Zur Wortbrüchigkeitslegende

Zuschrift zum Interview mit Gerald Häfner im ‹Goetheanum› 8/22.


«Eine entscheidende Frage war, ob die Sowjetunion – vertreten durch Michail Gorbatschow – ihre Zustimmung zur Einheit Deutschlands geben würde, sodass, was bisher Aufmarschgebiet des Ostens war, also die DDR, künftig Teil der Bundesrepublik Deutschland würde. Die Zustimmung wurde erteilt unter der Bedingung, dass die NATO, also das westliche Militärbündnis, nicht weiter nach Osten vorrückt. Das ist damals so besprochen, aber nicht schriftlich fixiert worden. Teilnehmende beider Seiten haben das bestätigt. Diese Zusage aber ist gebrochen worden.»1

Diese ‹Bedingung› hat es nie gegeben. Somit konnte sie auch nicht gebrochen werden. Das stellt der Historiker Ignaz Lozo, der mit allen wichtigen Akteuren der Verhandlungen 1990 sprach, in einem Interview mit der ‹Welt› vom 26.2.2022 fest. Lozo: «Gorbatschow wollte die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands ursprünglich verhindern, musste sich aber letztlich der KSZE-Schlussakte beugen, die die Sowjetunion ja selbst unterschrieben hatte. Die Akte gibt jedem Land das Recht, sein Bündnis frei zu wählen. Energisch bestreitet er Unterstellungen, er sei bei der NATO-Osterweiterung betrogen worden. Das liege auch daran, dass es keine eingeschränkte Souveränität eines Staates geben könne, wie er sagte.» Dass sich «zahlreiche Befugte und Unbefugte in Ost und West» in der Orientierungsphase (die Lozo auch Desorientierungsphase nennt) nach dem Mauerfall zu Wort meldeten, ist unstrittig. Er betont, dass «erste Gehversuche auf politischem Neuland» z. B. vom damaligen deutschen Außenminister Genscher und seinem US-Pendant Baker «null Relevanz bezüglich der Verbindlichkeit» hatten.

Boris Jelzin sagte am 25.8.1993 bei seinem Besuch in Warschau hinsichtlich eines NATO-Beitritts Polens: «Die Zeiten sind vorbei, als die Russen nach Warschau reisten, um den Polen Vorschriften zu machen.» Für die Zeit nach der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte 1997 weist der Historiker Lozo auf die weltberühmten Aufnahmen hin, bei denen Jelzin den NATO-Generalsekretär küsste und bemerkte: «Es war die NATO, die damals neue Beitritte verzögerte.» Auch Putin war mit der Gründung des NATO-Russland-Rates im Jahre 2002 auf Kooperationskurs. Wladimir Putin am 17.5.2002 in Sotschi: «Russland befindet sich, wie Sie wissen, in einem sehr konstruktiven Dialog mit der NATO […]. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ukraine die Prozesse der Ausweitung der Interaktion mit der NATO und den westlichen Alliierten insgesamt nicht scheuen wird. Die Ukraine hat ihre eigenen Beziehungen zur NATO; es gibt den Ukraine-NATO-Rat. Die Entscheidung soll am Ende von der NATO und der Ukraine getroffen werden. Es ist Sache dieser beiden Partner […].»2 Lozo sieht die Stimmung spätestens 2008 kippen, als der scheidende Präsident Georg W. Bush bei seinem letzten NATO-Gipfel in Bukarest «brachial der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive eröffnete – gegen den Willen Frankreichs und Deutschlands! Erst ab da begann Russland mit der Wortbrüchigkeitslegende gegenüber dem Westen, 2014 dann massiv bei der Annexion der Krim.» Am 3.4.2008 meinte der ‹Spiegel›, der auch das Wort ‹brachial› diesbezüglich nutzte: «Was Bush geritten hat, können die europäischen Diplomaten bisher nur erahnen. Eine beliebte Theorie lautet, Bush agiere wie ein Getriebener seiner ganz eigenen Mission, der Verbreitung von Demokratie und Coca-Cola in Teilen der einstigen Sowjetunion.»

Gorbatschow hatte Wladimir Putin jahrelang in Schutz genommen. Beim Petersburger Dialog 2007 in Wiesbaden verkündete Gorbatschow, Putin mache «einen sehr ordentlichen Job» und habe «die richtigen Schlussfolgerungen gezogen». So der ‹Spiegel›, der am 10.2.2012 auch aus einer Rede Gorbatschows an einer Moskauer Universität berichtet: «Putin hat viel für das Land geleistet, nun aber hat er sein Potenzial erschöpft. Wenn er sich nicht selbst überwindet und die Dinge wie sie sind verändert, dann wird alles auf den Plätzen der Städte enden», so Gorbatschow damals, der dann vor einer Eskalation der damaligen Massendemonstrationen gegen den Kreml warnte.

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Footnotes

  1. Gerald Häfner in ‹Nie wieder Krieg! – Für ein Europa jenseits der Mächte›, in: ‹Goetheanum› 8/22.
  2. http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/21598

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