Wirtschaft ist ein Werkzeug

Seit 100 Jahren stellt dieses Unternehmen Produkte aus Bienenwachs her. Von Kerzen zu Malstiften, über Aquarellfarben und Knetbienenwachs kennt die Waldorfwelt die Produkte der Firma Stockmar. Ihr Logo ist ein buntes Sechseck mit einem bunten Dreieck in der Mitte. Zum Jubiläum schaute die Wochenschrift bei einem der ältesten anthroposophischen Unternehmen in Schleswig-Holstein vorbei.


Ist das schon der Meereswind, den man spürt, wenn man in Kaltenkirchen Süd aus der kleinen Bimmelbahn aussteigt, die einen von Hamburg in gut 40 Minuten hier rausbringt? Im Industriegebiet zwischen Biogroßhandel und Autoschrauberei steht seit 1982 das Gebäude, dessen Grundriss eine Bienenwabe ist. Nicht groß, keine Fabrik, wie man es sich vielleicht vorstellt, wenn man weiß, dass Stockmar seine Produkte in 60 Länder weltweit liefert und einen Jahresumsatz von ca. 4 Millionen Euro macht. Und noch unglaublicher, dass das alles 30 Mitarbeitende schaffen. 19 davon in der Produktion und 11 in der Verwaltung. Es ist irgendwie gemütlich, überschaubar. An der Schautafel im Gang neben dem Pausenraum ist in bunter Kreide mein Besuch angekündigt, sodass alle Bescheid wissen und einbezogen sind. Außerdem steht da noch, dass nächste Woche die dritte Klasse der Waldorfschule Wandsbek zu Besuch kommt. Und wer von den Mitarbeitenden diese Woche die Anteile der Gemüsekiste erhält, die vom Kattendorfer Hof kommt. Inke Kruse, seit viereinhalb Jahren Geschäftsführerin bei Stockmar, hat ihre vier Monate alte Tochter dabei. Ihre Erstgeborene hatte sie auch schon dabei. Die Mitarbeitenden sind es also mittlerweile gewöhnt. Sie versteht diesen Spagat zwischen Geschäftsführung und Muttersein als Einladung für eine Zukunft, in der der Einzelne spürt, was er wie handhaben will zwischen Arbeit und Privat. Dann braucht es das Gespräch mit der Organisationsleitung, um nach Umsetzungsmöglichkeiten zu schauen. «Den Privatmenschen in uns vernachlässigen zu wollen, ist nicht nachhaltig. Das gilt auch für Geschäftsführerinnen», sagt Inke Kruse. Schon das zweite Mal hat das Unternehmen eine Gemeinwohlökonomie-Bilanzierung durchführen lassen. Darin spielen genau auch solche Aspekte eine Rolle. Inke Kruse hat einige ihrer Aufgaben derzeit an Kolleginnen und Kollegen verteilt. «Der Großteil meiner Arbeit ist kommunikative Beziehungsarbeit», sagt sie und versucht, diesen Part trotz und mit Kind weiter zu pflegen. Sie kennt jeden Mitarbeitenden beim Vornamen und spricht sie oder ihn auch so an. Den Lohn gibt es hier am Anfang des Monats. Regelmäßig besteht das Angebot, gemeinsam künstlerisch aktiv zu werden. Betriebsausflüge werden regelmäßig veranstaltet. Und zum diesjährigen 100. Geburtstag, der am 20. Mai 2022 mit 180 Freunden und Partnerinnen gefeiert wurde – am ‹Welttag der Biene› –, hat sich das Unternehmen einen Bienengarten geschenkt. Phazelia, Lavendel, Kräuter und in der Mitte ein Oloid auf einem Metallsockel. Es ist eine gute Ergänzung zu den Vogelhäuschen, die im Winter bestückt werden.

© Enno Kapitza.

