Wieder über das Leben staunen

Eines der wichtigsten Bücher zur Gegenwart?! Zumindest lässt es das Staunen über das Leben zurückkehren.


Angesichts der ökologischen Krise und der Klimakatastrophen, für die wir Menschen im Anthropozän die Hauptverantwortung tragen, hört man oft die Meinung: Wenn es uns nicht gäbe, wäre die Welt ein Paradies. Albrecht Schad – Biologe, Hochschulprofessor und Waldorflehrer – geht in seinem Buch einen ganz anderen Weg: Er vollbringt das Kunststück, auf dem heutigen Stand wissenschaftlicher Forschung einen Bogen von der astronomischen Stellung der Erde innerhalb unseres Sonnensystems bis zu einem vertieften Verständnis des Lebens auf unserem Planeten zu schlagen. Die zentrale Frage, der er anhand zahlreicher ebenso anschaulicher wie oft verblüffender Beispiele nachgeht, lautet: Was ist Leben überhaupt? Um das Fazit gleich vorwegzunehmen: Schad belegt eindrücklich, wie die unzähligen Formen des Lebens auf und in der Erde, in der Luft und in den Meeren in ihrer Gesamtheit nur als ein großer, lebendiger Organismus zu verstehen sind. Er knüpft dabei an die Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulis an. Die beiden machten bereits in den 1960er-Jahren darauf aufmerksam, dass die Erde ein dauernd in Bewegung befindliches Fließgleichgewicht (Homöostase) zwischen den Elementen aufrechterhält, das alle Extreme ausgleicht. Das ist charakteristisch für alles Lebendige. Dementgegen geht das Unlebendige durch chemische und physikalische Reaktionen immer in den niedrigstmöglichen Energiezustand, also den Stillstand über.

Schad geht mit anschaulichen Beispielen auf die Beziehungen lebendiger Organismen zu ihrer Umwelt ein, die sie aktiv so verändern, dass sie sich ihnen anpasst. Das dynamische Verhältnis von Zentrum zur Peripherie, Autonomie und Umweltoffenheit beschreibt er unter anderem an Eichhörnchen der Nussbaumplantagen oder wirklich verblüffend an dem Verhältnis der Stummelschwanzsepien zu den Bakterien ihrer Umgebung. Symbiosen sind ein Grundcharakteristikum des Zusammenlebens der Organismen. Schad nimmt aber auch auf die Plattentektonik und andere geologische Phänomene wie beispielsweise die Sanddünen der Wüsten Bezug und zeigt auf, in welchem Verhältnis diese zu der fortlaufenden Dynamik der Erdentwicklung als Ganzes stehen.

Angesichts der brennenden ökologischen Fragen der Gegenwart (Klimawandel, Artensterben, Hunger) ist eine besondere Qualität dieses Buches, dass es uns durch genaues Hingucken das Staunen wieder lehrt. Das Lesen wird so immer mehr zu einem denkenden Verstehen des Lebendigen, was in der Konsequenz zur Ehrfurcht, ja Liebe zu diesem unfassbaren Wunder, auf und mit dem wir leben dürfen, führt. Das ist keineswegs sentimental gemeint (und schon gar nicht geschrieben), sondern die vielleicht wichtigste Voraussetzung für unsere Bereitschaft, als Menschheit endlich Verantwortung für die weitere Entwicklung der Erde und der sie bewohnenden Lebewesen zu übernehmen – wie gesagt, wir leben im Anthropozän.

Wer heute mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hat, ganz gleich ob als Eltern, Erzieher oder Lehrerin, findet hier Denkansätze, die ein tieferes Verständnis für das Lebendige eröffnen und damit der zunehmenden Verunsicherung, Angst oder Resignation etwas wirklich Substanzielles entgegensetzen. Also: Lesen und dann Verschenken. Das gilt auch für Politikerinnen, Unternehmer, Landwirte und Künstlerinnen.


Buch Albrecht Schad, Vom Leben unserer Erde – Eine Liebeserklärung an unseren Heimatplaneten. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, Juni 2023.

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