Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal bewusst dem Satz «Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist»1 begegnete, war das wie ein Blitzeinschlag. Er ließ aufhorchen. Mein bisheriges Verständnis des Ich wurde augenblicklich erschüttert, in Bewegung versetzt. Ich wurde aufmerksam darauf, dass ich tendenziell von einem zentralen Ich-Verständnis ausgegangen bin.
Das Ich als Zentrum, von dem aus sich der Blick auf die Welt richtet, von dem aus Empfindungen an Eindrücken gebildet werden und von dem Gefühle und Willensimpulse ausgehen. Nun wurde diese zentrierte Ich-Geste umgekehrt: Mir wurde bewusst, auch wenn ich das mehr träumend bereits ahnte: ‹Ich› ist nicht nur, was ich als Erleben der Welt in mir reflektiere, denn auch da gehe ich noch von meinen Gefühlen, Urteilen und Erinnerungen aus. Die Ich-Erfahrung ist auch mehr als das, was ich an den Eindrücken, die mir zukommen, verarbeite oder was ich als Handelnde in die Welt eingreifend gestalte. Nein, es gibt vielmehr die Gegenbewegung: Mein Ich erhält sein Wesen, und das meint seine fundamentale Bestimmung und sein Sein, durch alles, womit ich mich verbinde. Doch kann ich meine Aufmerksamkeit auch von meinem Ich als Tätigkeitszentrum weg auf die Seite der Wirkungen richten, die mir sowohl aus meinem Inneren wie aus der Welt zukommen. Dann kann ich erleben, wie mein Ich durch alles, was mir begegnet, in mir aufsteigt und vor allem auch von außen auf mich einwirkt, geformt und gebildet wird. Bemerke ich dies, dann tut sich ein neues Feld der Wahrnehmung auf. Der Blick fällt auf dasjenige, womit ich verbunden bin und mich künftig verbinden werde. Doch wohin schaue ich? Alles, was mir begegnet, in meinem Inneren aufsteigt, färbt gleichsam auf mein Ich ab, formt mich, wird Teil meines Wesens. Damit rückt die Frage in den Vordergrund: Womit bin ich denn gegenwärtig verbunden, was wirkt auf meine Ich-Wesenheit ein? Hier tut sich ein weites Spektrum auf, das meine Innenwelt und die äußere Welt ausmacht. Ich kann durch meine leiblichen Bedürfnisse zu Gefühlen und Handlungen angeregt werden. Dann treten mir Menschen, Dinge und Vorgänge in der Welt entgegen: das zarte Morgenrot, das ich an manchen Tagen als Erstes nach dem Aufwachen wahrnehme, oder die Begegnung mit einem Menschen. Eine vielschichtige Welt entfaltet sich.
Doch nun kann ich eine Entdeckung machen, die fundamental ist: Anders als Gefühle und Willensimpulse zeigt sich mein Denken. Es steht mir als eine Kraft zur Verfügung, die sich sowohl mit der äußeren Welt als auch mit meiner Innenwelt verbindet und mir meine Erlebnisse aufschließt. Durch das Denken finde ich auch die Kraft, meinen persönlich gefärbten Horizont zu erweitern, über mich hinauszuwachsen, andere Standpunkte und Gesichtspunkte einzunehmen. Es gibt mir die Kraft, mich zurückzunehmen oder mich bewusst mit einer Wahrheit, die ich als solche erkannt habe, zu verbinden. Die Kraft des Denkens, die mich mit den Quellen der Wahrheit, also dem Bereich des Geistes, verbindet, macht dieses zu einem einzigartigen Instrument. Es ist der Mittler, der mich mit allen Sphären meines Wesens verbindet und damit die Urtätigkeit des Ich ausmacht.
Kontext
Das Ich wird in dem Kapitel ‹Das Wesen des Menschen› im Abschnitt ‹4. Leib, Seele und Geist› mit dem sprechenden Satz eingeführt: «Der Mensch kann sich in richtiger Art nur über sich aufklären, wenn er sich die Bedeutung des Denkens innerhalb seiner Wesenheit klarmacht.»2 Rudolf Steiner entwickelt dann, wie das Gehirn die leibliche Grundlage des Denkens ist und wie der gesamte Leib des Menschen so gebildet ist, dass er «im Gehirn seine Krönung findet». Dabei bleibt die Betrachtung jedoch nicht stehen, denn die Funktion des Gehirns besteht darin, «die leibliche Grundlage des denkenden Geistes»3 zur Verfügung zu stellen. Das Gehirn ist also nicht der Hervorbringer von Gedanken oder Ideen, sondern es ist lediglich die leibliche Grundlage, mittels der sich geistige Tätigkeit ereignet. Von dort ausgehend werden die «lebenerfüllte Geistgestalt»4, die Empfindungsseele, die Verstandesseele sowie als drittes Seelenglied die Bewusstseinsseele in einer differenzierten Betrachtung dargestellt. Dabei wird die Rolle des Denkens im Verhältnis zu den drei Gliedern Leib, Seele und Geist erkundet. In der Beschreibung der Bewusstseinsseele heißt es: «Indem der Mensch das selbstständige Wahre und Gute in seinem Innern aufleben lässt, erhebt er sich über die bloße Empfindungsseele. Der ewige Geist scheint in diese herein. Ein Licht geht in ihr auf, das unvergänglich ist. Sofern die Seele in diesem Lichte lebt, ist sie eines Ewigen teilhaftig. Sie verbindet mit ihm ihr Dasein. Was die Seele als Wahres und Gutes in sich trägt, ist unsterblich in ihr. – Das, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet, sei hier Bewusstseinsseele genannt.»5 In dieser Passage ist die Bildlichkeit als Lichtwirkung wesentlich. Das Licht ist die Brücke vom Zeitlichen ins Ewige. Mit diesem dritten Seelenglied wird die Möglichkeit der Erweiterung der Seele gleichsam von oben her durch den Geist geschildert.
