Afghanistan zwischen den Klüften

20 Jahre dauert der Krieg der westlichen Allierten mit den Taliban in Afghanistan an. Nicht nur ist er in eine humanitäre Katastrophe gemündet. Der ‹Krieg gegen den Terror› ist ein Krieg der Gesinnungen. Unterschiedliche kulturelle Entwicklungen prallen aneinander ab. Demokratie und Aufklärung lassen sich nicht imperialistisch einsetzen. Sie entstehen aus einem Prozess. Der Blick zurück verdeutlicht die Verschiedenheit von Kulturen und wirft geisteswissenschaftlich die Frage auf, wie heute Aggression sich heilen lässt.


Wir haben es fassungslos über die Medien miterlebt: Nach dem Abzug der US-amerikanischen und der mit ihnen verbündeten Truppen anderer Länder aus Afghanistan wurde das Land zügig von den Taliban erobert, blitzschnell fiel auch die Hauptstadt Kabul in ihre Hände. Die vom Westen gestützte Regierung löste sich auf, die afghanische Armee, vom Westen geschult und ausgerüstet, kapitulierte kampflos. Vom tumultuarischen Geschehen auf dem Flughafen von Kabul erreichten uns erschütternde Bilder. Überrascht nimmt die Weltöffentlichkeit den siegreich-rasanten Zugriff zur Kenntnis. Ob es freilich in der Tat so überraschend war? Wie auch immer: Die Frage nach den größeren Zusammenhängen stellt sich. Was geht hier vor?

It’s the tribes, stupid

Vor einiger Zeit stieß ich auf die Thesen des amerikanischen Historikers und Romanciers Steven Pressfield aus dem Jahr 2009. Ihm zufolge ist der Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge in Afghanistan nicht der Islam, sondern Tribalismus, die Stammeskultur. Schon Alexander der Große war an ihr gescheitert. Der Islam existierte damals noch nicht. «It’s the tribes, stupid»1 betitelte Steven Pressfield seine fünf kurzen Videos – in Anlehnung an Bill Clintons Slogan: «It’s the economy, stupid». Den mentalen Eigenarten (‹mindset›) der Stammeskrieger – Kriegerehre, Herrschaft von Warlords, Unterordnung der Frauen, wechselnde Allianzen, fehlendes Nationalgefühl – könne man, so Pressfield, nur auf Grundlage einer einzigen Strategie wirksam entgegentreten: Westliche Armeeführer mit kleinen Eliteeinheiten übernehmen selber die Rolle von Warlords, bleiben in verstreuten Stützpunkten auf lange Zeit im Land und treten als konkurrierende Partner mit den einheimischen Stammesführern in Austausch. Als mutige Krieger respektiert, können sie die Einheimischen mit Geld- und Rüstungszuwendungen für Allianzen gegen radikale Gruppierungen gewinnen. Auf diese Weise, und auf diese Weise allein, sei der Terror, der in den Westen exportiert wird, einzudämmen. Der Aufbau eines Nationalstaats (‹nation building›) nach dem Vorbild westlicher Demokratien sei dagegen ein hoffnungsloses Unterfangen. Über Pressfields Lösungsvorschlag mag man debattieren, seine Diagnose leuchtet mir aber ein.

Grafik in Anlehung an die afghanische Webkunst. Adrien Jutard und Fabian Roschka

Stamm – Nation –  Staat

Stammeskulturen mit ihren komplexen, nicht schriftlich kodifizierten Gesetzen und Verhaltensregeln ähneln einander. Sie verbinden sich auch mit großen Weltreligionen. Deren Grundsätze werden, sofern die gewachsenen Stammesmentalitäten nicht überwunden werden, umgewertet. Der implizite Kodex von Ehrenmorden, Blutrache und Ähnlichem bleibt erhalten, obwohl die heiligen Schriften der Großreligionen derartige Sitten nicht gutheißen.2 Ihr humanes Ethos, in dem auch Reste früherer Stufen zu finden sind, wird zurückgebogen. Auch im Bereich des historischen Christentums war das lange der Fall, etwa im ländlichen Südeuropa bis in das 20. Jahrhundert hinein. Im postkolonialen Afrika geschieht Ähnliches – in christlich wie in islamisch geprägten Ländern gleichermaßen.

