Als sei er mit und nicht gegen die Eindrücke

Zum 100. Geburtstag wird Joseph Beuys im Goetheanum gefeiert. Zu Lebzeiten begegnete ihm der 35 Jahre jüngere Gerald Häfner in den politisch aktiven Kreisen in Achberg und in der Gründungsphase der Grünen. Nachtodlich bleibt das Goetheanum ein Ort ihrer Zusammenarbeit. Das Gespräch führten Franka Henn und Philipp Tok.


Was sind deine ersten Bezüge zu Joseph Beuys? Wo tauchte er in deinem Leben auf?

Wenn ich an Joseph denke, steht er unmittelbar vor mir. Es war für mich eine lebensentscheidende Begegnung. Ich bin dankbar, dass sich unsere Wege ein wenig gekreuzt haben. Er ist die bedeutendste Persönlichkeit, der ich begegnen durfte. – Ich war aber nicht einer von jenen, wie etwa Johannes Stüttgen, die immer an seiner Seite waren. Wir hatten eine zählbare Anzahl an Begegnungen. Als Beuys die Freie Internationale Universität gründete, ging ich noch zur Schule. Nach der Schule hatte ich das Gefühl, 13 Jahre schmarotzt zu haben. Mein Bedürfnis war es, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Und ich wollte das machen, von dem ich glaubte, es würde mir am schwersten fallen: mit Menschen mit Behinderung arbeiten. Eine Freundin riet mir, in eine anthroposophische Einrichtung zu gehen, und meinte, die für mich richtigen Anthroposophinnen und Anthroposophen fände ich in Achberg. Also fuhr ich da hin. Ein kräftiger Mann mit klappernden Holzpantinen fragte mich, was ich hier wolle, und ich sagte: «Mit Behinderten arbeiten.» Seine Antwort war: «Wir sind aber nicht behindert.» Das war Wilfried Heidt. Wir sprachen bis nachts um drei Uhr. Ich hatte das Gefühl, ‹anzukommen›, in einem geistigen Freundeskreis. Ab da fuhr ich regelmäßig nach Achberg, und dort begegnete ich dann auch Joseph.

Wie bist du ihm begegnet, hattest du Vorurteile?

Ich hatte Scheu. Ich erlebte: Alle wollen in der Nähe eines solchen Menschen sein. Das mochte ich nicht. Es tat mir leid. Deshalb habe ich mich ferngehalten und ihn beobachtet. Unsere erste persönliche Begegnung im Gespräch war erst im Zusammenhang mit der Gründung der Grünen. Wir vertraten zwei ihrer Gründungsinitiativen, er die Freie Internationale Universität (FIU) und ich die Aktion dritter Weg (A3W).

Das Erlebnis, als ich ihn sah, war: Das ist ein Großer. Bis heute beschäftigt mich seine Durchlässigkeit. Ich hatte bei manchen Menschen das Gefühl, dass sie sehr viel Raum verdrängen. Zum Beispiel Helmut Kohl. Wenn er in den Raum eintrat, erlebte man eine alles verdrängende physische Präsenz. Das war bei Joseph überhaupt nicht der Fall. Er hatte Präsenz, Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit, aber ich hatte immer das Gefühl, es gehe alles durch ihn durch, als sei er mit und nicht gegen die Eindrücke, immer in Verbindung mit der ganzen Umwelt. Er war wie durchsichtig, durchscheinend, durchlässig.

Er hatte eine unglaubliche Präsenz im Gespräch. Das war auch ein großer Teil seiner Arbeit. Er verstand das Gespräch als einen plastisch-künstlerischen Prozess. Er hatte eine unendliche Fähigkeit, sich auf sein Gegenüber einzustellen, und im eigenen Sprechen Bestimmtheit und eine erstaunliche Beharrlichkeit. Mein stärkstes Erlebnis, was dieses Durchscheinende betrifft, war auf einem Spaziergang. Sein Verhältnis zu den Ameisen, zu den Bienen, zu den Pflanzen und Tieren – ich hatte das Gefühl, als spräche er mit ihnen und sie seien Teil seines Wesens.

Joseph Beuys auf dem Gründungsparteitag der Grünen, Karlsruhe 1980. Foto von Barbara Klemm

Wie schmeckte die Achberger Luft?

Achberg war ein spannender Ort. Menschen suchten Verinnerlichung und wollten gleichzeitig die Welt radikal verändern. Ich war ganz oft da und es war immer wie ein Happening, aber mit tiefem Ernst – besonders in der Arbeit an den Begriffen. Joseph saß auf der Terrasse, mit Wilhelm Schmundt, Wilfried Heidt, Lothar Vogel, Peter Schilinski. Bald schon entwickelten sie sich zu eigenen Gestirnen, um die verschiedene Gruppierungen kreisten.

Du und Beuys, ihr habt ein gemeinsames Motiv: die Demokratie. Wie hat es euch verbunden?

