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Was trägt und bewahrt

Es ist eine kurze Szene in ‹Faust I› und doch ist sie ein Turning Point, wie es in der Sprache der Dramaturgie heißt. Gretchen begegnet am Brunnen, das wäre heute Tankstelle oder Supermarkt, Lieschen (im Bild rechts). Welch ein harmloser Name.


Sie erzählt Gretchen, die gerade von ihrer eigenen Schwangerschaft weiß, von einer schwangeren Freundin der beiden und schüttet über diese ihre Häme. Sie bemerkt nicht, dass sie damit in Margaretes Herz trifft und es vergiftet. Mephisto zeigt seine Bosheit, weil ihm nichts entgeht und er alles zu seinem Instrument macht. Lieschens Dunkel liegt in ihrer Arglosigkeit, dass sie nicht sehen will und kann, wie es um die Nächste steht. Vermutlich ist das die viel häufigere Sünde, die Sünde der Selbstgerechtigkeit, die Nächste nicht zu sehen und sie dadurch nicht schützen zu können, denn Lieschen nimmt Gretchen die Hoffnung und stößt sie in die Einsamkeit.

Seit 1937 haben auf der Golden Gate Bridge 2000 Menschen versucht, sich das Leben zu nehmen. Weniger als ein Prozent der Verzweifelten überlebten den Sturz, wie Kevin (YouTube: ‹I Jumped Off The Golden Gate Bridge›). Alle diese Überlebenden, so der Psychotherapeut Thomas Reisch, bestätigten, dass sie im gleichen Moment, als sie das Geländer losließen, ihren Entschluss bereut hätten. Es sei, so Reisch, in seinem Sechsphasenmodell eines Suizidversuches, das Aufwachen als letzte Phase. Während in der zweiten Phase, einer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, Nahestehende oder Behandelnde möglicherweise aufmerksam werden können, ist dies in der dritten Stufe, wenn der Entschluss gefasst wird, viel schwerer, so Reisch, denn dann scheinen Betroffene erleichtert über die vermeintlich gefundene Lösung für ihre Ausweglosigkeit zu sein. Im Interview schildert Kevin, dass er wegen seiner Drogenvergangenheit, wegen Traumata und Depressionen noch immer gefährdet sei. Er habe sich aber ein Netz aus menschlichen Beziehungen geschaffen, das ihn trage und vor einem ähnlichen Schritt bewahre.


Foto: W. Held (v. l. Ludowika Held, Anne-Kathrin Korf)

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