Sinn und Sinnlichkeit

In jeder Waldorfschule auf der Welt gibt es diese Wachsblöckchen. Erhältlich in 32 verschiedenen Farben. Auch die Stifte sind sehr verbreitet. Knetbienenwachs zum Modellieren oder Wabenplatten zum Basteln kennen wir in Europa zumindest ebenfalls von unseren Kindern aus der Schule. Der begeisterte Anthroposoph und Gründer des Unternehmens, Hans Stockmar, hatte 1922 in Kaltenkirchen eine Wachsschmelze eröffnet, in der Kerzen und Wabenplatten als Imkereibedarf hergestellt wurden. Sein Sohn Heimdal gab in den 1930er-Jahren den entscheidenden Impuls zur Wandlung in die Kreativproduktbranche. Er arbeitete an der Wandsbeker Waldorfschule und suchte nach hochwertigen kreativen Materialen. Sein Bruder Anselm, seit dieser Zeit die Geschäftsführung innehabend, gab den zweiten wichtigen Impuls, der Stockmar zu dem gemacht hat, was es heute ist. Er veranlasste 1979, das Unternehmen aus seiner Privatheit zu lösen und der Neuguss Verwaltungsgesellschaft anzugliedern. Dadurch konnte die Firma sich zu einer eigenständigen Wesenheit entwickeln, der heute alle Mitarbeitenden dienen, so empfindet es Inke Kruse. Wenn alle Betriebskosten wie Löhne, Rohstoffe, Verpackungen bestritten sind, wenn die Summen, welche die Firma jedes Jahr in eigene Projekte spendet, abgerechnet sind, wenn die Mitarbeitendenbeteiligung am Gewinn ausgezahlt ist, geht der Rest des Gewinns zu 100 Prozent in die Neuguss. Konkret heißt das, es kann sich keine Person privat an den Gewinnen des Unternehmens bereichern. Neuguss sichert ab, dass der Betrieb nicht verkauft werden kann. Das gibt den Freiraum, mit dem Ideal zu arbeiten, gesamtgesellschaftlich wirksam zu werden. Diese Wirksamkeit liegt auch in der Qualität der Produkte und im Umgang mit den Mitarbeitenden und Partnerinnen des Unternehmens, also in der Art, wie man hier arbeitet. Stockmar ist eine Manufaktur. Jedes Wachsblöckchen wandert durch mehrere Hände. Das ist ein Qualitätsmerkmal.

Inke Kruse © Enno Kapitza

Womöglich spürt man diese vielen Hände, die wiederum selbst spüren können müssen. Heute werden die Farben Gelb, Grün, Weiß und Silber gegossen. Jan fühlt die Temperatur der Maschine, in die das flüssige Wachs eingefüllt wird. Er erzählt, dass jedes Farbpigment anders mit dem Wachs reagiert und eine andere Zeit zum Kühlen braucht. Auch reagiert jede der sieben Maschinen anders. Die eine möchte immer noch einen kleinen ‹Hochheizer-Schub›, bevor sie gut arbeiten kann. Die andere ruckelt immer etwas. In Metallformen gegossen, von kaltem Wasser umspült, warten die gelben Blöckchen noch darauf, aus ihren Formen genommen zu werden, während Jan die grünen schon anfassen kann. Er sieht, welche Makel haben, und sortiert aus. Die guten werden gestapelt und kommen in die Verpackungsabteilung. Im ganzen Kreislauf gibt es keine B-Ware, denn die ‹B-Blöckchen› werden wieder eingeschmolzen. Bei den goldenen wird besonders deutlich, womit wir es hier grundsätzlich zu tun haben: mit flüssigem Gold. Wie kleine Goldbarren sehen sie aus, entstammen aber der Veredelung eines Naturproduktes durch den Menschen. Entstanden zwischen Wärme- und Kälteprozessen, in einer Manufaktur, die diese Qualitäten auch versucht, im sozialen und gesamtgesellschaftlichen Miteinander wirksam werden zu lassen. Hier kann niemand arbeiten, der nur eine Maschine bedienen will. Hier braucht man seine Sinne. Draußen vor der Schmelzabteilung stehen die großen Tanks, in denen permanent das Wachs, die Grundlage, flüssig gehalten wird durch Wärmeschlaufen und einen verwirbelnden Oloid. Seit dieser arbeitet, stellen die Mitarbeitenden in der Schmelze fest, ist das Wachs besser, brennt nicht mehr so schnell an, ist irgendwie geschmeidiger. Die Firma ‹Oloid Solutions› ist übrigens eine Schwester von Stockmar Farben, denn auch sie ist eine der sieben Töchter der Neuguss-Gruppe.

