenden Zeit kamen einige starke neue Impulse von Individualitäten in der Kultur. Aber die bestehenden religiösen und wirtschaftlichen Machtstrukturen hatten eine Abneigung gegenüber Veränderungen. Sie wählten stattdessen den Weg des Eigeninteresses, um die Kontrolle über das Rechts- und Wirtschaftsleben zu behalten. Esoterische Weisungen und ein spirituelles Verständnis von einem Dienst an der Menschheit gingen verloren. Die Verquickung von Religion und politischer Macht und die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen kennzeichneten eine Bindung an den Materialismus und dessen Aufstieg, begleitet von der Dominanz des Kapitals. Im Kampf auf dem Marktplatz wurde die Identität zur Ware. Solcher Materialismus entwertete die menschliche Erfahrung, weil er sich auf das Greifbare und Messbare konzentrierte. Immer raffiniertere Darstellungen von Äußerlichkeiten und wie die Dinge an der Oberfläche aussehen, führten zu dem Glauben, dass das Abbild die Realität sei. Das wiederum führte zu der Vorstellung, dass man den Menschen nachbilden (Roboter) oder sogar verbessern könne (Transhumanismus). Die Fähigkeiten, sich wirklich zu begegnen und sich gegenseitig zu sehen, haben durch diese Entwicklungsfäden gelitten. Beziehungen gedeihen durch Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und ethische Praktiken, die die Verbindung in den zwischenmenschlichen Räumen fördern. Sie sind unser sozialer Wärmeleib, ein Leib, der nicht gerade im Kalkül des Eigeninteresses steht. Die ‹soziale Distanzierung› der letzten Jahre begann, lange bevor sie als solche benannt und gemessen wurde. Der Weg zur Erkenntnis unserer Individualität im Angesicht dessen, dass Identität eine Ware geworden ist, stellt uns vor eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: die Ausübung der inneren Freiheit, die in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens eingebracht wird. Es ist an der Zeit, dass wir als Individuen, nicht mehr als Identitäten miteinander auskommen, Vereinbarungen treffen und einhalten und den Wert der Gemeinschaft finden – als Gegenmittel zur aktuellen sozialen Notlage.

Welches sind also die Vereinbarungen, die wir heute schaffen und nach denen wir leben, die es uns ermöglichen, aus Respekt vor der Freiheit des anderen kollaborativ zusammenzukommen? Welche Vereinbarungen helfen uns, Gemeinschaften zu bilden, zu erhalten und zu verwalten? Um sich damit zu befassen, ist die Unterscheidung zwischen innerer, kultureller Freiheit und äußerer, politischer bzw. gesetzlicher Freiheit von entscheidender Bedeutung. Innere Freiheit begleitet den Weg der Selbsterkenntnis und erwächst aus der Selbstverantwortung. Die äußere Freiheit, die mit dem Gesetz verbunden ist, ergibt sich aus den Vereinbarungen, die wir gemeinsam treffen, und ist durch jene begrenzt. Die Qualität zum Beispiel der Redefreiheit beruht auf einem Gleichheitsgrundsatz und ist durch gesellschaftspolitische Prozesse im Laufe der Zeit veränderbar. Es steht mir zum Beispiel frei, zu einer Vereinbarung Ja oder Nein zu sagen, und es steht mir frei, diese Vereinbarung neu zu verhandeln, aber wenn ich einmal Ja gesagt habe, bin ich nicht mehr frei von der Vereinbarung oder der sozialen Verantwortung dafür.

John Bloom, Quelle: Anthroposophy/John Bloom

Zwischen den beiden Arten der Freiheit zu navigieren, ist mit Missverständnissen und dem Potenzial zur Polarisierung behaftet. Ein solcher Prozess erfordert Schritte zu einer Ethik der Verantwortung, nicht nur, um aus dem eigenen freien Selbst zu leben und zu handeln, sondern auch für das des anderen. Niemand ist von dieser Verantwortung ausgenommen. Dies spricht für eine Ebene der Vereinbarung, die auf Liebe und Vertrauen beruht – im Gegenteil zu unserer derzeitigen Rechtsprechung, die aus Misstrauen erwächst – und den Einstieg in eine neu gestaltete Sozialethik darstellt, welche die Menschlichkeit und die Würde jedes Einzelnen achtet. Es ist ein Ideal, und wie bei jedem Ideal kann es vielleicht ein Leitstern sein, der unsere Beziehungen und die Art und Weise, wie wir uns selbst führen und beherrschen, auf dem Weg zu einer menschlicheren und friedlicheren Zukunft prägt. Ein Beispiel für die alte Struktur ist Folgendes: Anstatt Menschen im Voraus zu bezahlen, aus Vertrauen, damit sie nach ihren Fähigkeiten und nicht wegen des Geldes arbeiten, machen wir die Arbeit zur Ware, geben ihr einen Preis und zahlen erst, wenn die Arbeit erledigt ist. Wir wollen zwar, dass die Menschen aus freiem Willen arbeiten, aber eine Lohnstruktur, die auf dem Erwerb von Arbeit basiert, steht dieser Hoffnung entgegen. Es liegt also noch viel Arbeit im wirtschaftlichen Bereich vor uns, um die Praktiken zu verändern und zu vermenschlichen.

Jeder Mensch verkörpert den Geist in der physischen Materie und trägt das Wissen um die geistige Welt und ihre Gesetzmäßigkeit in der Welt der materiellen Gesetzmäßigkeit in sich. Das Verstehen von und Handeln aus einem ‹Sowohl-als-auch›-Bewusstsein ist anthroposophische Disziplin. Die Anwendung einer solchen Disziplin trennt uns nicht vom Lauf der Welt oder davon, uns von Seele zu Seele kennenzulernen. Zu gesunden auf dem umkämpften Feld der Identität, wo Wirtschaft, Handel, Politik und Macht die Schönheit von Beziehungen und Kultur überschatten können, wird helfen, die Individualität in Freiheit aufscheinen zu lassen. Die Übernahme dieser Heilungsaufgabe liegt in der Verantwortung des einzelnen Menschen, indem jeder und jede von uns sich im inneren Raum des Wissens um Individualität und Identität zurechtfindet, individuell und in der Gemeinschaft. Die eigene Individualität und Identität zu kennen und sie als Teile einer einzigen Realität zu sehen, ist ein Weg zum Frieden mit sich selbst und in der Welt. Eine menschlichere Zukunft hängt davon ab.


Übersetzung Christian von Arnim
Titelbild Nicolas Gras Hs; Quelle der Bilder unsplash

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