Aus der Eurythmiegeschichte Neues schöpfen

Gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren erforschen Martina Maria Sam und Stefan Hasler die Geschichte der Eurythmie. Nun erscheint bald die gebündelte Neuausgabe des Dionysischen und des Apollinischen Kurses.


Franka Henn Für alle, die Eurythmie nicht näher kennen, muss man fragen: Was haben die griechischen Gottheiten Dionysos und Apollon mit Eurythmie zu tun?

Martina Maria Sam Es war nicht so, dass Rudolf Steiner die beiden Kurse so genannt hat, das waren eher die Eurythmistinnen. Sie haben diese Lehrstunden aber auch schlicht als ersten und zweiten Kurs bezeichnet. Es finden sich in beiden Kursen aber Anhaltspunkte dafür, dass die Kurse später so benannt wurden. Dionysos ist der Gott der Persönlichkeit, des Subjektiven, des Kreativen, des Schaffenden, des Schöpferischen; Apollo steht mehr für die Form und Harmonie im Ganzen. Es gibt einen mikrokosmischen und einen makrokosmischen Ansatz, um mit Sprache umzugehen. Rudolf Steiner hat in einem Vortrag über die Entwicklung der Sprache einmal gesagt, dass der Logos gewissermaßen «auseinandergerissen» worden sei. Das Schöpferisch-Lautliche und das Sinnhaft-Denkerische der Sprache waren früher eine Einheit – voneinander verschieden, aber doch in einer harmonischen ‹Zweieinheit› miteinander verbunden. Im Laufe der Entwicklung wurde zunächst das Denkerische ‹zu hoch› in den Kopf hineingedrückt. Dadurch entstanden zu allgemeine und keine individualisierten Begriffe. Das Schöpferisch-Lautliche wurde dagegen ‹zu tief› in das Unterbewusstsein des Menschen gedrückt und hat sich da mit dem egoistischen Teil verbunden, was sich zum Beispiel im nationalistischen Hervorheben der eigenen Volkssprache äußert. Rudolf Steiner hat Anregungen gegeben, wie man die beiden Logos-Teile wieder verbinden könne; das spiegelt sich auch in diesen beiden Eurythmiekursen. Auch ist die Geschichte der einzelnen Kurse mit unterschiedlichen Frauen verbunden: Der Impuls des Dionysischen mit der jugendlichen Lory Smits, der Apollinische Kurs mit Tatiana Kisseleff.

Henn Wie sind diese beiden Kurse dann entstanden?

Skizzen Rudolf Steiners für Lory Smits, September 1912, zum fünften und achten Tag.

Sam Nach der die Eurythmie initiierenden Frage von Clara Smits gab Rudolf Steiner zunächst ihrer Tochter Lory einzelne Angaben, bis er dann 1912 neben dem Zyklus zum Markus-Evangelium in Basel mehr Zeit hatte und ihr neun Lehrstunden erteilte. Tatiana Kisseleff, die die Eurythmie-Arbeit in Dornach leitete, berichtete, dass sie im März 1915 Rudolf Steiner Gedichte von Christian Morgenstern eurythmisch gezeigt und dieser dann gesagt hätte, die bis dato gegebenen Grundlagen reichten nicht mehr aus, es müsste einen neuen Kurs geben. Es wurden für den August/September die vier Menschen, die damals schon Kurse in Eurythmie gaben, eingeladen: Neben Lory Smits und Tatiana Kisseleff noch Erna Wolfram und Elisabeth Dollfus. Und weil Rudolf Steiner eine neue Dichtung geschrieben hatte, die ‹Zwölf Stimmungen›, für deren Aufführung er 19 Eurythmistinnen brauchte, holte man noch eine ganze Reihe anderer junger Frauen dazu, die beim Bau des Ersten Goetheanum mitarbeiteten, als Schnitzerinnen oder Malerinnen. So fanden diese 22 Lehrstunden letztlich für 19 Teilnehmerinnen plus Marie Steiner und Mieta Waller sowie die drei Mütter Marguerite Dollfus, Elise Wolfram und Clara Smits statt.

Stefan Hasler Man muss sich vorstellen, dass im Großen Saal des Ersten Goetheanum gearbeitet wird – die Schnitzarbeiten laufen. Und im Nebenraum, im Südtrakt, ist der Weiße Saal und darin findet dieser Kurs statt, in unmittelbarer Nähe von diesen Arbeiten. Die Eurythmistinnen waren vorwiegend in Aktion, und die Mütter und Marie Steiner saßen am Tisch daneben und haben beobachtet und mitgeschrieben, wie Rudolf Steiner mit ihnen gearbeitet hat.