Das stimmt. Joseph hatte schon 1973 in Düsseldorf das Büro für Direkte Demokratie begründet. Und ich ging Anfang der 80er-Jahre nach Achberg, um mit Wilfried Heidt die Aktion Volksentscheid aufzubauen. Es gibt aber noch eine andere Resonanz. Ich stand als junger Mensch vor der Frage, ob ich Kunst oder Politik machen möchte: ‹Ich will die Welt verändern – wie mache ich das am besten?› Ich habe viel Kunst gemacht – geschrieben, gemalt, Musik und Theater gespielt. Doch ich hatte den Eindruck, damit ist die Welt nicht zu verändern, und ich entschloss mich, durch politische Aktionen auf die Welt zu wirken. Joseph ist zeitlebens Künstler geblieben, aber er hat den Kunstbegriff so transformiert, dass die ganze Gesellschaft für ihn das Werkstück ist. Das ist genial.

Kann man eine Plastik der Wärme schaffen? An dieser Frage habe ich unglaublich viel verstanden. Beuys endete damit, dass er jetzt die Flamme weitergäbe.

Und als die Frage geklärt werden musste, wo der geistige Ort der Grünen sei, haben wir uns blind verstanden: Der geistige Ort ist nicht rechts, nicht links, sondern vorn, jenseits der alten Parteiungen. Nur wenn wir die Berechtigung des Freiheitsimpulses, des Gleichheitsimpulses und des Geschwisterlichkeitsimpulses verstehen und diese zeitgemäß verbinden, geht es in die Zukunft. Joseph hätte eine wirksame Gallionsfigur sein können, die eine größere spirituelle Dimension und Reichweite hineingebracht hätte. Aber er wurde kaum verstanden. Und der vom Marxismus und Materialismus noch nicht losgekommene Teil der Mitgliedschaft hat ihn – wie alles Geistige – als eine furchtbare Bedrohung bekämpft. Er wurde attackiert und verhöhnt. Es war eine Unfähigkeit der Grünen, auf die geistige Gestalt von Joseph Beuys einzugehen. Und von ihm war es eine Unfähigkeit, sich in diese sehr formalisierte Welt eines werdenden Politikbetriebes, den er überwinden wollte, einzufinden. Wie ein solcher Parteitag funktioniert, hat er nie ganz verstanden.

Die andere große Tragik in der Geschichte der Grünen war Rudi Dutschkes früher Tod. Er war bei den Grünen der Klarste und Kraftvollste, wenn es darum ging, altes Denken zu überwinden. Er hatte als Marxist und Materialist begonnen, aber beides überwunden und er wusste genau, wie ein Parteitag tickte. Er hielt die Marxisten in Schach und verkörperte diese Kraft der neuen Grünen.

Wie habt ihr euch konkret getroffen?

1979 bei Gesprächen über unsere Beteiligung an den in Gründung befindlichen Grünen. Ich erinnere mich vor allem an ein Gespräch nachts, in einem Hotel, am Rande einer grünen Versammlung. Rudi Dutschke, Milan Horáček, Lukas Beckmann, Wilfried Heidt waren dabei. Wir saßen um einen großen Tisch in einem dunklen Raum und berieten uns. Rudi war zurückhaltend, in Sorge, wieweit er sich mit uns verbinden sollte oder nicht, weil wir als eine Art esoterische Strömung galten.

Welche Rolle hat Beuys’ erweiterter Kunstbegriff für dich in dieser Zeit gespielt?

Er war ausschlaggebend für mich. Mir war klar, dass die soziale Welt nicht gott- oder naturgegeben ist, sondern durch den Menschen gemacht wird. Hier gilt: «Jeder Mensch ist ein Künstler.» Die Gestaltungsfähigkeit liegt tatsächlich in jedem Menschen und jeder kann sie in sich freisetzen. Darum schuf Beuys Formen wie z. B. die Organisation für Direkte Demokratie oder die fiu. Aber 98 Prozent derer, die damals über Beuys sprachen und schrieben, haben diesen Impuls nicht verstanden. Dass ein Künstler nicht mehr den Holzklotz, die Bronze bearbeitet, sondern sich dem Leib der Gesellschaft, dem sozialen Organismus zuwendet, war schwer zu begreifen. Daher zerfiel auch seine Anhängerschaft in zwei Gruppen: Die einen fanden seine Politik toll, verstanden aber seine Kunst nicht, bei anderen verhielt es sich umgekehrt. Für mich hat er erheblich dazu beigetragen, meine jugendliche Frage – Kunst oder Politik – ad acta zu legen. Ich konnte seinen Ansatz intuitiv nachvollziehen und hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Trotzdem war und ist er unerreichbar. Ein Künstler, der die Kunst in eine neue Dimension erhob.

Er war wie durchsichtig, durchscheinend, durchlässig.

Wie wurde Beuys bei den Grünen gesehen?

