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Das Licht der Würde und die Begegnung

Ich erlebe Tag für Tag wunderbare Dinge. Ich lebe nicht im Bewusstsein, dass die Weltsituation eine Katastrophe ist und alles immer schlimmer wird. Vielleicht bin ich naiv, vielleicht schaue ich nicht richtig hin, aber ich habe tatsächlich den Eindruck, dass ich Zeuge eines Sonnenaufgangs bin, und nicht eines Untergangs.


Ein Bereich, wo ich das neue Licht kommen sehe, ist derjenige der Begegnung. Da beobachte ich, dass etwas immer besser stattfinden kann, was zur neuen Verbindung mit dem Göttlichen werden kann: Wenn zwei oder mehr Menschen sich begegnen, kann zwischen ihnen etwas entstehen wie ein geschützter Raum, wie wenn plötzlich ein Tempel oder eine Kathedrale um sie da ist und ein Innenraum sich bildet, wo getragen und geschützt wird, was würdig vom einen zum anderen klingt.

Ich stelle mir das so vor, dass es Wesen gibt – wir können sie Engelwesen nennen –, die auf diese Momente warten. Wenn zwei Personen sich so begegnen wollen, dass sie sich zusammen einstimmen auf etwas Heilsames, auf etwas, was zum Licht führen kann, dann kommen diese Wesen ganz schnell dazu und bilden den Lichtschutz um die bemühten Menschen. Das kannte ich früher nur vom Verliebtsein. Von Liebesbeziehungen kannte man das vielleicht schon jahrhundertelang. Eine solche plötzlich wahrnehmbare Anwesenheit von Engeln kann sich heute in einem spontanen Gespräch in der S-Bahn ereignen.

Vergoldete Welt

Im Moment, in dem dieser Raum entsteht zwischen Menschen – am leichtesten geht es zu zweit, etwas schwerer in einer Gruppe –, ist etwas fühlbar wie die Anwesenheit einer anderen, besseren Welt. Während der Begegnung ist die Welt scheinbar wie vergoldet. Manchmal habe ich dann auch den Eindruck: In dieser Zeit spielen der Elektrosmog und das LED-Licht, die ich oft als zerstörend für das tiefere Schauen der Menschen und für ihre Denkfähigkeiten empfinde (1), keine Rolle mehr. Schädliches kann uns nichts anhaben, es ist eine andere, bessere Wirklichkeit anwesend.

Ich habe den Eindruck, dass diese Möglichkeiten – durch eine tiefe Begegnung eine höhere Welt in den Alltag hineinzuholen – zunehmen. Es scheint Wesen zu geben, die unglaublich hilfsbereit sind in dem Moment, wo Menschen sich im Zeichen der Würde begegnen wollen, und die mithelfen, dass der soziale Raum, der sich bildet, geschützt wird, ja, dass er in tieferem Sinn geheiligt wird.

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Eine plötzlich wahrnehmbare Anwesenheit von Engeln kann sich heute in einem spontanen Gespräch in der S-Bahn ereignen.

Wir können dabei an Rudolf Steiners Worte in dem berühmten Vortrag über ‹Was tut der Engel in unserem Astralleib?› denken: «Alle freie Religiosität, die sich in der Zukunft innerhalb der Menschheit entwickeln wird, wird darauf beruhen, dass in jedem Menschen das Ebenbild der Gottheit wirklich in unmittelbarer Lebenspraxis, nicht bloß in der Theorie, anerkannt werde. Dann […] wird die Begegnung jedes Menschen mit jedem Menschen von vornherein eine religiöse Handlung, ein Sakrament sein, und niemand wird durch eine besondere Kirche, die äußere Einrichtungen auf dem physischen Plan hat, nötig haben, das religiöse Leben aufrechtzuerhalten. Die Kirche kann, wenn sie sich selber richtig versteht, nur die eine Absicht haben, sich unnötig zu machen auf dem physischen Plane, indem das ganze Leben zum Ausdruck des Übersinnlichen gemacht wird.» (2)

Man könnte auch sagen: Es gibt in der Welt, in der wir leben, eine zweite, bessere Welt, aber da kommt man alleine nicht so leicht rein − höchstens in besonders guten Meditationsmomenten oder durch starke Kunst- oder Naturerlebnisse. Das einfachste Tor, hineinzukommen, ist die Begegnung. Die Begegnung, die im Zeichen des Bewusstseins der eigenen Würde und der Würde (3) des anderen gesucht wird, scheint mir dasjenige Tor zur geistigen Welt, das sich heute am leichtesten öffnen lässt.