Bei genauerer Betrachtung scheint es sich um elementare Selbstbehauptungsimpulse zu handeln, eine frühe Stufe der Ich-Bildung, eingebettet in überschaubare, verwandtschaftlich verbundene Gruppierungen. Empfindungen dominieren. Man handelt aus unreflektierten, aber kollektiv geprägten Antrieben und Motiven. Erst die Herausbildung eines durchgreifenden Nationalgefühls über Stämme hinweg schafft die Grundlage für Staatlichkeit im heutigen Sinne. Die Impulse der Empfindungsseele wachsen hinein in Formen der Verstandesseele. Man lernt, mit abstrakten Gesetzen umzugehen. Verbunden damit tritt ein Grundambiente des Gemüts zutage, welches Zusammengehörigkeit stiftet – über regionale und tribale Bindungen hinweg. Es bildet sich im Ansatz ein mehr oder weniger straff organisierter Staat, der das Gewaltmonopol an sich bindet. Auf dem Weg dahin sind Übergangsformen häufig, oft sind es Militärregime wie in Ägypten. Der volle Prozess ist im Wesentlichen nur in Westeuropa und den angelsächsischen Ländern in Übersee weitgehend abgeschlossen.

In den islamischen Ländern ist alles noch im Werden. Deshalb bleibt es in vielen Ländern bei hybriden Formen, in denen sich Altes und Neues mischt. Korruption grassiert. Eine Zivilgesellschaft, die ihre Stimme geltend machen könnte, bildet sich nicht heraus. Mancherorts bricht Staatlichkeit fast vollständig zusammen. ‹Failing states› finden wir im Libanon und in Syrien. Palästinas missliche Lage und der dort erfolglose Freiheitskampf sind nicht allein dem israelischen Unwillen geschuldet, die Bildung eines lebensfähigen Staates zuzulassen, sondern nicht zuletzt den konstitutiven Verhältnissen der palästinensischen Gesellschaft selbst.

Bei genauerer Betrachtung scheint es sich um elementare Selbstbehauptungsimpulse zu handeln.

Wie sehr die Menschen in dieser verglichen mit dem Hindukusch weit moderneren Region jenen ‹mindset› noch in sich tragen, erlebte ich bei einem Gespräch mit einem Bekannten aus dem Südlibanon. Als deutscher Staatsbürger wählt er die SPD, für den Libanon sieht er in der militanten, bis auf die Zähne bewaffneten schiitisch-islamistischen Hisbollah eine legitime Vertretung seiner spezifischen Volksgruppe. Einmal fragte er mich, was ich von dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hielte. Ich machte aus meiner mangelnden Sympathie für Netanjahus Politik keinen Hehl. Er freilich verurteilte die Person als solche. Einen politischen Jongleur wie Netanjahu verachte er, seinem Vorgänger hingegen, dem Kämpfer und Soldaten Ariel Scharon – der knallhart im Libanon vorgegangen war, was mein Gesprächspartner als Kind hautnah zu spüren bekommen hatte – zolle er Respekt!

Verstand und Gemüt

Mir geht es wie den meisten Kommentatoren, die über das Problem des Scheiterns moderner Rechtsstaatlichkeit im Vorderen und Mittleren Osten nachdenken. Sofort kommt mir der Satz in den Sinn: Es fehlt ‹Aufklärung› – der ‹mindset› des Westens. Rede- und Pressefreiheit, individuelle Lebensgestaltung, Gleichheit der Geschlechter, Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz, Trennung von Religion und Staat werden heute im Westen als natürlich erlebt. Im Nahen und Mittleren Osten kommen diese Ergebnisse der europäischen Aufklärung nur schwer zum Zug. Ist es der Islam, der das verhindert? Mir scheint jedes endgültige Urteil in diese Richtung voreilig zu sein. In der Blütezeit arabischer Kulturdominanz zur Zeit des Mittelalters entstand eine Art Frühaufklärung, wo Verstandeskräfte das philosophische Erbe des antiken Griechenlands assimilierten. Und schon der ursprüngliche Islam des Koran und die von Nachfolgern Muhammads entwickelten Rechtsverordnungen der Scharia sind Keime einer sich bildenden Verstandeskultur. Als Glaubenshaltung bildete der Islam auch Gemütskräfte aus, was größeren Gruppierungen – über Stämme und Clans hinaus – eine Art Gemeinsamkeit bietet. Und die Keime der Bewusstseinsseele? Heißt es nicht im Koran, Sure 50: «Gott ist dir näher als die eigene Halsschlagader»? «Dir», das heißt: dem einzelnen Menschen, nicht dem Mullah, dem Kalifen oder gar dem Kollektiv.

In der Blütezeit arabischer Kultur­dominanz zur Zeit des Mittelalters entstand eine Art Frühaufklärung, wo Verstandeskräfte das philosophische Erbe des antiken Griechenlands assimilierten.