Jahrelange Forschungsarbeit

Henn Das heißt, ihr forscht auf der Grundlage dieser Mitschreiberinnen?

Skizzen Rudolf Steiners für Lory Smits, September 1912, zum fünften und achten Tag.

Hasler Das ist unsere Riesenarbeit, mit der wir sechs Jahre beschäftigt waren. Es existieren Notizzettel der Anwesenden und Notizbücher, die später angelegt wurden. Dann sind Druckfahnen aus den 1960er-Jahren da, als der Kurs zum ersten Mal im sogenannten Querband herausgegeben wurde. In den Druckfahnen finden sich Korrekturen der ersten Eurythmistinnen und Briefe an die Herausgebenden, Eva und Edwin Froböse. Viele der weit über 100 Dokumente hatten wir jeweils auf einem riesigen Tisch nebeneinander liegen und verstanden ab und zu ganz viel und dann wieder gar nichts mehr.

Henn Sind es verschiedene Eurythmieströmungen, die sich durch die Kurse und die beiden Hauptpionierinnen Smits und Kisseleff von da an entwickeln?

Skizzen Rudolf Steiners für Lory Smits, September 1912, zum fünften und achten Tag.

Hasler Das Tolle ist, dass wir jetzt, 100 Jahre später, diese Biografien nebeneinanderstellen können, was vor 50 Jahren noch nicht möglich war. Es zeigt sich mehr und mehr das Bild dreier Persönlichkeiten, für die die Eurythmie unterschiedlich angelegt wurde. Lory Smits war eine junge deutsche Frau, die einfach Bewegungsfreude hatte – und Steiner holt sie im seelischen Erleben ab und baut auf ihre Erlebnisse die Lautbewegungen auf. Tatiana Kisseleff war Russin, Juristin mit Welterfahrung und Zeichnerin. Sie stand natürlich anders im Leben. Für sie hat Steiner klar den Formaspekt formuliert. Er sagte, A sei ein Winkel, E eine Kreuzung, I eine Streckung usw. Worte, die er nie im Unterricht für Lory benutzt hätte. Als Dritte war da Erna Wolfram, die ebenfalls sehr jung war. Ihre Mutter und sie hatten das Schicksal, 1914 die Gebärden für Tierkreis und Planeten zu bekommen, auch hatte sie früh einen Bezug zum heilenden Aspekt der Eurythmie. Das Interessante ist, dass unseres Wissens die drei Eurythmistinnen nur relativ wenig darüber wussten, was Steiner mit den jeweils anderen machte. Das haben sie später ausgetauscht. Für uns heute ist es möglich zu bemerken, wie methodisch Steiner vorgegangen ist und wie sich durch das Schicksal dieser ersten Eurythmistinnen die Eurythmie überhaupt entwickelt hat. Heute stellen wir die Frage: Wo stehst du und wo steht eine andere Person? Was ist jetzt für diesen Menschen das Richtige?

Ausdruck von Beziehungen

Henn Welches Material liefert uns der Apollinische Kurs genau?

Hasler Im Aufbau dieser 22 Stunden liegt die Grundlage dafür, dass die Eurythmie zu einer Bewegungssprache im Hiesigen wird, für uns Menschen auf der Erde, durch die sich kosmische Tatsachen und Geistesgegenwart ausdrücken. Es geht fast durchgehend um die Kräfte des Umkreises, um die Bezüge zum Kosmischen. Da kommen Planeten, Tierkreis, das Kreisförmige, also das Sphärische von Kreisen, immer wieder vor. Es geht immer um Bezüge zueinander, nie um die einzelne Eurythmistin. Der Dionysische Kurs war für eine Person gestaltet: für Lory Smits. Sie, ihre Mutter und Marie Steiner waren dabei. Im Apollinischen Kurs geht es immer um das Zusammenspiel von mehreren, um Bezüge, Verhältnisse und darum, wie durch das Chorische Kosmisches ausgedrückt werden kann.

Aus Marie Steiners Notizbuch 138 – mit Angabe der Farbgebärden von Rudolf Steiner

Sam Wenn vom Apollinischen Kurs gesprochen wird, denkt jeder sofort an die Grammatikformen. Grammatik ist aber eigentlich Beziehungskunde. Sie klärt mich darüber auf, wie sich etwas in den großen Zusammenhang stellt. Übrigens spricht Rudolf Steiner dann in den Eurythmie-Ansprachen ab 1918 immer genau von diesen beiden grundlegenden Elementen der Eurythmie – die Bewegung des Einzelnen und die Raumbewegung, die Verhältnisse der Gruppen.

Henn Wie haben diese sehr unterschiedlichen Frauen mit diesem Kurs gearbeitet?

