Am Karfreitag letzte Woche hatte ich einen Text mit dem Titel ‹Das Geschenk des Ungewissen› geschrieben. Eine Woche später, scheint mir, als wäre mit Ostern das erste Corona-Kapitel abgeschlossen und das zweite hat begonnen. Es ist weniger innig und philosophisch, sondern mehr real und dramatisch.
Es ist immer noch schönes Wetter, es scheint kein Ende zu nehmen, es ist trocken und ein Freund verglich die Stimmung heute Morgen mit dem Moment am schönen Strand, als das Wasser sich langsam zurückzog, bevor dann die große Welle kam. Ein Tsunami ist auf dem Meer kaum spürbar. Erst wenn die Welle auf den Strand zurollt, bäumt sie sich auf und wird zur unaufhaltsamen Gewalt.
Seit März steht die Welt still. Für viele ist es zunächst ein positives Nachholen verpasster Sonntage. Für andere hat der Sondermodus doppelte Arbeit zur Folge. Der Stillstand muss aber in jedem Fall, selbst wenn es nur geliehen ist, aus den Reserven beglichen werden. Das geht für eine Weile gut, bis diese irgendwann aufgebraucht sind, und wer schon einmal seinen Reservetank leergefahren hat, weiß, dass das Fahren auf Reserve nur eine Sorge, aber noch kein echtes Problem ist. Reicht es bis zur nächsten Tankstelle, vergisst man es rasch. Wenn sie aber nicht kommt und der Motor plötzlich stockt und dann steht, ist von einem Moment auf den anderen alles anders, sehr real und unter Umständen äußerst dramatisch. Diese Situation könnte das zweite Corona-Kapitel prägen.
Wenn die Reserven aufgebraucht sind, ist es nicht mehr nur die Angst im Kopf, sondern die physische und psychische Bedrohung, der Hunger, die Ausgrenzung, die Hitze oder der Durst, welche große Verzweiflung hervorrufen. Und Verzweiflung ist ein starkes, existenzielles und gefährliches Gefühl, das nicht anders kann, als sich schwankend einen Ausweg zu suchen zwischen ergebener Hoffnung an die Gemeinschaft und zerstörerischer Wut auf Schuldige, einem Schwanken zwischen Verbundenheit und Spaltung.
Wir wissen nicht, wann die Reserven aufgebraucht sind. Aber wir wissen, dass die Reserven, die psychischen, die sozialen und besonders die physischen, äußerst ungleich verteilt sind, sodass zwischen den einzelnen Menschen wie auch zwischen den verschiedenen Regionen der Welt eine tiefe Spaltung entstehen kann zwischen denen, deren Reserven aufgebraucht sind, und den anderen, die über den Rest verfügen.
Ich befürchte, dass die schicksalsergebene Zeit bald zu Ende sein wird, weil die Gruppe der Menschen, deren Reserven aufgebraucht sind, exponentiell anschwellen wird, weil die Reserven der einen an den Reserven der anderen hängen. Dann entsteht eine umfassende Notlage, die existenzieller und unkontrollierbarer wird als die Probleme, die durch das Virus im Gesundheitswesen entstanden sind. Ab diesem Moment kann der Lauf der Dinge immer weitere unvorhersehbare Wendungen nehmen und in einer solchen instabilen Lage wird jeweils Geschichte geschrieben, denn schon kleine Impulse können Lawinen an der einen oder an ganz anderen Stellen auslösen und dadurch in Minuten ganze Welten umgestalten.
Diese Überlegungen haben sich in mir zu einer Projektion des Dramas der nächsten Monate verdichtet und zur Frage geführt, was nun meine Aufgabe ist, was unsere Aufgabe ist. Ich habe einen anderen Freund gefragt. Vielleicht kommt in dieser Zeit der Moment, in dem wir ganz plötzlich hinstehen müssen, um die Welt zu retten. Er schwieg und sagte damit, dass solche Rettungsimpulse nicht so einfach mit der Freiheit jedes einzelnen Menschen zu vereinen sind und leicht zur selben Bevormundung führen können wie diejenige, die wir jetzt erleben durch Menschen, von denen viele auch ganz ehrlich die Welt retten möchten.
Was werden die nächsten Monate wohl bringen? Wird ein Drama das nächste auslösen und die Welt in Kürze kaum wiederzuerkennen sein? Oder wird sich alles einrenken und die Welt froh über diese kleine Ruhepause gewesen sein? Oder wird sogar beides gleichzeitig zutreffen? All diese Gedanken haben mich zuerst erschreckt und dann aufgeweckt und daran erinnert, so geistesgegenwärtig, aufmerksam und fantasievoll wie nur möglich leben zu wollen, auf jeden meiner Schritte zu achten, jetzt besonders auch wegen der Lawinengefahr, und gleichzeitig diesen unberechenbaren Ereignissen im gelassenen Bewusstsein zu begegnen, dass auch diese zu unserer Welt gehören, mit der ich innig verbunden bin.