Er wurde vor allem nicht gesehen. Und nicht verstanden. Das tat weh, und hat viel verhindert. Im Übrigen war das im anthroposophischen Feld bis auf wenige Ausnahmen nicht anders. Symptomatisch war die Polemik ‹Wellenreiter auf den Wogen des Zeitgeistes› von Martin Barkhoff gegen Beuys im ‹Goetheanum›. Ich musste das auch selbst erleben. Als ich in Witten Waldorfpädagogik studierte, machten wir mit dem Kunst-Kurs einen Ausflug in die Kunsthalle Düsseldorf, in der auch zwei Werke von Joseph zu sehen waren. Unser Dozent ‹erklärte› uns Joseph als einen psychisch kranken, aufmerksamkeitssüchtigen Menschen, der seine Krankheit als Kunst verkauft. Als wir danach zum Bahnhof gingen, kam Joseph mit dem Auto vorbei, hielt sofort an, sprang heraus, umarmte und begrüßte mich freundlich. Natürlich stellte ich ihm meinen Dozenten vor. Der wurde ganz unterwürfig. Später schalt er: «Das hätten Sie mir doch sagen müssen, dass Sie den berühmten Professor Beuys kennen!» Aber es gab auch schon Schritte zu einem neuen Verständnis. 2007 wollte das Schicksal, dass ich kurzfristig auf der Tagung ‹Ursache Zukunft› am Goetheanum für den erkrankten Johannes Stüttgen einspringen musste. Ich sprach im Großen Saal über Leben, Bedeutung und Werk von Joseph Beuys. Offenbar gelang mir zu schildern, wer Joseph war. Denn zur Abmoderation kam Paul Mackay auf die Bühne und sagte: «Wenn das stimmt, was Gerald hier gerade gesagt hat, dann möchte ich nachträglich sagen: Willkommen, Joseph Beuys, im Goetheanum!»

Bald wird die Beuys-Jubiläumstagung das Goetheanum füllen. Versteht man auch die Individualisierung der Anthroposophie, die Beuys vorgelebt hat, heute besser?

Anthroposophie muss – wie die Kunst – im Menschen immer individuell und erst dadurch real werden. Nicht, was ich irgendwo gehört oder gelesen habe, zählt, sondern nur, was ich davon verstanden und in Fähigkeit und Tat verwandelt habe. Wir wissen das alle, aber wir realisieren es nicht immer. Und heute ist die Zeit vorbei, in der wir Nischen bevölkern und gestalten können. Heute geht es um das Ganze. Das fordert auch die Anthroposophie heraus. Sie gehört der Welt und nicht bestimmten Menschen. Sie lebt in jedem Menschen anders. Für mich war Joseph Beuys einer der markanten Anthroposophen des vergangenen Jahrhunderts. Damals wurde er ausgegrenzt und abgelehnt. Deshalb ist unsere Tagung im Juni ein Stück Wiedergutmachung.

Aber wir sind alle noch ein riesiges Stück entfernt davon, unsere Arbeit in der Radikalität, wie sie Joseph eigen war, wirklich in den Gesamtzusammenhang des Erden- und Menschheitsschicksals zu stellen. Also endlich nicht mehr Kommentierende, sondern Mitgestaltende des Zeitenschicksals zu sein.

Gerade jetzt, in der Pandemiesituation, da wir in alte, materialistische und autoritäre Verhaltens- und Denkgewohnheiten und Polarisierungen zurückfallen, können wir von Beuys lernen. Er hat nie gegen etwas gestanden, sondern vielmehr Samen gelegt für etwas, was aufgehen kann. Er konnte Teil des Spiels sein und es gleichzeitig grundlegend verwandeln.

Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Nürnberg am 27.9.1986: Gerald Häfner und Christa Nickels, IMAGE/JOKER

Beuys ist schon 1986 gestorben. Du bist 1987 in den Bundestag gezogen. Was ist der letzte Moment, der sich dir eingeprägt hat?

Die letzte physische Begegnung war wahrscheinlich bei der Tagung mit Michael Ende und ihm, die während meiner Zeit in Achberg auf Initiative von Rainer Rappmann stattfand. Mein letztes tiefes Bild, obwohl ich nicht physisch dabei war, ist die Rede, die er zur Verleihung des Lehmbruck-Preises hielt. Er war zu der Zeit sehr krank, konnte teilweise kaum sprechen. Doch für diesen Preis mobilisierte er letzte Kräfte. Er kam an jenem Tag aus dem Krankenhaus und hielt diese unglaubliche Rede. Zehn Tage später ist er gestorben. Diese Rede ist ein Kunstwerk. Da hat er seinen ganzen Weg erklärt. Er beginnt mit dem Dank an Wilhelm Lehmbruck und erzählt dann, wie er dessen Unterschrift unter dem Aufruf ‹An das deutsche Volk und an die Kulturwelt› von Rudolf Steiner entdeckte und so der Dreigliederung begegnete. Sein Ziel war das, was Lehmbruck im Stoff machte, in der Wärme zu machen. Kann man eine Plastik der Wärme schaffen? An dieser Frage habe ich unglaublich viel verstanden. Beuys endete damit, dass er jetzt die Flamme weitergäbe. Die Rede war sein Vermächtnis. Da hat jemand bewusst kurz vor dem Tod alles noch mal auf den Begriff gebracht und selbst in einer Wärmeplastik als Flamme weitergegeben. Das hat mich betroffen gemacht. Ich wusste: Auch ich muss und will diese Flamme weitertragen.

Print Friendly, PDF & Email
Weiter
Spielraum

Letzte Kommentare