Würdig sein

In verschiedenen Geschichten findet sich am Eingang der heiligen Hallen der Spruch: ‹Es darf nur eintreten, wer würdig ist.› Das gilt es richtig zu verstehen. ‹Würdig-Sein› heißt nicht, ein braver Schüler zu sein, die Hausaufgaben gemacht zu haben und so weiter. Darauf schaut meinem Verständnis nach die geistige Welt nicht. Das ist schön gezeigt in dem Bild vom verlorenen Sohn im 15. Kapitel des Lukasevangeliums. Da oben interessieren sie sich dafür, was wir mitbringen. Was konnten wir mit Bewusstsein und Liebe durchdringen? Sie interessieren sich dafür, wie viel wir geliebt haben, wie viel wir verwandelt haben in uns. Dieses ‹Würdig-Sein› meint nicht, dass man perfekt ist. Es meint, dass man die Würde sucht. Und die sucht man manchmal dann am stärksten, wenn man etwas ganz Blödes gemacht hat, wenn man sich so richtig dreckig fühlt; dann sucht man die Würde oft am stärksten, dann kommt man vielleicht am besten durch das Tor.

Zu der Würde habe ich folgendes Bild: Wir stellen uns vor, dass jeder Mensch mit einem Licht in der Hand durch die Welt geht. Die Würdefrage ist: Was kann ich tun, ohne dass mein Kerzlein ausgeht? Wann leuchtet es heller, wann schwächer? Wie flackert es bei dieser Tat oder bei der Tat? Wo finde ich den Ort, wo man es wieder anzünden kann? Es geht darum, dass man die Verstehensmomente kennenlernt und weiter übt, und nicht darum, etwas zu bewahren. Möglicherweise muss man das Licht auch verlieren, damit es sich bewusster wieder finden lässt. Man stelle sich die ganze Menschheit so vor. Jeder einzelne Mensch läuft mit einem Licht durch das Leben. Viele wissen nicht, dass sie ein Licht haben, und denken, sie wären nur finster. Sie machen allen möglichen Mist. Denen muss man sagen: Ich sehe ein Licht in dir! Achte darauf! Dann werden sie vielleicht wach und verhalten sich möglicherweise anders.

Es geht also bei dem ‹Würdig-Sein› nicht darum, dass man es schon ist, sondern dass man es sucht. Wenn wir es so auffassen, kann man sagen: Diese Räume – ich will sie ‹soziale Tempelräume› nennen – öffnen sich durch die Begegnung, und man darf eintreten, wenn die Würde gesucht wird. Das heißt, wenn ich das Höhere, das Heilsame, das Durchlichtende in mir, im anderen und mit dem anderen anstrebe. Da nützt kein Ausweis, keine Mitgliedschaft, keine Spende – alles hängt an der inneren Haltung.

Die Zaubermacht des Zuhörens

Ich habe den Eindruck, dass vieles von dem, was Menschen schicksalsmäßig beschwert, dann geheilt werden kann, wenn es gesehen wird. Ich glaube, dass sich Jahr für Jahr die therapeutische Wirkung verstärkt, die darin liegt, dass etwas angeschaut und nicht ignoriert wird. Schon der Umstand, dass jemand dem zuhört, was mein Herzensanliegen ist, ermöglicht, dass dieses Herzensanliegen gleich einem Keim in guter Erde die ersten grünen Sprossen entwickeln kann und eine schützende Hülle hat. Die Zaubermacht des Zuhörens mit der Anteilnahme des Herzens wird immer bedeutender und hilfreicher. (4)

Ein weiterer Schritt zum Zuhören kann das Bezeugen sein. Wenn wir dasjenige ins Wort bringen, was wir als Würde und an Wertvollem am anderen Menschen wahrnehmen, verstärken wir die helfenden Kräfte, die in der Begegnung fühlbar werden können.