Zentrum

Neben der Schmelze liegt der Raum, in dem die Aquarellfarben hergestellt werden. Dort riecht es wie in einem Waldorfklassenzimmer, wenn Nass in Nass gemalt wird. Olaf, der seit 22 Jahren hier die Hoheit hat, sagt, das ist das Gummi arabicum, die Grundsubstanz für die flüssigen Farben. Olaf ist ursprünglich Konditor gewesen, auch ein Beruf, in dem es Wahrnehmungsfähigkeiten braucht oder eben Menschen mit Herz, Kopf und Hand. Ob er der Farben manchmal überdrüssig wird, so wie einem Arbeiter in der Schokoladenfabrik die Süße nicht mehr schmeckt? Er verneint. Und einige wenige Farbprobenpapiere hängen an Tür und Wand, weil sie besonders schön sind, wie Olaf fand. Die Leuchtkraft ist schon beeindruckend, dafür, dass es Aquarellfarben sind. Und irgendwie schade, dass es nur so wenige gibt. Ich hätte gern mehr gesehen von dieser absichtslosen Schönheit. Vor der Tür seiner ‹Farbenmischerei ›steht Olafs Fahrrad. Die Geschäftsführung hat allen Mitarbeitenden ein E-Bike-Leasing angeboten, was ca. ein Drittel der Menschen nutzt.

© Enno Kapitza.

Um in die nächste Abteilung zu kommen, muss wieder das Zentrum durchquert werden. Die Mitte des Unternehmens ist das Lager. Auch nicht groß, stehen hier die mit den Produkten gefüllten Regale, die wieder einzuschmelzenden Wachsblöckchen, die kleinen Fläschchen mit den Aquarellfarben. Und tatsächlich kreuzen sich hier die Wege zur Toilette, zum Mittagstisch, zum Pflanzenfarbenlabor, zum Freiraum, der als Besprechungsraum oder auch Thinktank aufgefasst wird. In der ‹Verpackungsabteilung› haben die Frauen einen Zweig mit Wachsblöcken geschmückt, der im Fenster hängt. Sie umwickeln gerade gelbe Stifte mit dem Papier der Sonderausgabe ‹100 Jahre Stockmar›, deren Besonderheit darin besteht, dass das Wachs dafür aus Schleswig Holstein kommt und etwa zehn Jahre lang gesammelt wurde. Sonst wird es aus Neuseeland importiert. Dort hatte Hans Stockmar seine erste Imkerei aufgebaut. Ansonsten wird in der Verpackungsabteilung organisiert, dass die Produkte auf den Höfen und Werkstätten gepackt werden. Schon Anselm Stockmar begann damit, Kooperationen zu heilpädagogischen Lebensgemeinschaften aufzubauen. Die eigentliche Verpackung geschieht dort. Alle Produkte werden von mittlerweile acht festen Partnerhöfen verpackt.

Durch das Lager sind noch die Pflanzenfarbenabteilung und die Versandabteilung zu erreichen. Hier wird nur der deutschlandweite Versand organisiert. Weltweit versendet die niederländische Partnerfirma Mercurius die Stockmar-Produkte. Sie ist auch eine Neuguss-Tochter.

Zukunft

Die Produktpalette von Stockmar ist seit Jahrzehnten konstant. Der Absatz steigt, auch wenn die letzten zweieinhalb Krisenjahre nicht spurlos vorübergegangen sind. Vor allem Lieferengpässe waren und sind das Problem. Deshalb ist ein Fokus des Betriebes unter anderem gerade der Vorratskauf. Dass Mitarbeitende ins Homeoffice mussten, man nicht mehr so unmittelbar in Kontakt war, fanden einige auch nicht einfach. Es gibt eine hohe Nachfrage der Produkte, auch außerhalb der Waldorfszene. Das Unternehmen muss kein Push-Marketing betreiben, weil sich die Qualität rumspricht. Die Wachsblöckchen sind mittlerweile der Geheimtipp bei der Gestaltung von Flipcharts. Wohin wird es also gehen? Gibt es neue Produkte, die gerade entwickelt werden? Da Stockmar seine Farben und Blöckchen in erster Linie für Kinder herstellt, muss sich das Unternehmen den sehr strengen europäischen Regularien anpassen. Eine ce-Konformität ist nötig. Konkret heißt das, vorsorglich für alle Farbrezepturen Alternativen zu entwickeln. Zum Beispiel darf das Ultramarinblau-Pigment nicht mehr im Kinderproduktsektor verwendet werden. In Zusammenarbeit mit einer Künstlerin im Hause werden neue Farben entwickelt, die in den Farbkreis des Unternehmens passen. Zum Jubiläum wurden zwei Neuprodukte, ‹Farben der Welt› und die limitierte ‹Regenbogen-Edition›, herausgegeben. Aber ansonsten weiß man, was man hat, und setzt darauf, die Qualität zu halten. Wenn mehr Gewinn erzielt wird, kann mehr Geld in die Gesellschaft zurückfließen, weil dann die Neuguss mehr Geld zur Verfügung hat.