Hier schließt sich nun der Abschnitt über das Ich an, das als «Mittelpunkt der Seele» bezeichnet wird. Rudolf Steiner führt das Ich mit einem Erlebnis ein, das der Dichter Jean Paul in seiner Lebensbeschreibung erzählt. Die Stelle ist insofern eindrücklich, als dass Paul das Erlebnis des «Ich bin ein Ich» als einen Blitzstrahl vom Himmel beschreibt und dies mit den Worten reflektiert: «Da hatte mein Ich zum ersten Mal sich selber gesehen und auf ewig.»6 Wir können hier bemerken, dass wir das Ich auf zweierlei Weise erfahren können: einmal als unmittelbares Innenerlebnis und zweitens als den Prozess einer Selbstwahrnehmung, die wir im Nachhinein beobachten können. In diesem Prozess sind Erkennen und Erkanntes eins und das ist einmalig. Über das Ich heißt es weiter: «Das ‹Ich› bleibt als die eigentliche Wesenheit des Menschen ganz unsichtbar. Treffend nennt Jean Paul das Gewahrwerden des Ich eine ‹bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit›. Denn mit seinem ‹Ich› ist der Mensch ganz allein. – Und dieses ‹Ich› ist der Mensch selbst. Das berechtigt ihn, dieses ‹Ich› als seine wahre Wesenheit anzusehen.»7 Soweit ein kleiner Einblick in den thematischen Umkreis des ausgewählten Satzes.
Historisches Umfeld
Rudolf Steiner war seit seiner Wiener Zeit mit Theosophen und Theosophinnen wie Friedrich Eckstein und dem Kreis um Marie Lang befreundet, hegte aber dennoch Skepsis gegen die Theosophie und schrieb im Laufe der Jahre auch einige kritische Rezensionen und Artikel.8 Als er anlässlich des Todes von Friedrich Nietzsche in die Theosophische Bibliothek in Berlin zu einem Gedenkvortrag eingeladen wurde, bemerkte er, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer großes Interesse für die Geistwelt hatten. Das führte zu einer weiteren Einladung, bei der er über Goethes ‹Märchen› sprach. Bald darauf wurde er gebeten, zwei Vortragszyklen zu halten: 1901 über ‹Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung›9 und 1902 ‹Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums›10. Beide Zyklen wurden später auch als Bücher veröffentlicht. 1902 wurde Rudolf Steiner dann zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft ernannt. Die Vermutung, dass Steiner mit den genannten Werken eine biografische Wende vollzogen habe, entspringt einer oberflächlichen Kenntnis. In einem Brief aus dem Jahr 1903 schreibt er dazu: «Ich kann ihnen nur sagen: es ist dieselbe Erfahrungsart, die mich die Wahrheit in der Wissenschaft, und dieselbe, die mich die mystische Tatsache im Christentum gelehrt hat. Wer mich genauer kennt, der weiß auch, dass ich mich in meinem Leben nicht sonderlich verändert habe.»11 Das 1904 veröffentlichte Werk ‹Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung› ist eine erste systematische Betrachtung, die das Wesen des Menschen in seiner physischen, seelischen und geistigen Wesenheit und die drei Welten, die diesen Wesensschichten zugrunde liegen, darstellt. Rudolf Steiner knüpft mit diesem Buch methodisch an die ‹Philosophie der Freiheit› an. Seine Darstellung bezieht sich auf Goethe und Fichte und fußt auch methodisch auf der Philosophie des deutschen Idealismus. In der ersten Auflage knüpft er terminologisch noch an theosophisches Gedankengut an, was dann jedoch in den folgenden Auflagen immer mehr zurückgenommen wird, zugunsten einer eigenständigen Darstellung.
Veranstaltung
‹Rudolf Steiner lesen und verstehen›. Studientagung der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, vom 1.–4. Mai 2025 mit Andre Bartoniczek, Anna-Katharina Dehmelt, Ariane Eichenberg, Volker Frankfurt, Eckart Förster, Christiane Haid, Jaap Sijmons und Renatus Ziegler.
Mehr Infos Sektion für Schöne Wissenschaften
Fußnoten
- Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9, Dornach 1987, S. 50.
- Ebd. S. 33.
- Ebd. S. 33.
- Ebd. S. 37.
- Ebd. S. 46.
- Ebd. S. 48.
- Alle Zitate: Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9.
- Siehe dazu genauer das sehr empfehlenswerte Buch: Robin Schmidt, Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie. Dornach 2010.
- Rudolf Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung. GA 7, Dornach 1993.
- Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums. GA 8, Dornach 1990.
- Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. GA 28, Basel 2011.