Die islamisch geprägten Kulturen überwanden ihre tribalen Bindungen bisher nicht ganz. Es bildeten sich auch keine Nationalstaaten, sondern Kalifate, die heterogene Volksgruppen lose zusammenhielten, wie zuletzt im Osmanischen Reich. Nach dessen Zerfall sind zuerst in der Türkei, dann, nach dem Ende des Kolonialismus, autoritäre Regime mit säkularem Profil und Nationalstaatsbestrebungen nach westlichem Muster entstanden. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden diese dann von fundamentalistischen religiösen Gruppierungen bedrängt, in manchen Regionen sogar verdrängt. Gemäßigte konservativ-islamische Parteien nach christlich-demokratischem Vorbild bleiben die Ausnahme. In der Türkei kippte die AKP Erdogans ins Autoritäre, die Ennahda-Partei in Tunesien scheint in Bedrängnis zu sein. Der ‹Arabische Frühling› erfuhr nach 2010 herbe Rückschläge. Schwere Geburten! Und Fehlgeburten.

Unfertige Aufklärung – von Mars zu Merkur

Was macht den politischen Islam so attraktiv? Die Antwort scheint klar: Die säkularistischen Regime in jenen Ländern – keine Demokratien, eher Kleptokratien – haben zwar Anfänge eines Nationalgefühls hervorgebracht, das freilich prekär bleibt. Die sozialen, auch die wirtschaftlichen Verhältnisse liegen weitgehend im Argen. In dieser instabilen politisch-gesellschaftlichen Landschaft mobilisiert der Rückgriff auf den Islam tatsächlich Ordnungskräfte. Nur werden zurzeit seine egalitären Kräfte zur Grundlegung eines eigenen Wegs zu Rechtsstaat und Menschenrechten zu wenig sichtbar.3 Der arabische Säkularismus entpuppt sich als ordnungspolitische Sackgasse. Der Islam bietet besseren Zusammenhalt und von der Tradition akkreditierte Regeln an. Eine Religion als konstitutives Element? Nun ja, auch bei uns war es die religiöse Tradition, die im Vorlauf den Boden bereitet hat, auf dem sich die Moderne entwickeln konnte. Die Werte der aufgeklärten Humanität sind aus dem Christentum heraus entstanden, mussten erst der autoritären klerikalen Bevormundung entrissen, ihrer theologischen Ausdrucksform entkleidet und der freien Bürgerin, dem freien Bürger übergeben werden.

Eine weitere Frage schließt sich an: Warum scheiterte bislang das westliche Modell von Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit als Modell in diesen Ländern? Zunächst deshalb, weil es eben auf andersartigem religiös-kulturellem Boden gewachsen ist. Eigenes muss gefunden werden. Dann wegen des Spannungsgefälles zwischen dem säkularisierten Westen und den tribalistisch gefärbten islamischen Gesellschaften. Der gewichtigste Grund schließlich ist zweifellos dieser: Der Westen selbst ist in einer offensichtlichen Krise, die ihm schwer zu schaffen macht. Seine internen Widersprüche und sein unausgereifter Umgang damit untergraben die Glaubwürdigkeit seines Gesellschaftsmodells.

Auch unsere politisch-gesellschaftliche Situation ist hybrid. Auch sie transportiert Altes im Neuen mit. Hier sind es Strukturen und Wirkungen der Verstandes- oder der Gemütsseele, die zwar mit Elementen der Bewusstseinsseele durchsetzt sind, aber zunehmend ohne Beteiligung des Ich, ohne Einsatz des freien Willens, ohne Eingriffsmöglichkeiten der individuellen Initiative ablaufen: im mechanistisch-bürokratischen Staatsapparat, in den computergesteuerten Geldflüssen, in der manisch aufgepeitschten Fortschrittsideologie, in der Dominanz reduktionistischer Wissenschaftsmethoden, in der Macht anonymer Konzerne und vielem mehr. All dies ist aufgeladen mit aggressiven Energien. Es sind Marskräfte, die in Verstandes- und Gemütsseele weiterwirkenden Selbstbehauptungsimpulse, die aber begonnen haben, sich destruktiv gegen den Menschen zu kehren. Stück für Stück wird dem Einzelnen, aber auch den Kollektiven der heilende Zugriff erschwert. Die Diskrepanz zwischen der Werte- und Menschenrechtsrhetorik des aufgeklärten Westens und den realen Auswirkungen westlichen Handelns wird allenthalben wahrgenommen.

Der Westen selbst ist in einer Krise, die ihm schwer zu schaffen macht. Seine internen Widersprüche und sein unausgereifter Umgang damit untergraben die Glaubwürdigkeit seines Gesellschafts­modells.