Hans Stockmar beim Kerzenziehen

Wieder zurück im Büro der Geschäftsführerin, die ihre Tochter gestillt hat, stellt sich die Frage, was ästhetische Unternehmensführung eigentlich meint. Denn das ist das Leitbild der Neuguss und damit auch von Stockmar. Zwar stehen in jeder Fensterbank des Betriebes Wasserprismen, die die Regenbogenfarben in die Räume spiegeln, zwar sind die Wände farbig gestaltet, aber das trifft es wohl noch nicht so wirklich. «Wir benutzen Wirtschaft, um ein Ideal in der Welt zu verwirklichen», sagt Inke Kruse. Sie, die bereits in anderen Wirtschaftszweigen tätig war, empfindet es als sehr heilsam, für ein solches Wirtschaftsunternehmen wie Stockmar zu arbeiten. Sie meint damit eine Art von Menschlichkeit, die schon Hans Stockmar in sich trug und als Keim vor 100 Jahren angelegt hat. Seinem jüdischen Mitarbeiter Joseph Gelbart schickte er immer wieder Pakete mit Lebensmitteln und Kerzen, Wäsche und Kleidung ins Warschauer Getto. Die Briefe des wahrscheinlich in Treblinka verstorbenen Gelbart sind im Privatbesitz der Familie Stockmar. Nach dem Krieg hielt Stockmar in Kaltenkirchen die Rede ‹Aufruf zu einer demokratischen Erneuerung›, in der er seine Haltung deutlich macht: «Statt Soldatenmut hat der Deutsche fortan in jeder Situation eben Zivilcourage zu zeigen.»1 Zivilcourage heißt heute auch, nicht nur an seine eigenen Gewinne zu denken, nicht nur seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Zivilcourage heißt für einen Unternehmer oder eine Unternehmerin, sich bewusst dem anderen, in dem Fall den Mitarbeitenden, der Umwelt, den gesamtgesellschaftlichen Belangen zuzuwenden.

Als ich das Gebäude verlasse, wieder Richtung Bahnhof laufe, sehe ich gar nicht mehr das Gewerbegebiet, in dem Menschen ihre Tage in Fabriken verbringen müssen. In diesem Betrieb kann man es sehr gut aushalten. Er ist wie eine kleine Welt für sich, in der eine Wärme herrscht, die nicht von den Schmelzbottichen kommt und doch die Qualität eines Bienenstocks hat. Das kühle Lüftchen im Garten zwischen Blumen und Holzbänken für die Mittagspause, die ruhige Arbeitsatmosphäre, die Skulpturen aus Marmor, die für Wärme und Kälte stehen, zwei Prozesse, die in dem Unternehmen Stockmar der Sache wegen schon veranlagt sind.

Inke Kruse hatte noch gesagt, es sei nicht alles gut, nur weil man ein Ideal verfolgt, das über private Gewinnmaximierung hinausgeht. Es ist alles Prozess, auch im Sozialen. Es gibt Spannungen zwischen Ideal und Wirklichkeit, die man auch hier aushalten und anerkennen muss. Sie trägt keine rosarote Brille. Und doch lebt hier etwas ganz real und konkret, was über unsere Vorstellungen und Erfahrungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft hinausgeht. Und die Zukunft von diesem Etwas ist in dem konkreten Fall auch ein Produkt des Unternehmens Stockmar.


Alle Fotos: © 2022 Hans Stockmar GmbH & Co. kg, Kaltenkirchen.

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Footnotes

  1. Privatbesitz Stockmar, Aufruf zur demokratischen Erneuerung: ‹Kaltenkirchener›, Rede von Hans Stockmar auf einer Versammlung der Einwohnerinnen und Einwohner Kaltenkirchens, 9.5.1945

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