Hasler Es ist interessant, dass 1916 bis 1918 eine Gruppierung in Berlin und eine Gruppierung in Dornach parallel arbeiteten. Sie haben mit den Elementen der Kurse geübt, sie haben probiert, sie haben das kombiniert. Für die ‹Urtriebe› von Fercher von Steinwand sehen wir, dass sie alles Mögliche dieser Stunden aus dem Apollinischen Kurs miteinander kombiniert haben. Also, vier Zeilen des Textes mit allen möglichen Gesetzmäßigkeiten, dann die nächsten vier Zeilen mit weiteren Gesetzmäßigkeiten usw. Wir können sehen, wie sie ‹verdauen›. Annemarie Dubach hat die Grundelemente 1927 auf Bitten Marie Steiners aufgeschrieben, und die nächste Publikation war erst 1965 der Querband, in dem alle Sachen wirklich enthalten sind – auch der Dionysische Kurs, den Lory Smits erst als alte Frau dokumentiert hat. Erst ab den 1960er-Jahren waren also die frühen Kurse dokumentiert.

Notizzettel Mieta Wallers zur 9. Stunde, 25. Aug. 1915, mit dem Thema «Gedanke, Gefühle, Willensimpulse»

Henn Ihr habt von dionysischen, apollinischen und kosmischen Bezügen bei verschiedenen Menschen erzählt. Wie versteht ihr den Umstand, dass die Geburt der Eurythmie eigentlich mehrfach geschah?

Sam Ich denke, der Kurs mit Lory Smits hat sich schicksalhaft ergeben. Ab dann hat Steiner ihr Schülerinnen geschickt, die ersten waren Erna Wolfram und Annemarie Donath. Später entstand der erste Unterrichtskurs im Haus Meer, bei dem gleich drei Russinnen dabei waren. Tatiana Kisseleff wurde dann nach Dornach berufen, um die Arbeit hier aufzubauen. Ich denke, es sind hauptsächlich diese zwei Frauen. – Der Apollinische Kurs war auch die Geburtsstunde der ersten Eurythmiebühnengruppe am Goetheanum. Viele der jungen Menschen, die 1915 einfach dazugeholt wurden, zum Beispiel Assja Turgenjew, blieben bei der Eurythmie. Das dritte Element, das noch dazukam und zeitlich gesehen mit dem Apollinischen Kurs zusammenhängt, waren die ‹Faust›-Aufführungen. Das ist das dritte Element, das auch speziell mit Tatiana Kisseleff zu tun hatte, die die großen Rollen gestaltete, durch die die Eurythmistinnen und Eurythmisten aber lernen konnten, wie man durch und aus Sprache ganz verschiedene geistige Wesen gestalten kann – vom Engel über das Irrlicht bis zum Dürrteufel. Das ist ein wichtiges drittes Element, und es ist spannend, dass direkt vor Beginn des Apollinischen Kurses die Himmelfahrt-Szene aus ‹Faust› erstmals aufgeführt wurde.

Tiaait – Aufzeichnung von Mieta Waller in ein Notizbuch Marie Steiners. Alle Abbildungen © Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach

Henn Was hat euch am meisten an euren bisherigen Neuentdeckungen begeistert?

Hasler Was mich im Moment am allermeisten begeistert, ist die Komposition des Apollinischen Kurses. Wie schafft Rudolf Steiner eine Methode, einen methodischen Aufbau, fast einen Lehrplan, damit durch den Aufbau von Beziehung aus dem Umkreis überhaupt die Bewegung, Gesten, Qualitäten entstehen? Ich bin glücklich darüber, nicht nur auf das einzelne Element zu schauen, sondern darauf, was der ganze Weg möglich macht.

Sam Es gibt eine solche Fülle von Gestaltungselementen, um diese kosmische Seite der Eurythmie noch viel stärker auszubauen! Ich hoffe sehr, dass die Ausgabe dazu anregt, dies zu tun!

Henn Wann wird die Neuauflage erscheinen?

Rudolf Steiner Die Entstehung und Entwicklung der Eurythmie 1912–1918 Notizbucheintragungen, Ansprachen und Auszüge aus Vorträgen Aufzeichnungen und Erinnerungen von Teilnehmerinnen, GA 277a, 640 Seiten, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2022. Im Druck.

Sam Im Sommer! Sie dokumentiert ‹Die Entstehung und Entwicklung der Eurythmie 1912–1918› und wird kein Querformat mehr haben, sondern normales Gesamtausgabenformat. Es werden in den nächsten Jahren noch die über 200 Eurythmie-Ansprachen und Notizzettel Rudolf Steiners von 1918 bis 1925 folgen, sodass bis 2025 alle wesentlichen Dokumente der Eurythmie-Entwicklung veröffentlicht sind.

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