Es wäre, wie ich glaube, wichtig, Folgendes zu bedenken: Aufklärung im eigentlichen Sinn ist nicht die bloße Vorherrschaft des Verstands, sondern die Forderung, diesen in den Dienst des individuellen Menschen zu stellen: der Entschluss und der Mut, sich der eigenen Urteilskraft selbständig zu bedienen.4 Damit ist die Signatur westlicher Eigenart gekennzeichnet. Sie ist ein epochaler Einschlag der Bewusstseinsseele, aber sie ist unfertig. Mental und gesellschaftlich hat eine Mehrheit westlich geprägter Menschen die liberalen, aufgeklärten Einstellungen als dominanter ‹mindset› erst nach dem Zweiten Weltkrieg assimiliert. Wie nachhaltig, muss sich allerdings noch zeigen: Die verstörend-irrationalen Reaktionen im Zuge der aktuellen Pandemie oder die erschütternden Bilder von der Erstürmung des Capitols anlässlich der Amtsübernahme durch den neuen Präsidenten der USA werfen schwerwiegende Fragen auf.

Ich bin kein Freund überzogener Selbstbezichtigungen des Westens. Aber wir müssen in erster Linie versuchen, unsere ureigenen, zum Teil gravierenden Unzulänglichkeiten in den Blick zu bekommen und sie zu reparieren. Das bedeutet: eine Überwindung der Marskräfte in Richtung eines merkurialen Elements des Austauschs und des Verbindens, ja des Heilens im Großen wie im Kleinen, im globalen Handeln wie im Alltagsleben. Es sind wachsende Qualitäten der Bewusstseinsseele.5 Sie sind schon da, entwickeln sich aber nur allmählich. Noch können sie die egogesteuerten Selbstbehauptungstendenzen nicht völlig ersetzen. Auch Gruppen und Personen dürfen und müssen sich schützen. Eine ‹wehrhafte Demokratie› sollte aber wirklich wehrhaft sein, ob in der Auseinandersetzung mit destruktiven Demagogen im Innern oder mit Aggressoren von außen. Dilettantismus, Fehlkalkulationen und Ineffizienz müssen ihren Feinden nicht nur weitere Vorteile verschaffen, sondern – wie wir in den jüngsten Ereignissen gesehen haben – die eigene Glaubwürdigkeit zusätzlich untergraben. Eine ‹wahrhafte Demokratie› muss lernen, Mars in energischer Kombination mit Merkur einzusetzen.

Keine einfache Aufgabe. Denn die Selbstbehauptungskräfte sowohl der Empfindungs- als auch der Verstandes- oder der Gemütsseele entfalten sich instinktiv. Die neuen Qualitäten der fortschreitenden Bewusstseinsseele dagegen müssen bewusst ausgebildet und gepflegt werden. Die nächsten Jahre dürften ausschlaggebend sein, wie gut oder wie schlecht das gelingen wird.

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. https://www.youtube.com/watch?v=ioCcO3_k6v0.
  2. Die als ‹alttestamentarische› Vergeltungsethik oft verschriene Formel ‹Auge für Auge, Zahn für Zahn› (2. Mose 21,24) ist nach rabbinischer Auslegung eine Metapher für die Auferlegung von Entschädigungszahlungen bei zugefügten leiblichen oder materiellen Schäden. Eine buchstäbliche Anwendung ist in der Tat nicht dokumentiert.
  3. Es gibt auch einen egalitären Zug im Islam. Die ersten Kalifen wurden von den Weggenossen Muhammads gewählt. Sogar ein theokratisches Regime wie im Iran kann sich mit egalitären Elementen verbinden und eine ‹Islamische Republik› etablieren.
  4. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?
  5.  Der Übergang von Mars zu Merkur wird in frühen Vorträgen Rudolf Steiners als wichtiges Evolutionsprinzip geschildert: «Man muss sich dabei nur ganz klar sein, dass esoterisch die Erde durch die beiden Planeten Mars und Merkur zu ersetzen ist. Es steht nämlich die erste Hälfte der Erdentwickelung […] mit dem Mars, die zweite Hälfte […] mit dem Merkur in einem esoterischen Verhältnis.» (GA 89, S. 73) «Durch die Marskräfte erfährt die Empfindungsseele (Astralkörper) eine Auffrischung. Sie wird zu dem, was in meiner ‹Theosophie› Verstandesseele genannt wird. Durch die vom Merkur geholten Kräfte wird diese Verstandesseele wieder so aufgefrischt, dass sie bei ihrer eigenen Evolutionsstufe nicht stehen bleibt, sondern sich zur Bewusstseinsseele aufschließt.» (GA 89, S. 74)

Letzte Kommentare