Dass vielerorts ein Aufwachen bezüglich Mobbing stattfindet, ist für mich auch Teil dieses Themas. Dass noch viel Ungerechtes und Unwürdiges zwischen Menschen geschieht, zeigt sich nun als Schatten besonders deutlich, da auch verstärktes Licht möglich wäre. Viele Kinder bringen einen Sinn dafür mit, ob sie ernst genommen und in Würde angeschaut werden. Wenn sie diesbezüglich enttäuscht werden, so kann sich ihr Wertvollstes zurückziehen. Gerade die Sensibelsten auf diesem Gebiet können dann durch Enttäuschung die größten sozialen Verletzungen in ihrem Umfeld anrichten.

Nebenbei bemerkt kann es bezüglich der eigenen Würde schon verletzend sein, wenn man erlebt, dass den Eltern ein Gerät wie beispielsweise ein Smartphone wichtiger ist als der direkte Kontakt zum eigenen Kind. Durch die sich in den letzten Jahren seuchenartig ausgebreitete Verschiebung des direkten Menschenkontakts zu einem durch Maschinen mediatisierten Kontakt sind in diesem Sinn ganze Generationen in der menschlichen Würde verletzt worden. Die Illusion, man könne den anderen in einem Gerät finden, gehört zu den Schatten oder besser gesagt zu der großen Ablenkung, die uns verschlafen lässt, was heute wirklich wichtig ist.

Die Veränderung im Begegnen und die erhöhte Hilfsbereitschaft geistiger Wesen, im Zeichen der Würde stattfindende Begegnungen zu schützen und zu fördern und dem Menschen dabei ein Erlebnis einer zukünftigen besseren Welt zu schenken, scheint mir verbunden zu sein mit dem, was Rudolf Steiner das Wirken des Christus in der ätherischen Welt nennt und das er voraussagte für die Zeit ab den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts. Dieses neue Christus-Wirken in der Sphäre des Ätherischen wurde seither von vielen Menschen bezeugt. (5)

Unsere Zukunft

Als Welt des Lebendigen und der Lebenskräfte gehört die ätherische Welt nicht dem Einzelnen, sie ist die Welt der Zwischenräume, der Zeitprozesse, des Lebens und Vergehens. Die ätherische Welt erfahren wir vor allem zwischen uns. Man kann kein Monopol bezüglich der Ätherwelt haben. Ätherisch tangiert jeder jeden, und jeder hängt mit jedem zusammen.

In dieser Welt des ‹Dazwischen›, der sich durch den sozialen Kontakt öffnenden Ätherwelt, ahne ich den Christus, das große Sonnenwesen, das, so Rudolf Steiner, seit 2000 Jahren mit der Erde lebt. (6) Ich sehe es vor dem inneren Auge an einer zukünftigen Welt bauen. In der scheinbar kalten maschinendurchsetzten und katastrophengeschüttelten Welt lebt als goldenes Geheimnis schon die Zukunft. In diese andere, bessere und die Zukunft vorbereitende Welt können wir eintreten durch die Begegnung. Man kann sozusagen schon die Luft schnuppern von dem, was einmal «himmlisches Jerusalem» (so wird es in der Apokalypse genannt) oder «Jupiterzustand» (in Rudolf Steiners ‹Geheimwissenschaft im Umriss›, GA 13) sein wird.

Wir bauen auch mit, wenn wir die Eingänge fleißig benutzen und in dieser anderen Welt verweilen. Es ist nicht so, dass die Zukunft irgendwann plötzlich kommt, sondern sie ist schon drin in dem Jetzt. Es ist in dem Jetzt schon eine andere Welt enthalten. «Es gibt eine andere Welt. Aber sie ist in dieser» (7), sagt Paul Eluard. Die Bausteine für die zukünftige Welt werden jetzt schon gesammelt, geformt und gruppiert.

Es ist sehr viel Schreckliches in der heutigen Welt da. Aber diese goldene, ätherische Innenwelt ist auch da. In ihr liegt unsere Zukunft. Zu ihrer weiteren Ausgestaltung beizutragen scheint mir die wertvollste Aufgabe zu sein, die man sich heute stellen kann.

