Im Märchen in diesem ‹Goetheanum› ist von drei Brüdern mit Namen ‹Glaube›, ‹Liebe› und ‹Hoffnung› die Rede. Bei Namen lohnt es sich, nach dem Woher zu fragen. Die Spurensuche führt zum ‹Hohelied der Liebe› von Paulus. Er fasst als Erster die drei christlichen Tugenden zusammen. Von Paulus führt der Weg zu Platon. Denn die drei christlichen Tugenden galten als des Himmels Antwort zu den von Platon beschriebenen vier menschlichen Tugenden in der ‹politeia›: Gerechtigkeit, (dikaiosýne), Besonnenheit (sophrosýne), Tapferkeit (andreia) und Klugheit (phronesis oder sophia). Hier fällt es nicht schwer, in den vieren uns Menschen wiederzufinden. Gerechtigkeit ist eine Sache des Leibes, Besonnenheit eine des Lebens, Tapferkeit eine der Seele und Weisheit eine des Geistes.
Weiter im Weg: Wo sah Platon die vier Tugenden? Wo ist der mythische Quell? Wohl bei Aischylos. In seinem Theaterstück ‹Sieben gegen Theben› ist einer der sieben Helden der Kinderfreund und Hellseher Amphiaraos. Mit sechs weiteren Freunden zieht dieser nach Theben, um die Stadt für seinen Freund und König Polyneikes zu befreien. Aischylos spricht Amphiaraos die vier Tugenden zu – er sei verständig, gerecht, fromm und tapfer. So wie diese Tugenden durch die Weltliteratur ziehen, zeigt sich auch die Geschichte von Aischylos im modernen filmischen Gewandt, als ‹Die sieben Samurai› des Filmemachers Akira Kurosawa oder ‹Die glorreichen Sieben› von John Sturges. Immer geht es darum, im Bund der sieben ein Unrecht zu vertreiben, und immer gelingt es, weil die sieben so verschieden sie sind, sich einen. Gemeinschaft in der Vielfalt siegt, das ist hier die Botschaft, seit Aischylos. Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier rät, weniger auf den gleich ablaufenden Kampf zu schauen als vielmehr darauf, wie die sieben sich finden, hier sei die Goldader. Wenn es um Tugend geht, so rät der Mythos zweierlei: Er verortet ihren Ursprung beim Seher und Kinderfreund und ihre Entfaltung in der Verschiedenheit von uns Menschen. Tugend entspringt dem Sehen und siegt aus menschlicher Vielfalt.
Bild Proben des Theater-Projektes ‹Frage! Begegne! Spiele!›. Foto: Mahdi Hosseingholi