Die Zukunft liegt in den Händen der Menschheit. Ihr wichtigster Mitträger ist der Sonnengeist. Er verbindet alles Wertvolle und Brauchbare und trägt es in die Zukunft.


Titelbild: Philip Stoll, Ohne Titel, 2018, 80 × 80 cm, analoger C-Print

(1) Zu diesen Erlebnissen siehe mein Buch ‹In Ahrimans Welt – Leben mit Maschinen und Medien›, Hamburg 2018.
(2) Rudolf Steiner, ‹Der Tod als Lebenswandlung›, GA 182, Dornach 1996, S. 145 f.
(3) Ich bin mir nicht sicher, ob ‹Würde› für das hier Gemeinte wirklich das beste Wort ist. Es fällt mir aber auch nichts Besseres ein. Was Johanna von Keyserlingk mit ‹Frömmigkeit› meint (in Johanna von Keyserlingk, ‹Erlöste Elemente›, Stuttgart 1991, S. 81 f.) meine ich auch, doch hat das Wort heute einen anderen Beigeschmack bekommen, weswegen ich ‹Würde› doch treffender finde. ‹Verehrung› oder ‹Devotion› wäre auch passend, wenn man davon alles Schwärmerische und alles sich selbst Verleugnende fernhalten würde. Eine Verehrungshaltung, die mit dem in Bescheidenheit gefühlten Bewusstsein der eigenen Göttlichkeit und der Göttlichkeit des anderen verbunden ist, kommt meinem Verstehen von ‹Würde› nahe. Wenn ich das zu erleben versuche, so fühle ich mich auch in einem reinen Sinn ‹fromm›.
(4) Über die Bedeutung des Gesehen- und Gehörtwerdens in der Pädagogik und im Leben habe ich u. a. geschrieben in ‹Jugend am Abgrund – Sexualität im Internet›, in Andreas Neider (Hrsg.), ‹Liebe und Sexualität›, Stuttgart 2014; in ‹Wandlungen – Betrachtungen zu Bildern von Daniel Boillat›, Steinberg­kirche-Neukirchen 2017; in ‹Mensch, ich glaube an dich! Terrorismus – ein Erziehungsproblem?›, Hamburg 2017; und in ‹Die Spiritualität der Jugend und ihr Schatten›, Hamburg 2017.
(5) Über das Wirken des Christus in der ätherischen Welt spricht Rudolf Steiner unter anderem in ‹Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt› (GA 118) und ‹Der Christus-Impuls und die Entwicklung des Ich-Bewusstseins› (GA 116). Empfohlen sei auch ‹Ankunft und Wiederkehr des Christus› (Dornach 2001) von Anton Kimpfler und auch der von ihm herausgegebene Sammelband ‹Die Zeit der Wiederkunft – Christus begegnen› (Kiel 1988). Berührend sind die gesammelten Zeugnisse dieses Ereignisses in dem aus dem Schwedischen übersetzten Sammelband ‹Sie erlebten Christus, Berichte aus einer Untersuchung des Religionssoziologischen Instituts Stockholm durch Gunnar Hillerdal und Berndt Gustafsson›, Basel 1979.
(6)  «Wir wissen, dass in dem Augenblick, als Christi Blut auf Golgatha auf die Erde tropfte, im Innern der Erde ein neuer Sonnenglobus geboren wurde», sagte Rudolf Steiner zu Johanna von Keyserlingk, in Adalbert von Keyserlingk (Hrsg.), ‹Koberwitz 1924 – Geburtsstunde einer neuen Landwirtschaft›, Stuttgart 1985, S. 75. Zum Thema des Christus als Sonnengeist, der sich vor 2000 Jahren mit der Erde als einem neuen Leib verbunden hat, siehe den 12. Vortrag in Rudolf Steiner, ‹Das Matthäus-Evangelium› (GA 123), und den 13. Vortrag in Rudolf Steiner, ‹Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien› (GA 112).
(7) Dalai Lama, ‹Der neue Appell des Dalai Lama an die Welt›, Salzburg/München 2018, S. 78.

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